1886, Briefe 655–784
655. An Bernhard Daechsel in Sangerhausen (Entwurf)
<Nizza, kurz vor dem 2. Januar 1886>
Eben giebt mir meine Schwester ihr Argwohn zu verstehn es möchte ein von mir an Dich abgesandtes Dankeswort nicht bei Dir angelangt sein: da fällt mir ein, daß ich selber beim Empfang Deines letzten, lieben Briefs und seiner guten Wünsche den gleichen Eindruck und schwarze Hintergedanken hatte — und nun habe ich schon eine halbe Stunde auf die nachlässige und unordentliche Italiänerin räsonnirt, welche meine Besorgungen in der Stadt zu machen hat, falls ich sie nicht selber mache. Sie sagt natürlich, daß sie alle Briefe richtig in den Kasten werfe — aber — — —
Seltsam, es ist der dritte Fall in diesem Winter, daß ich auf den Gedanken gebracht werde, es möchten Briefe von mir nicht besorgt werden. Warum doch? Vielleicht der Briefmarken halber? — Gesetzt aber, mein Verdacht wäre begründet, so bliebe nichts übrig als zu wiederholen, was ich in jenem Br<ief> gesagt — und ich thue es mit herzlichem Vergnügen. Du hast mir einen großen Dienst erwiesen, mein lieber O<nkel>, denn ich zweifle nicht, daß ich ohne Deine Ermuthigung dieses energische Handeln zur rechten Stunde um mein mir wohlverdientes gesammtes Honorar für meine bisherigen Schriften gekommen sein würde: — ein Fall, der nicht nur als Geldverlust, sondern noch schlimmer in seiner moral<ischen> Consequenz auf mich fort-gewirkt haben würde.
Solche Erfahrungen „verderben den Charakter“, wie ich zu sagen pflege: und wer uns solche Erfahrungen erspart, ist also auch unser moral<ischer> Wohlthäter. Und sonderlich wir Philosophen, die wir allzugeneigt sind, unsre schlechten Erlebnisse zu generalisiren und dem gesamten Leben in die Rechnung zu schreiben, haben sehr dankbar zu sein, wenn wir ein gutes gegen ein schlechtes Erl<ebnis> eingetauscht bekommen: — nun, wir generalisiren auch diese Erfahrung viell<eicht> etwas unbesonnen, aber das ist weniger gefährlich — —
656. An Bernhard und Elisabeth Förster in Naumburg
<Nizza, 2. Januar 1886> Sonnabend Abend
Meine Lieben,
Ihr habt mich inzwischen mit allen möglichen guten Dingen und Projekten, Schriften, Uhrschnüren, Zukunfts-Öfchen, Zukunfts-Zuhörerchen, ausgegrabenen Griechen und emporgezogenen Deutschen überhäuft und überwältigt, so daß ich ein bischen den Verstand dabei verlor. Nun ist er wieder gekommen, und sofort verlangt er, daß ich Euch einen Dankesbrief schreibe. Zu alledem ist unser Winter herrlich, und wir haben hier guten Grund dankbar zu sein; denn sobald man in die Zeitungen blickt, heißt es „Schneesturm in Wien“ usw. Zwar haben auch wir es zu Schnee gebracht; er sah so komisch aus, daß ich glaubte, er stamme von einem Conditor und boulanger de luxe und schmecke vielleicht süß. Eine ganz heimtückische Lüge stand über unser Clima in der Leipziger „Illustrirten Zeitung“: wörtlich „An der Riviera, die uns sonst um diese Zeit mit Blumen zu versorgen pflegt, ist Alles erfroren“. Ich empfehle den Redacteur tüchtig „emporzuziehn“, an den Haaren natürlich! —
Mir ist zu Muthe, als sei ich das erste Mal in Nizza; mindestens weiß ich jetzt besser mir das Schöne, was zu mir hier paßt, zu Gemüthe zu führen und das Übrige einfach zu ignoriren. Die feine Luft, die zarten Farben aller Art, die unbeschreibliche Sonnigkeit — es hat etwas Begeisterndes, wenigstens für mich. Mein Kopf ist hier zehn Mal mehr werth als in Zürich oder Leipzig, hier, wo ihm das Clima „congenial“ ist, um mich äußerst gebildet auszudrücken. Es ist kein Zweifel, daß ich jedes Jahr (jeden Winter! aber nicht die andere Zeit!) jetzt einen Rucks weiter zur Gesundheit gemacht habe; und zwar zur Gesundheit meines Kopfes, nicht meiner Augen (unter uns gesagt —) Das Projekt mit Vorlesungen hat viel Verführerisches; trotzdem darf ich es nicht allzu sehr aus der Nähe betrachten, aus verschiedenen Gründen. Es thut gut, damit noch etwas Geduld zu haben; einstweilen solltet Ihr, meine Lieben, Eure Blicke lieber nach etwas „Zeitgemäßerem“ Umschweifen lassen. Zum Beispiel nach einer sogenannten Lebensgefährtin. Das Signalement ist: lustig, hübsch noch sehr jung, und im Übrigen ein tapferer kleiner Hammel à la Irene Seydlitz (mit der ich mich beinahe „Du“ nenne) — Dem Onkel Bernhard habe ich natürlich geschrieben, aber ich entnahm seinem Neujahrs-Glückwunschbrief an mich denselben Verdacht, den Du, mein liebes Lama, gehabt hast: daß der Brief nicht angekommen ist. Dies ist das dritte Mal, daß ich diesen Winter auf die Vermuthung komme, es sei ein Brief von mir unterschlagen oder sonst etwas. Ich habe dem Onkel ein paar Zeilen darüber noch zugeschickt.
Meine Lieben, es scheint mir nicht möglich, den hiesigen Himmel mit seinen 220 wolkenlosen Tagen wie ein Öfchen in den Koffer zu stecken und nach Zürich überzusiedeln. Traurig!
Auch hier Vorlesungen über Südamerika, eingerechnet Paraguay. Der Reisende, sehr entzückt im Ganzen (nach einer Reise von 3 1/2 Jahren) behauptet zuletzt, nichts gefunden zu haben, was schöner sei als Nizza.
Von schweizerischer Seite wurde ich auf den Gedanken gebracht, daß das vielfache, fast regelmäßige Scheitern deutscher oder schweizerischer Colonien in den La-Plata-Staaten seinen Grund in der Vermengung der Nationalitäten habe d. h. im Durcheinanderleben deutscher und romanischer Elemente. Es entstehe da kein Gefühl von Heimat, von Zu Hause sein, wenn man die italiänische Schmutzerei usw. in der nächsten Nähe habe. Principiell Romanen ausschließen und ebenso principiell die Reinlichkeit in Wohnung und Leben affichiren: das sei die Hauptsache, aber beides sei nicht leicht, weil das Erste im Widerspruch mit der Regierungspraxis jener Länder stünde, das Zweite mit dem Clima. Nun, vielleicht kann man die Deutschen dazu „emporziehn“.
Mit dem herzlichsten Gruße und Danke
Euer Fritz.
