1888, Briefe 969–1231a
1048. An Meta, von Salis auf Marschlins
Sils, Engadin, den 17. Juni 1888.
Verehrtes Fräulein
es schneit eben aus Leibeskräften: ich sitze in meiner Höhle und überlege mit einiger Schwermuth, ob nicht das Wetter (oder der Wettermann) den Verstand verloren hat. Als ich hier ankam, war es schwül, lästig, eine Hitze von 24 Grad; es kam mich fast eine Reue an, Turin verlassen zu haben, wo wir zwar täglich 31 C. hatten, aber aria limpida elastica und jenen berühmten Zephyr, von dem ich früher nur durch die Dichter wußte. Hier oben schmolzen 26 Lawinen; wohin man spazieren ging, fand man Haufen weichen Schnees: — ich war 6 Tage krank, ehe ich mich wieder mit Sils und dem Leben vertrug. —
Dies schreibe ich im Grunde, um Sie einzuladen, hier herauf zu kommen. Ich zweifle nicht, daß Sie besseres Wetter mitbringen — und jene Vernunft, die das Wetter verloren hat.
In der „Alpenrose“ sind vierzehn Personen — fast lauter Hamburger und Hamburgerinnen. Das flieht Alles vor dem tropischen Gluth-Sommer, der uns versprochen ist — und sitzt nun im Schnee.
Ich habe eben, mit Hülfe meteorologischer Tabellen, folgende ganz unwahrscheinlich klingende Wahrheit festgestellt.
„Der Januar in Italien“
Heitere Tage
Regentage
Grad der Bewölkung
Turin
10,3
2
4,9
Florenz
9,1
9,7
5,7
Rom
8,2
10
5,8
Neapel
7,7
10,8
5,2
Palermo
3,2
13,5
6,5
Das bedeutet, daß im Winter, je tiefer man nach Süden steigt, das Wetter schlechter ist (— weniger helle Tage, mehr Regentage und ein immer trüberer Himmel —) Und wir glauben alle instinktiv das Gegentheil!! Das schreibe ich im Grunde, um zu fragen, was Sie in Rom und mit Rom erlebt haben. Ich habe oft meine Zweifel gehabt, ob gerade dieser Winter, wo Rom außerdem noch im Pilgrim-Dunst lag, Ihnen Freude gemacht hat. Aber zuletzt waren Sie gar nicht dort: ich habe so lange nichts mehr von Ihnen gehört.
Von meiner Schwester sind die allerbesten Nachrichten da: zuletzt eine Beschreibung des festlichen Einzugs in die neue Residenz Nueva-Germania, die mich ganz bezaubert hat. Die Unternehmung gedeiht; sie hat bereits jetzt einen großartigen Aspekt.
Haben Sie davon gehört, daß ich inzwischen berühmt geworden bin? Nämlich in Dänemark, woselbst, zu meinem größten Erstaunen, der Dr. Georg Brandes für meine Philosophie Propaganda macht. Er hat einen längeren Cyklus Vorlesungen „über den deutschen Philosophen Friedrich Nietzsche“ an der Kopenhagener Universität gelesen — und ich habe Gründe zu glauben, daß er damit einen großen Erfolg gehabt hat. Man spricht im ganzen Norden jetzt von mir („Herren-Moral“ scheint das Schlagwort)
Mit der Bitte, mir ein freundliches Wort hier herauf zu sagen
bin ich Ihr ergebenster Diener
Nietzsche
Was macht Fräulein Resa? Ist sie bereits promota? — Und Ihre dichterische Freundin?