1888, Briefe 969–1231a
1189. An Carl Spitteler in Basel
Torino, via Carlo Alberto 6, III Dienstag <11. Dezember 1888>
Werther Herr,
ich will Ihnen heute einen Vorschlag machen, zu dem nicht Nein zu sagen ich Sie inständig bitte. Mein Kampf gegen Wagner ist auf eine absurde Weise dadurch bisher mißrathen, daß Niemand meine Schriften kennt: so daß die „Sinnes-Änderung“, wie zb. Avenarius sich ausdrückt, als Etwas gilt, was ungefähr gleichzeitig mit dem „Fall Wagner“ ist. Thatsächlich führe ich seit 10 Jahren Krieg — Wagner wußte es selbst am besten —: ich habe keinen allgemeinen Satz, psychologischer oder streng aesthetischer Natur, im „Fall Wagner“ ausgesprochen, den ich nicht schon in meinen Schriften auf das Ernsthafteste vorgetragen habe. Unter diesen Umständen will ich, um diesen Frage auf die Höhe und bis zum Kriege zu bringen, jetzt noch eine Schrift gleicher Ausstattung und gleichen Umfangs wie der „Fall Wagner“ herausgeben, die nur aus 8 größeren sehr ausgewählten Stücken meiner Schriften besteht, unter dem Titel:
Nietzsche contra Wagner.
Aktenstücke
aus Nietzsche’s Werken.
Werther Herr, Sie sollen das herausgeben und eine längere Vorrede, eine wirkliche Kriegserklärung dazu schreiben. Das können Sie, ich weiß das: Sie nehmen das Schicksal der Musik tief genug, um hier der Leidenschaft fähig zu sein.
Die Stellen — ich werde sie selber abschreiben und Ihnen dann zusenden — sind folgende (— ich nehme an, daß Sie meine Schriften besitzen? Andrenfalls ein Wort an mich, damit was fehlt, sofort an Sie abgeht)
1. Zwei Antipoden. (fröhliche Wissenschaft S. 312—16)
2. Eine Kunst ohne Zukunft. (Menschliches, Allzumenschliches Bd. 2, 76—78
3. Barocco. (Menschliches, Allzumenschliches Bd. 2, 62—64
4. Das espressivo um jeden Preis. (Wanderer und sein Schatten S. 93 (also Menschliches, Allzumenschliches II, letzte Hälfte.
5. Wagner Schauspieler, nichts mehr (fröhliche Wissenschaft S. 309—11)
6. Wagner gehört nach Frankreich (Jenseits von Gut und Böse 220—24)
7. Wagner als Apostel der Keuschheit (Genealogie der Moral S. 99—105
8. Nietzsches Bruch mit Wagner (Menschliches, Allzumenschliches Band II Vorwort p. VII—VIII)
In der Vorrede wäre auch die entscheidende Einsicht vom Gesammt-décadence-Charakter der modernen Musik an’s Licht zu stellen: es ist eigentlich das, was die Schrift voraus hat gegen das, was ich früher schon gesagt habe. — Sehen Sie, dies Gesindel fühlt meinen Ingrimm nicht, weil ich „überaus espritreich“ geschrieben habe! Das kann sich Geist nicht mit Leidenschaft verbunden denken… Eine „ruhig-sachliche Entwicklung der Gründe“ verlangt Av<enarius>, wo unsereins vor Leidenschaft zittert…
Ach, das verstehen Sie —
Nietzsche