657. An Reinbart und Irene von Seydlitz in München
Adr.: Nice (France) rue St. François de Paule 26 II am 2ten Januar 1886
Meine sehr lieben Freunde,
außer für zwei so gute Briefe habe ich heute auch noch dem angenehmen Schalk Zufall allerschönstens zu danken, dafür daß er mich, ganz unverdientermaaßen, bei meinen Freunden in „guten Geruch“ — Blumen-Geruch! gebracht hat. Möchte ich doch im Stande sein, etwas von unserem unverwüstlichen Sonnen-Wetter (ein Tag wie der andre) unter Kreuzband zu senden, am besten ein gutes Stück blauen Himmels, an dem wir hier Überfluß haben — Nizza rechnet im Jahre auf 220 absolut wolkenlose Tage und hat damit in Europa keinen Nebenbuhler, auch an dieser Küste nicht. Es ist das belebendste Klima, das sich denken läßt, das „Paradies der Kranken und Greise“ (folglich der heutigen Philosophen, welche, in irgend einem Sinne, etwas von Beidem zu sein pflegen)
Meine lieben Freunde, eigentlich sind hier alle Bedingungen zusammen, um sehr gesund, sehr gut beleuchtet, sehr kosmopolitisch, ja sogar sehr billig zu leben (letzteres in Folge des rapiden Niedergangs der Wohnungspreise und der allgemeinen Hôtel-Calamität, welche keine Aussicht hat bald zu verschwinden.) Dank den großen Liquidationen kann man hier zu sehr hübschen Meubles und Einrichtungen kommen. Die Fremden-Welt, wie sie hier lebt, scheint mir zuletzt für einen Künstler und Impresario „in Japonicis“ mehr vorbereitet als vielleicht die Gesellschaft irgend einer europäischen Großstadt. Das slavische Element (Polinnen, Russinnen) überwiegt.
— Was Alles nur ausdrücken soll, daß ich eine herzliche Sehnsucht habe, Euch hier zu haben.
Nehmt, wenn ich bitten darf, Euren Freund mit in Eure Zukunftspläne, Zukunftsträume, Zukunftschlösser auf —, ich, wie ich eben verrathen habe, thue das Gleiche. Wer weiß, was da noch Gutes einmal herauskommt! Man soll hübsch zum Gotte Zufall beten: mitunter schickt er Blumen. —
Aber der Magen, der Vater der Trübsal auch bei mir! Jetzt will er, daß ich von Milch, Eiern, Feigen und Grahambrod lebe — ich glaube, so hat Epicur gelebt, der auch am Magen litt. Das Glück, wie es jener Weise verstand, ist das Glück eines Dyspeptikers - - - Und behaltet lieb Euren Freund
Nietzsche.
658. An Heinrich Köselitz in Annaberg (Postkarte)
<Nizza, 5. Januar 1886>
Meine Lieben,
Werthester Freund, unsre Briefe haben sich gekreuzt, und mein vorletztes an Sie nach Wien abgesandtes Schreiben ist, wie ich Ihrer letzten Mittheilung entnehme, noch gerade zur rechten Zeit in Ihre Hände gelangt. Inzwischen verlangt es mich sehr nach Nachricht über Alles, was sich in Dresden begeben hat; und der angenehme Zweifel ist in mir aufgestiegen, ob es überhaupt noch nöthig ist, seine Blicke nach Carlsruhe zu richten:— vielleicht bedurfte es für Dr<esden> nur Ihrer Ankunft, um den Stein ins Rollen zu bringen — und den „Löwen“ zum Brüllen. So wenigstens redet mir täglich die Hoffnung zu… Es versteht sich von selber, daß ich jeden Augenblick bereit bin, nach C<arlsruhe> an M<ottl> zu schreiben: bezeichnen Sie mir nur den Termin, wo das Eintreffen eines Briefs Ihnen am nützlichsten erscheint. Der Genfer Professor der Musik, welcher den Winter über in Leipzig weilt, um seine Sachen aufzuführen, heißt Ruthardt: er wünscht sehr, Sie kennen zu lernen! Sie erfahren bei Riedel, wo er wohnt. (Vermuthlich kommen Sie nach Leipzig?)
Treulich
N.
659. An Franziska Nietzsche in Naumburg (Postkarte)
<Nizza, 5. Januar 1886>
Meine liebe Mutter, alles schönstens in Ordnung und nochmals besten Dank! — „Herr Z<iller> wie Du schreibst, will den Klavierauszug des Kaisermarsches gern billiger als 22 Mark kaufen“? Aber er kostet neu nicht 22 Groschen: hier steckt wohl ein Mißverständniß? Übrigens möchte ich ihn behalten, es ist Musik, die ich immer noch sehr liebe. — Die Partitur des Kaisermarsches, die ich besitze, ist ja nicht zu verkaufen! sie ist 1) ein Geschenk W<agner>s an mich, 2) hat W<agner> mit diesem Exemplar der Partitur die erste Aufführung des Werks (in Leipzig) dirigirt; 3) sind handschriftliche Veränderungen im Notentext darin, derentwegen dieses Exemplar einen einzigen Werth hat. — Das gute Lama hat auch an mich geschrieben, einen rührenden Sylvester-Brief. Nun, wir müssen Alle zusehn, wie wir uns die nächsten Monate durchschlagen. Glaubst Du, daß Heinze’s nach Nizza kommen? Und wann? Ich selber bleibe bis zum 13. April (das ist, des Lichtes und meiner Augen wegen, der späteste Termin.) Das Wetter, Woche für Woche, unglaublich schön, hell von früh bis Abend. Treulich Dein
F.
Bürgschafts-Sache mit Schmeitzner ist erledigt. — Hast Du mit Kürbitz gesprochen? Ich schrieb an ihn. —
660. An Franz Overbeck in Basel (Entwurf)
<Nizza, Anfang Januar 1886>
1. Ich hörte mit größter Theilnahme von R<ohde>’s Berufung: aber warum schreibt er gar nicht mehr an mich? Ich habe wenig Geduld für einen ehemaligen Freund übrig und wahrhaftig nicht als Einer, der von Natur ungeduldig und unduldsam wäre.
Aber ich habe diese ganzen 10 Jahre über (wenn ich meinen Freund O<verbeck> ein für alle Mal ausnehme) allzuviel Blödsinn, Oberflächlichkeit und Anmaßung von Seiten solcher erlebt, welche ich als meine Freunde glaubte. Ich danke dem Himmel, daß ich die Liebe meiner Angehörigen noch habe, nachdem auch diese, unter der Nachwirkung von allerlei „Freundschaftsdiensten“, wie gefährdet war.
3. Was aber meine ganze Lage betrifft, so erkenne ich gar Niemand mehr für meinen Freund an, der nicht das ungeheure Elend dieser Lage begreift: daß ein Mensch, der für die reichste und umfänglichste Wirksamkeit geboren ist, dermaßen in unfruchtbaren Einöden seine besten Jahre zubringen muß: daß ein Denker wie ich, der sein Bestes niemals in Büchern, sondern immer nur in ausgesuchten Seelen niederlegen kann, gezwungen ist, mit seinen halbblinden schmerzenden Augen „Litteratur zu machen“ — es ist Alles so verrückt! so hart!
661. An Franz Overbeck in Basel
Nice, rue St. François de Paule 26 II. (am 9 Jan. 1886.
Lieber Freund,
es gäbe Vielerlei zu erzählen, wäre ich nur „bei besseren Augen“. — Ich danke bestens für Deine guten Freundes-Wünsche zum neuen Jahre; insgleichen waren mir die fünf Hundert-Scheine sehr willkommen (— sie ersparten mir den „Gang zum Banquier“, den ich hasse und der mich immer krank macht). Es giebt viel in diesem Jahre zu überwinden, zunächst die kommenden Monate, welche für meine Angehörigen nicht minder hart als für mich sind. Meine Mutter ist fast in Verzweiflung. — Gestern meldete sie mir das Definitivum in Betreff der Rohdeschen Angelegenheit: sie knüpft Hoffnungen daran; in der That ist mir Leipzig, das ja beinahe meine Heimat ist, nunmehr, als ein Rendez-vous aller meiner guten Bekannten und Kameraden von Ehedem, doppelt werth geworden. Sie hatte die Nachricht von Heinze’s, welche sich in diesem Herbste äußerst herzlich gegen mich benommen haben: auch wollen sie für die Osterferien mir hier in Nizza ihren Besuch machen. Dasselbe hat Herr Lanzky in Vallombrosa versprochen (ich habe alle Gründe dankbar zu sein, daß ein Mensch wie L<anzky>, ein merkwürdig edler und feiner Charakter, wenn auch leider kein „Geist“ — mir begegnet ist: auf die Dauer wird er wahrscheinlich so etwas wie meine „praktische Vernunft“, als Ökonom, Gesundheitsrath und dergleichen) Aus dem beiliegenden Briefe Köselitzens, den ich Dir mittheile, weil er seine Situation ganz klar macht — wirst Du ersehen, daß auch noch andre Besuche in Nizza in Aussicht stehen. Herr Widemann hat meiner Mutter den Wunsch ausgedrückt, ein paar Jahre in meiner Nähe leben zu können; ich gestehe, daß ich meine Bedenken hatte — Du wirst aber dem Briefe K<öselitz>s entnehmen, daß es vielleicht Gründe giebt, guten Muths hierin zu sein. Daß K<öselitz> seine korsische Oper (zu der ich ihm im letzten Sommer den Entwurf geschickt habe — er war entzückt davon) hier in Angriff nimmt, ist mein Wunsch; ich thue unter der Hand dies und jenes, um es zu ermöglichen. Schließlich halte ich die Hoffnung fest, daß meine drei Damen, die mir rührend zugethan sind, mesdames Fynn et Manshouroff ebenfalls hierher kommen. Man hat gar nicht so die Wahl, sich zu verlassen, wenn man sich erst gefunden hat: man trifft sie gar zu selten, diese vornehmen und zarten Seelen, mit denen man umgehn kann, ohne, wie gewöhnlich, sich Zwang anthun zu müssen. Jetzt sind sie in England. — Ich schrieb von meinem „Experimentiren“: nun, dem Himmel sei Dank, daß ich’s wagte und mich nicht wieder in die Marter des letzten Winters einspannte, an deren Nachwirkung ich noch ein halbes Jahr beinahe krank war. Alles, was hier von Basel ist, kommt mir dabei zu Hülfe, ebenso herzlich als respektvoll, wie es zur Basler Art gehört. Das Wetter ist unbeschreiblich schön, Woche für Woche; der Himmel leuchtend rein von früh bis Abend.
Erzähle Deiner lieben Frau, daß ich ein Jugendwerk Bizet’s gehört habe, die Orchestersuite Roma (der arme B<izet> selber hat sie nicht zu hören bekommen!) Anziehend-naiv und raffinirt zugleich, wie Alles von diesem letzten Meister der französischen Musik. — Von Herzen Dein Freund
N.
Ich habe, als erste Verwendung der Schmeitznerschen Gelder, das Grab meines Vaters mit einer großen Marmorplatte bedecken lassen. (Es wird nach dem Wunsche meiner Mutter, einstmals auch ihr Grab sein.)
662. An Felix Mottl in Karlsruhe (Entwurf)
<Nizza, um den 10. Januar 1886>
Hoff<entlich> ist mein Name Ihnen nicht ganz unbekannt?
Man hat mir die angenehme Mittheilung gemacht, daß Hr P<eter> G<ast> das Schicksal s<eines> L<öwen> v<on> V<enedig> Ihren Händen und Ihrem Geschmacke anvertraut hat: darf ich gestehn, daß ich an Ihrer Entscheidung kaum weniger Antheil nehme als der Componist jener Oper selber. Ich liebe das Werk außerordentlich: vergeben Sie es dieser Liebe wenn sie den Versuch macht auch Sie, hochgeehrter Herr, zu einer besonderen Begünstigung dieser Oper überreden zu können.
Der Text, im vorigen Jh. von der guten Gesellschaft vorgezogen und geliebt, mehrfach componirt, noch von Stendhal ausdrücklich gelobt, erfordert freies Spiel: die „alte gute Zeit“ vor der franz. Revol., die Zeit der allerbesten und sehr männlichen Manieren, des Puders und der Brokat-Kleider kann vielleicht sogar absichtlich mit etwas Ironie vorgeführt und gleichsam unterstrichen werden: — der Reiz dieser Sitten ist gerade heute nicht gering. Die Oper darf sich als Rokoko-Oper geben (ich habe bemerkt, <daß> gerade heute unter den Künstlern eine Vorliebe für Rokoko herrscht)
Eine Rokoko-Oper: es muß Alles auch von Seiten der Dekoration gethan werden, um das Venedig von 1770, die heiterste verliebteste und geliebteste Stadt des vorigen Jhd.’s zum Ausdruck zu bringen.
Man darf dabei auf den auch heute noch wirksamen Zauber Venedigs rechnen, der einzigen Stadt, „von der man träumen kann, ohne sie gesehen zu haben“ Die Musik Peter Gast’s hat jene morbidezza und Zartheit, jenes Glückliche, Müssiggängerische, halb-Orientalische und Alles, was nur Nordische M<enschen> nach dieser geheimnißvoll heiteren und zärtlichen Stadt ohne Lärm und Staub immer wieder hinzieht. In der Musik hatte dieser eigentliche Zauber Venedigs bisher noch keinen Ausdruck bekommen. Wenn der Löwe von V<enedig> erst einmal auf allen Bühnen Eur<opa>’s „gebrüllt“ haben wird (denn ich prophezeie dieser Oper einen Erfolg wie ihn Carmen gehabt hat) wird man fühlen, wie diese Musik nur dort entstehen konnte — und inwiefern die Seele V<enedigs> hier zum Tönen gebracht ist
Es ist mir vom vorigen Winter her in Erinnerung, mit welcher Dankbarkeit gegen Sie ich in franz<ösischen> Zeitungen die Berichte über Ihre Aufführung von Bizet<s> posthumer Oper las: gönnen Sie, was Sie einem von mir verehrten Todten erwiesen haben, nunmehr einem Lebendigen, einem sehr Lebendigen sogar — denn dieser P<eter> G<ast> — — —
662a. An Louise Röder-Wiederhold
Nizza, den 10. Januar 1886
Verehrte Frau,
soeben habe ich einige Zeilen an den Kapellmeister Ihrer Oper Herrn Mottl geschrieben: da fällt mir ein, daß Jemand in Carlsruhe noch mehr einen Anspruch hat, von mir einen Brief zu bekommen. Vergeben Sie, ich war so lange schweigsam: wenn ich bei „besseren Augen“ wäre, würde ich sicherlich auch bei besserer Feder sein. (Gewagtes Deutsch! Aber was liegt daran! Wenn man im Deutschen, als Deutscher, nichts wagt, was liegt an uns Deutschen!)
Es ist mir noch in Erinnerung, daß Sie in Ihrem letzten Briefe ein Mittel gefunden hatten, mir meine Unzulänglichkeit in Sachen der Arithmetik vor Augen zu stellen. Der Himmel behüte Sie davor, daß ich nicht eines Tages noch ein Mittel finde, meine beleidigte Eitelkeit zu rächen! —
Jenes bewußte „grauschwarze Ungeheuer“ erweist sich als besonders wohlthätig: wir haben einen artigkalten Winter, und da der Philosoph es sich bisher versagt hat, einzuheizen — —
Unserm Freunde K. ist es auf seinen Kreuz- und Querfahrten schlimm ergangen. Jetzt steht der Stern über Carlsruhe! Gesetzt, daß der Löwe von Venedig dort „brüllen“ lernte — „zärtlich“ genug, um mit Shakespeare zu reden — so gäbe es für mich einen zweiten Verführungs-Grund, mir dieses Carlsruhe einmal im Verlauf des Jahres anzusehn — trotz Allem, was Sie selber, verehrte Frau, gegen Ihren Wohnort geltend gemacht haben.
Genehmigen Sie den herzlichen Gruß
Ihres dankbaren
Dr. Friedrich Nietzsche
Nizza den 10 Januar 1886
rue St. François de Paule 26 II
663. An Hermann Credner in Leipzig (Entwurf)
<Nizza, Mitte Januar 1886>
Es war mir nicht möglich, mich mit meinem früheren Verleger Herrn Schm. in Ch. zum Zweck einer zweiten Auflage von M<enschliches,> A<llzumenschliches> zu verständigen. Im Grunde glaube ich jetzt, daß er meine Schriften gar nicht los geben möchte; er weiß ungefähr, was er in ihnen hat, unter seinen nächsten Bekannten sind Einige der eifrigsten und ergebensten meiner Anhänger. (Haben Sie vielleicht z. B. die Schlußseiten von Widemann „Erkennen und Sein“ H. Reuther 1885 zu sehen bekommen?) Daß Schmeitzner an meinen Schriften bisher nicht verloren, sondern verdient hat, wenn auch nicht in dem Maaße und der Schnelligkeit als er vielleicht erwartet hat, ist mir aus dem Einblicke in seine Geschäftslage, den mir der Prozeß gewährte, vollkommen klar. Meine Bücher haben jetzt ein außerordentl<ich> weit verbreiteten festen und mir sehr ergebnen Leserkreis, der noch nicht groß, aber fortwährend anwachsend ist, — daran ist nicht zu zweifeln. —
Aber hochgeehrter Herr, wenn es nicht angeht die zweite Auflage von M<enschliches> und A<llzumenschliches> zwischen uns zu verabreden: erwägen Sie gefälligst, ob Sie etwas Neues, das bis zur Abschrift fertig ist, herauszugeben gewillt sind! Es ist der zweite Band von
Morgenröthe
Gedanken über die moral<ischen> Vorurtheile.
Wenn es einem Autor ansteht, ein Wort über sein Buch selber zu sagen: nun, ich würde sagen es ist ein Buch für geistige Feinschmecker und Waghalse; es ist sogar vom Feinsten und Verwegensten daran. Trotzdem hat es nichts, was wie ein direkter Angriff erscheint; ich gehöre nicht zu den Parteimenschen irgend welcher Art welche durchaus „bekehren“ oder „umwerfen“ wollen.
664. An Heinrich Köselitz in Annaberg
Nice (France) 24 Jan. 1886 rue St. François de Paule 16 II
Lieber Freund,
gleich nach dem Eintreffen Ihres herzlich bewillkommneten Briefes (der mich melancholisch machte trotz seiner guten Miene und geduldigen Heiterkeit) sind einige Zeilen an Herrn M<ottl> abgeschickt worden: nehmen wir an, mit etwas Optimismus, daß sie wenigstens „nichts geschadet“ haben. Ich fügte unter Kreuzband ein Programm (raisonné) bei, das des letzten klassischen Concerts in Monte-Carlo, in welchem Bizet’s Orchester-suite „Roma“ aufgeführt wurde (ein feines und raffinirtes Ding aus seiner Jugend, von ihm bei Lebzeiten nicht „gehört“ —), nämlich in Bezug auf ein Wort des Dankes, welches ich im Briefe seinen Bemühungen um Bizet gezollt hatte. Im übrigen habe ich auch einer Praeoccupation gegen Ihr libretto, so gut es angehn wollte, vorzubeugen gesucht. Am gleichen Tage schrieb ich an die treffliche Frau Röder in Carlsruhe. Ich gestehe, daß es jetzt für mich wenig so ersehnte Dinge giebt wie die Aufführung Ihrer Oper: — ich würde Alles thun, dabei zugegen zu sein. Man hat „seinen Geschmack“ und folglich auch seinen „Hunger“, unter Umständen seine Verhungerung.
Ihre aufklärenden Worte über Hrn. Widemann haben mich sehr erquickt. Trotzdem glaube ich, daß es ein richtiger Instinkt (theilweise ein wunderlich vervielfältigter Zufall) war, der im vorigen Herbste unser Zusammenkommen vereitelte. Ich hätte, unter uns gesagt, um Widemann’s Willen (bei einer persönlichen Begegnung mit ihm) dem Schmeitzner alle möglichen Zugeständnisse gemacht und wäre heute noch nicht am Ende mit ihm. —
Bin ich’s denn? — Was glauben Sie auf Grund Ihrer Gespräche mit Herrn Widemann über die projektirte zweite Auflage von „Menschliches, Allzumenschliches“? So lange das Buch in dem Antisemiten-Winkel steckt, wird kein Exemplar mehr verkauft: das weiß Schm<eitzner> selbst. Nun möchte ich ihm die noch vorhandenen Exemplare abkaufen, zur Vernichtung: er verlangt unverschämter Weise 2500 Mark, ich will 500 M. bieten (was für Schm<eitzner> jedenfalls noch besser als nichts ist — und für mich bereits unsinnig Viel!). — Haben Sie die Güte, werther Freund, diesen Fall und diese Frage Herrn Widemann gelegentlich vorzulegen. —
Es wäre mir sehr wichtig, die neue Ausgabe jetzt zu machen: unter uns gesagt, ich glaube, daß ich später nicht wieder darauf zurückkommen könnte. Aber der letzte Sommer und leider auch dieser Winter sind nun einmal von mir auf die Umarbeitung dieses einleitenden Buchs verschwendet worden: nun will ich’s von der Seele haben. Alp-druck! —
Denken Sie, daß mich Nizza dies Mal so entzückt, wie als ob ich es zum ersten Male sähe. Der Winter ist großartig klar, leuchtend und gleichmäßig. — Im Frühjahr gehe ich nach Venedig, wenn es nicht brüllende Löwen giebt, die mich nach Deutschland locken.
Bassano? Conegliano? Ach, Freund, wie schön, wenn wir dort herum uns wiedersehn könnten! Oder in Titian’s Geburtsort?
Ihren verehrten Eltern mich angelegentlich empfehlend und Ihnen selbst ein tapferes, reiches, siegreiches Jahr wünschend
treulich Ihr Nietzsche.
665. An Hermann Credner in Leipzig (Entwurf)
<Nizza, Ende Jannuar 1886>
Es ist nur der Wunsch, Ihnen meinen Dank für Ihre Bereitwilligkeit auszudrücken, der mich heute schreiben läßt. Hoffentlich kann ich im kommenden Frühling das Ms. persönlich überreichen: einstweilen bin ich durch die schmerzhaften Zustände meiner Augen bedenklich in der Vollendung der Abschrift gehemmt. Auf eben diesen Termin verspare ich mir einige Bemerkungen, die ich zu machen habe (auch ein Paar Gegen-Vorschläge), mit denen Sie vielleicht schneller sich versöhnen werden, als ich selbst es gethan habe. — Darf ich schließlich Ihnen die Reihe meiner bisher erschienenen Schriften vorführen? (Philologica abgerechnet)
Die Geburt der Tragödie 2. Aufl.
4 unzeitg<emäße> Betr<achtungen>, einzeln erschienen, die vierte in 2. Aufl.
M<enschliches,> All<zumenschliches>. E<in> B<uch für> f<reie> G<eister>
Mit Anhang: Vermischte M<einungen> und Sprüche
Der Wanderer und sein Schatten.
Morgenröthe
Die fröhliche Wissenschaft
Also sprach Z<arathustra>. Ein Buch für Alle und Keinen.
In drei Theilen
Nachdem ich ein Werk veröffentlicht habe, welches — nachdenklich und fragwürdig wie es ist — das Verständniß fast noch mehr als das Mißverst<ändniß> zu fürchten hat, mit den schärfsten Augen angeschaut, mit dem gehorsamsten Ohre gehört werden will, und vor Allem, lange, vielfach, vorsichtig —: bin ich mir der Unwahrscheinlichkeit bewußt worden, daß es diese allein ihm gemäßen Leser finden wird.
666. An Franziska Nietzsche in Naumburg
<Nizza,> Sonnabend. <30. Januar 1886>
Meine liebe liebe Mutter,
es ist mir dies Mal besonders traurig, daß ich nicht zu Deinem Geburtstage zugegen sein kann: denn vielleicht würde es in Hinsicht auf die vielen schweren Gefühle, welche dieser Tag mit sich bringt, eine Erleichterung für Dein Herz sein, wenigstens eins Deiner Kinder noch als guten Europäer übrig zu behalten: da nun einmal das Lama schlechterdings sich für Südamerika und den Maté erklärt hat. Nun, wer weiß, wie lange es noch dauert: da zieht der Nizza-Müde auch wieder nordwärts, „heimwärts“, gleich den berühmten Schwalben, zumal sich gestern etwas begeben hat, das mich wieder mit einem neuen Bändchen an das gute Leipzig bindet. Ich habe einen Verleger: das ist der langen Rede langer Sinn. Als ich nämlich Nachts so weit war mich zu Bett zu legen, fand ich zufällig noch einen Brief, den man mir unter der Thür durch in’s Zimmer geschoben hatte (ländlich, schicklich, sehr schicklich!)
Ich las ihn, er war von Credner — und seine Erklärung machte mir solches Vergnügen, daß ich nicht umhin konnte, im Hemde einen kleinen Rundtanz zu machen. Trotz der Kälte: denn ich habe bis heute noch nicht eingeheizt. Ich hatte ihm den zweiten Band meiner „Morgenröthe“ angeboten (Du siehst, das alte Schreibe-Thier ist fleißig gewesen); er acceptirt mit Vergnügen, wünscht ausdrücklich, daß ich ihn unter meine Verehrer rechnen möge, verlangt, daß etwas geschehn müsse, um mein Verhältniß mit Schmeitzner zu lösen, deutet den Wunsch an, den Rest von „Menschliches, Allzumenschliches“ dem Schmeitzner abzukaufen, kurz, benimmt sich, wie der lange ersehnte Verleger der Zukunft.
Dies bitte ich auch dem theuren Lama und ihrem Eheherrn, Sklavenhalter und Erziehungsdirektor gefälligst mitzutheilen —, sonst aber Niemandem, auch Heinze’s nicht. —
Vielleicht, daß ich dieser litterarischen Pläne wegen nach Deutschland komme: — dieses kleine „Vielleicht“ bitte ich, meine liebe Mutter, als eine Art Geburtstagsgeschenk von mir heute entgegenzunehmen.
Ihr werdet schrecklich zu thun haben? — Ich bin sehr viel mit meinen Gedanken bei Euch; und als uns neulich von Amerika „schlechtes Wetter“ annoncirt wurde, ärgerte ich mich, weil in diesem Jahre ohnehin schon Amerika uns die gute Laune nimmt. Zwar sagt man mir hier überall „eine Reise nach Südamerika ist kein Ereigniß und kein Grund, sich zu ängstigen“; aber wir sind noch nicht an diese kosmopolitische Flugvögel-Art zu leben gewöhnt, an die unsre Nizza-Gäste gewöhnt sind.
Man erweist mir hier viele Aufmerksamkeit und Auszeichnung, ich kann es nicht ableugnen. Der alte Holländer ist jetzt auch eingetroffen und voller Freude, mich wieder zu sehn (Er hat zu andern Personen von mir ganz stolz gesagt „er ist mir ein wahrer Freund, ich weiß es ganz genau“.)
Derselbe Holländer, früher im Ministerium, aber durch seine Augen zur Niederlegung seines Amtes gezwungen, kommt immer nach Nizza zurück, weil er hier weniger an seinen Augen leide als anderswo: in seinem Holland verschlechtert sich der Zustand jedes Mal. Ganz wie bei mir.
Die alte Pfarrerin läßt auf das Herzlichste grüßen.
Schreib mir genau, was jetzt beschlossen ist, und ob mein letzter Brief (worin ich fünffach zu danken hatte) wirklich angekommen ist.
Denkt meiner einzeln und wenn Ihr beisammen seid und behaltet lieb
Euren Fritz.
667. An Paul Widemann in Chemnitz (Entwurf)
<Vermutlich: Nizza, Ende Januar 1886>
Wie sonderbar ist im letzten Herbst ein Zusammenkommen mir wieder mißrathen! Ich bekenne einige Unsicherheit darüber, daß ich nicht wußte, wie nah oder wie fern Sie zu Hr. Schm<eitzner> stehn — — —
668. An Heinrich Köselitz in Annaberg (Visitenkarte)
Nizza 3. Febr. <1886>
Lieber Freund, hier ist Etwas von Mottl, — sehr wenig, aber nicht ohne „Liebe“. Vielleicht ein guter erster Schritt zum Anfange. „Im Anfang war das Wort“ —
Schönsten Dank für Ihren Brief, ich bin augenleidend. Zuletzt die Bitte, in Sachen Schm<eitzner>’s nichts zu unternehmen, bis ich Sie nochmals darum angehe.
Treulich Ihr N.
669. An Elisabeth Förster in Naumburg
<Nizza,> Sonntag. <7. Februar 1886>
Mein liebes altes Lama,
soeben kommt Dein hübscher und lustiger Vorschlag, und wenn er irgendwie dazu dient, Deinem Herrn Gemahl eine gute Meinung über den unverbesserlichen Europäer und Anti-Antisemiten, Deinen ganz unmaßgeblichen Bruder und Eckensteher Fritz beizubringen (obwohl er gewiß jetzt Anderes zu thun hat, um sich über mich zu „bekümmern“), so will ich gern in die Fußstapfen von Fräulein Alwinchen treten und ersuche Dich angelegentlich, unter gleichen Verhältnissen und Bedingungen mich zum südamerikanischen Grundbesitzer zu machen: mit der ausdrücklichen Variation, daß das Stückchen Erde nicht Friedrichsland oder Friedrichshain heißt (weil ich zunächst noch nicht daselbst „sterben und begrabbelt-grabbelt sein“ möchte), sondern, zur Erinnerung daran, wie ich Dich getauft habe — Lamaland.
Ernstlich geredet: ich würde Dir Alles schicken, was ich habe, wenn es helfen könnte, Dich bald wieder zurück zu führen. Im Grunde sind alle Menschen, die Dich kennen und lieben, dieser Meinung, daß es dreitausend Mal besser wäre, dieses ganze Experiment bliebe Dir erspart. Selbst wenn man noch so sehr jenes Land als geeignet zur deutschen Colonisation befinden sollte, so will doch Niemand zugeben, daß Ihr Beide gerade die Colonisten sein müßtet: dies erscheint vielmehr als willkürlich, verzeih den Ausdruck, überdies als gefährlich, zumal für ein Lama, das an eine sanfte Cultur gewöhnt ist und in ihr auch am besten gedeiht und herumspringt. Diese ganze Erhitzung von Gefühlen, wie sie hinter der ganzen Geschichte als Ursachen liegen, ist eigentlich schon für ein Lama (genauer: für unsern eigentlichen Familien-„typp“, der seine Kunst im Versöhnen zwischen Contrasten hat) zu tropisch, nach meiner Meinung sogar nicht einmal gesund: man bleibt hübscher und jünger, wenn man nicht haßt und nicht argwöhnt —. Zuletzt will es mir immer scheinen, daß Deine Natur sich selbst für eine eigentlich deutschthümliche Bestrebung hier in Europa nützlicher erweisen könne als dort: gerade als Gattin des Dr. Förster, der, wie ich beim Lesen seines Erziehungs-Aufsatzes wieder einmal empfand, eigentlich zum Erziehungsdirektor einer Art Schnepfenthal eine natürliche Mission hat — und nicht, verzeihe es Deinem Bruder, zum Agitator in einer zu drei Viertel schlimmen und schmutzigen Bewegung. Was in Deutschland jetzt dringend noththut, sind eben unabhängige Erziehungsanstalten, welche der Staats-Sklaven-Drillung sich durch die That entgegensetzen. Das Vertrauen, welches Dr. Förster bei dem norddeutschen Adel genießt, schiene mir ausreichend Bürgschaft dafür zu geben, daß eine solche Art Schnepfenthal oder Hofwyl (Du erinnerst Dich? der Ort, wo der alte Vischer gebildet war) unter seiner Leitung Glück machte. Aber dort drüben, unter Bauern, in der Nähe von unmöglich gewordenen vielleicht verbitterten und vergifteten Deutschen — genug, hier ist ein weites Feld zu Besorgnissen. Das dumme große Meer dazwischen! und bei jedem Orkane, von dem Meldung hierher kommt, ärgert sich Dein Bruder und fragt sich, wie um Alles in der Welt das Lama darauf gerathen ist, sich in ein solches Abenteuer zu stürzen. Ich nehme mich zusammen, so gut es geht, aber eine Melancholie sonder Gleichen wird alle Tage und besonders des Abends über mich Herr, — immer deshalb, weil das Lama davon läuft und ganz die Tradition Ihres Bruders aufgiebt. — Eben meldet mir der Hofkapellmeister in Carlsruhe (dem ich auf den Wunsch des armen K<öselitz> geschrieben hatte) meine Empfehlung („die Empfehlung eines von mir enthusiastisch verehrten Mannes“) erwecke bei ihm für das Werk das günstigste Vorurtheil; und indem ich mich von Herzen darüber freue, fällt mir ein, daß Ihr sagen werdet „es ist doch nur ein Jude!“ Das, meine ich, drückt es aus, wie das Lama herausgesprungen ist aus der Tradition des Bruders: — wir freuen uns nicht mehr über das Gleiche. — Inzwischen, es hilft nichts, das Leben ist ein Experiment, man mag thun, was man will, man zahlt es zu theuer: vorwärts, mein liebes altes Lama! Und tapferen Muth zu dem was beschlossen ist!
Dein F.
670. An E. Kürbitz in Naumburg (Entwurf)
<Nizza, 7. Februar 1886>
Es ist mir viel daran gelegen, meiner Schwester noch einen 300 Mark-Schein — bevor sie in Hamburg an Bord geht — zuzustellen, zu einem Zweck, über den ich Sie eben brieflich benachrichtigt habe. Wenn Sie mir den besonderen Dienst erweisen wollen, das Geld umgehend an die unten verzeichnete Adresse abzuschicken, so wird es nach meiner Berechnung noch zur rechten Zeit in die Hände meiner Schwester kommen. Genehmigen Sie den Ausdruck meiner Hochachtung
671. An Emily Fynn in Genf
Nice/France. rue St. François de Paule 26 II <Mitte Februar 1886>
Hochverehrte Frau!
endlich kommt ein Brief von mir — soll ich erklären, wie es kommt, daß er erst „endlich“ kommt? Aber es wäre unnütz: Sie selber haben, mit Ihrer großen und nothwendigen Gütigkeit schon genug zu meinen Gunsten und zu meiner Entschuldigung (falls es sich um eine Schuld handelt) geltend gemacht, daß ich gar nichts Besseres thun kann als mich darauf zu berufen. Ich bin so dankbar für alle Feinheit der Interpretation in Bezug auf das, was ich thue oder lasse —
Es scheint, wir haben beide Noth, über schmerzhafte Erlebnisse hinweg zu kommen, hinweg zu leben. Auch ich verlor eine Schwester, nicht zwar durch einen wirklichen Todesfall, aber durch eine jener großen Trennungen, die etwas ebenso Unwiderrufliches haben. Sie ist mit ihrem Gatten nach Südamerika unterwegs, zum Zweck einer Colonisation daselbst: es sind genug Aussichten vorhanden, daß die Sache gelingt, aber je mehr sie gelingt, um so fester sind sie an diese ferne Welt geknüpft. Zuletzt ist es nicht einmal Paraguay, was mir am meisten das Gefühl giebt, meine Schwester verloren zu haben. Mir sind die Gesinnungen meines Schwagers für die er lebt und stirbt, fremder als Paraguay.
In München, das ich auf der Herreise streifte hatte ich, bei meinen Freunden daselbst, den Eindruck wie wohl und heimisch sich in diesem Maler- und Malerinnen-Quartier Ihre Fräulein Tochter fühlen müßte; mehr noch, ich rechnete im Geiste aus, ob sich irgend ein Zusammenhang zwischen ihrer ausgezeichneten und originellen Art, Blumen aufzufassen und dem Japonisme meines Freundes Seydlitz ausfindig machen ließe. Gesetzt, daß Sie zusammen einmal wieder Deutschland berühren, bitte, risquiren Sie einen kleinen Versuch mit München: Mein Freund und seine Frau werden sich eine große Ehre daraus machen, Ihnen zu Diensten zu sein.
An Portofino wo ich die Grüße Ihrer verehrungswürdigen Freundin treulich abgegeben habe, wäre ich beinahe hängen geblieben. Es gab in Genua unter den dortigen Bekannten den allerbesten Willen mich für den Winter in der Villa eines Englischen Dentisten einzuquartieren. Climatische Bedenken — welche inzwischen bei der allgemeinen Härte dieses Winters sich doppelt gerechtfertigt haben — ließen mich weiter reisen, hierher in mein altes Nizza. Die Luft ist hier reiner und glänzender als irgendwo in Europa; man sagt mir, daß ich jeden Winter „besser und jünger“ aussehe — ich meine, darauf hin muß man einem Orte treu bleiben. Einem Orte der Einem Jugend verspricht — —
Was mir in Nizza fehlt, sind Menschen, die ich liebe und denen man nicht erst alles „sagen muß“.
Ich bin drei viertel des Tages ziemlich düster und arbeitsam den Rest lustig oder „profondément triste“, wie es einem einsamen Bär und Philosophen zukommt.
Welche Freude hat mir Ihr Bild gemacht! Und das was am meisten daran anziehend und festhaltend ist, ist glücklicherweise keinem Lebensalter zu eigen: es gehört zu jenem ewigen „jünger und besser“ welches man sich leider durch kein Nizza verschaffen kann. — Zeugniß: meine eigene Photographie. —
Es ist mir oftmals die Sorge gekommen als ob jene ganz merkwürdige Rückkehr Ihrer Gesundheit vielleicht nicht Stand gehalten hätte. Und ob Genf, gerade Genf Ihnen just gut thut? Es sind so viele hier, die vor dem Genfer Winter geflohen sind.
Von den Augen ist nichts Gutes zu melden. Trotzdem: es stand im Engadin schlechter um sie. Das Romershausen’sche Wasser hat mich viele Male erquickt, und niemals, ohne mich mit herzlichstem Dank an seine Geberin denken zu lassen. Behalten Sie mich wenn ich bitten darf auch fürderhin in gutem Angedenken, zu Dreien und nicht bloß zu Dreien. Sie wissen, hochverehrte Frau, daß meine beständigen Wünsche Sie begleiten, und daß es mir eine große Freude sein wird, wenn etwas von diesen Wünschen sich erfüllt.
Ihr ergebenster
Prof. Dr. Friedrich Nietzsche
Einsiedler von Sils-Maria.
672. An Heinrich Köselitz in Annaberg (Widmung)
<Nizza, 20. Februar 1886>
Lieber Freund,
das Neueste über Corsica, etwas provincial, aber südlich-provincial. Viel „couleur locale“. Lesen Sie, bitte, mit Lexicon und verschmähen Sie das Beste nicht, drei Verse im Provençalischen Dialekte, die mich zwei Tage lang glücklich gemacht haben, v. p. 200.
Ich las eben über Ihre Erzgebirg-Schneestürme. Hier haben Sie Etwas zur Erholung davon.
Treulich Ihr F. N.
673. An Erwin Rohde in Tübingen
Nice (France) rue St. François de Paule 26 II 23. Februar 1886.
Lieber alter Freund,
meine Mutter hat mir kürzlich Deine Berufung nach Leipzig gemeldet: ich habe lange keine solche Freude gehabt, wie bei dieser Nachricht! Seitdem male ich mir immer und immer wieder aus, daß dieses Jahr uns zusammen bringen muß. Vielleicht, daß es sich schon für den Frühling einrichten läßt; und am Allerliebsten wäre ich bei Deiner Einführung Augen-, Ohren und Herzenszeuge. Ich kann es gar nicht ausdrücken, wie sehr mich diese Hoffnung streichelt und erquickt. Vorigen Herbst war ich etwas in Leipzig, wie zum Vorgeschmack: ach, still, versteckt beinahe, fast immer für mich, aber wie von lauter Erinnerungen an Dich und unsre alte Gemeinschaft an diesem Orte gewärmt. Der Zufall wollte, daß ich etwas von dem Projekt, das Dich betraf, zu hören bekam: unmittelbar vor der Sitzung, in der die ganze Angelegenheit zum ersten Male ins Auge gefaßt wurde, war ich mit Heinze und Zarncke zusammen. Mir ist es wie ein Traum, daß ich auch einmal so eine Art von hoffnungsvollem Thiere gewesen bin, philologus inter philologos. Es hat sich nichts erfüllt: oder, wie Ihr vielleicht unter Euch jetzt sagt, „er hat nichts erfüllt“. Zu alledem bin ich an Freunden nicht reicher geworden: das Leben hat mir die Pflicht immer mehr mit der furchtbaren Nebenbedingung ihrer einsamen Erfüllung vorgestellt. Es ist schwer, mir nachzufühlen; ich setze beinahe voraus, selbst bei Bekannten, jetzt im Groben mißverstanden zu sein und bin für jede Art Feinheit der Interpretation, ja für den guten Willen zur Feinheit schon von Herzen erkenntlich. Ich bin ein Esel, es ist kein Zweifel. Alter lieber Freund Rohde, es scheint mir, Du verstehst Dich besser auf das Leben, dadurch daß Du Dich hineingestellt hast; während ich es immer mehr von Ferne sehe — vielleicht auch immer deutlicher, immer schrecklicher, immer umfänglicher, immer anziehender. Aber wehe mir, wenn ich einmal diese Entfremdung nicht mehr aushalte! Man wird alt, man wird sehnsüchtig, schon jetzt habe ich, wie jener König Saul, Musik nöthig — der Himmel hat mir zum Glück auch eine Art David geschenkt. Ein Mensch, der mir gleich geartet ist, profondement triste, kann es auf die Dauer nicht mit Wagnerischer Musik aushalten. Wir haben Süden, Sonne „um jeden Preis“, helle, harmlose, unschuldige Mozartische Glücklichkeit und Zärtlichkeit in Tönen nöthig. Eigentlich sollte ich auch Menschen um mich haben, von derselben Beschaffenheit, wie diese Musik ist, die ich liebe: solche, bei denen man etwas von sich ausruht und über sich lachen kann. Aber nicht Jeder kann suchen, der finden möchte — da sitze ich denn und warte und es kommt nichts, und schon weiß ich nichts Besseres als meinem alten Freunde davon zu erzählen, daß ich allein bin.
Vor mir liegt Dein letzter Brief, es ist möglich daß ich eben erst auf ihn antworte, obwohl ein ziemliches Stück Zeit dazwischen weggeflossen ist (der Brief ist vom 22 Dezember 1883) Nimm fürlieb mit Deinem schweigsamen Freunde, der es in vielem Betrachte schwer hat und sich davor fürchten gelernt hat, den Mund aufzumachen. Ehe man sich’s versieht, fährt eine Klage heraus, — und es giebt nichts Dümmeres auf Erden als klagen. Es erniedrigt uns, selbst bei den besten Freunden.
Gieb mir ein Wort hierher, zum Beweise dafür, daß Du mich noch lieb hast, alter Freund Rohde. Und nochmals, ich freue mich über Dein Glück mehr als über mein eigenes. Grüße Deine Frau von dem unbekannten Bär und Einsiedler und streichle Deine Kinder in meinem Namen. In Liebe
Dein getreuer Freund
Nietzsche.
674. An Franziska Nietzsche in Naumburg
<Nizza,> Donnerstag. <25. Februar 1886>
Meine liebe liebe Mutter,
ich habe so Viel in dieser Zeit an Dich gedacht und dabei es kaum bemerkt, daß ich so Wenig an Dich geschrieben habe, Verzeihung! Ich bin jetzt gerade im Abschreiben, komme langsam, langsam von der Stelle und habe jedes Mal, wenn ich mir Ruhe gönne, es so satt, meine Augen irgendwie noch zu gebrauchen, daß ich darauf hin wahrscheinlich nach allen Seiten mich zum Briefschuldner mache. Trotzdem ist es, wie mir scheint, ein gutes Zeichen, mindestens von meinem Muthe, daß ich selber die Abschrift besorge: Du erinnerst Dich vielleicht, wie vor [3]4 Jahren in Naumburg diktirt wurde, und der Schreiber auch bezahlt wurde (1883) Es war eine schändliche Handschrift, wenn ich mich recht erinnere.
Von unsern Auswanderern habe ich noch zu guterletzt einen schönen goldnen Ring geschickt bekommen; es heißt darauf innewendig „denke in Liebe an B. und E.“ — das will ich denn von Herzen thun, obwohl ich gestehe, daß diese Verbindung „B. und E.“ meinem Gefühle immer noch manchen Zwang anthut. Ich bin mit Förster’s Art nicht gerade verwandt, von seinen Tendenzen nicht zu reden. Daß es zuletzt ein Glück ist, daß er fort ist, gerade noch vor „Thorschluß“ —, darin hast Du, wie ich meine, sehr Recht; die Gefahr war ganz groß.
Hier sagt mir natürlich Jedermann: „mit der deutschen Regierung unzufrieden sein und sich der Regierung von Paraguay anzuvertrauen, die hundert Mal unsicherer und bedenklicher ist, das ist nicht gerade logisch“. Aber was kümmert diese Herrn die Logik! — Wenn nur unser armes Lama dabei nicht zu viel zu leiden hat! Ich fürchte immer, sie hat keine Ahnung davon, was sie erwartet.
Was hat diese ganze Geschichte Einem schon das Herz schwer gemacht!!
An Professor Rohde habe ich meine Glückwünsche geschrieben: ich danke Dir für Deine Mittheilung, über diese Angelegenheit. Am Schönsten wäre es, wenn ich seine ganze Einführung in Leipzig mit erleben könnte! —
Der gute Freund Köselitz ist immer noch in Deutschland und besorgt, für seinen kranken Vater, die Bürgermeister-Geschäfte von Annaberg. Der Hofkapellmeister von Carlsruhe, dem ich ein Paar Worte zur Empfehlung von K<öselitzen>s Oper schrieb (auf K<öselitzen>’s Wunsch: denn ich kenne ihn nicht persönlich) hat mir sehr artig zurück geschrieben: er lege den größten Werth auf meine Empfehlung „die Empfehlung eines von mir enthusiastisch verehrten Mannes“. Hoffen wir, daß es nicht nur bei guten Worten bleibt! — Komme ich nach Deutschland, so will ich dies Mal auch Herrn Widemann alle Ehre erweisen.
Das Bild, nach dem Du Dich erkundigst, ist von meiner alten Engländerin, mit der ich schon 2 Sommer im Engadin verbracht habe, hinzugerechnet, was hinzugehört, ihre Tochter Miss Emily Fynn und ihre Freundin die alte Excell. von Manshouroff vom russischen Hofe — mein „Trio“, mit dem ich herzlich befreundet bin. Sie sind jetzt wieder in Genf: wer weiß, ob es nicht möglich ist, sie noch für Nizza zu bestimmen! Mir fehlt so sehr ein Kreis, wo ich „wie zu Hause“ bin; es sind Menschen der Art. —
Seydlitzens haben mir viel Neigung und Treue bezeigt; gestern noch schrieb die gute Frau von S<eydlitz> (Irene) an mich, unter Anderem auch, daß sie für mich „auf der Suche nach einer guten Frau sei“. Dies hat mich sehr lachen machen. Sie wünscht zu wissen, wie viel Geld die bewußte „gute Frau“ haben müßte: als ob ich das wüßte! Dies, mein gutes Mutterchen, zu Deiner Ergötzung! Aber „unter uns“!
Weißt Du nicht, wann Heinze’s nach Nizza kommen wollen? Es werden überall die Vorbereitungen zum Carneval gemacht, der ungefähr den Monat März einnimmt. Ich fürchte mich davor; an dem schlimmsten Tage werde ich nach Cannes gehn (fahren natürlich!) Der Winter hier ist nach meinen Begriffen ein schlechter Winter gewesen; trotzdem etwas Unschätzbares, wenn man an Naumburger Winter denkt.
Denke in Liebe an mich und schreibe mir wieder so hübsch, meine liebe gute Mutter
Dein F.
675. An Resa von Schirnhofer in Zürich (Entwurf)
<Nizza, Ende Februar 1886>
Gestern Abend wurde mir in der Pension <de> G<enève> eine Frau P. Rößler aus Graz vorgestellt: und zwei Minuten später kam ich endlich wieder zu meiner großen Freude dem abhanden gegangenen Frl. Resa auf die Spur. Genannte Rösslerin nämlich hatte bei ihrem letzten Pariser Aufenthalte in der gleichen Pension gewohnt, wie Sie, verehrtes Frl., doch nach Ihrer Abreise: sie erzählte wenigstens, noch Ihr Bild daselbst vorgefunden zu haben. Sie glaubte Sie jetzt in Z<ürich>: Wahrscheinlich bemühen Sie sich daselbst um akad<emische> Ehren: — hoffentlich ohne mit Ihrer Gesundheit dafür Buße zahlen zu müssen. Zuletzt haben Sie dort die freundlichsten aller Ärzte zur Hand, — und es soll Fälle geben, wo man gern einmal krank wird, nur um <sich> von Jemand kurieren zu lassen, den man liebt. Grüßen Sie mir Frl. W<illdenow> auf das Beste von dem wunderlichen Einsiedler von S<ils> M<aria>, der vorigen Sommer wenn ich mich recht erinnre, mit seiner Einladung und Aufforderung zum Tanz bei ihr kein Glück gehabt hat, — wahrscheinlich weil er es nicht verdient hat. Wenn Sie selber für diesen Frühling an etwas Erholung und Zeitvertreib denken, erwägen Sie, wenn ich bitten darf, daß ich mir eine große Ehre daraus machen werde, Ihnen dabei zu Diensten zu sein. Z. B. in Venedig, wohin ich von hier übersiedeln will, nach einer schon mehrjährigen Gewohnheit. Ich denke am 13 April von Nizza abzureisen: bis auf diesen Termin habe ich mein Z<immer> gemiethet. Gesetzt, Sie wünschten, geschmückt ich weiß nicht <mit> was für feierlichen Titeln, sich Ihren verehrten Eltern zu präsentiren, so ist der Umweg über Venedig die angenehmste Art von Umweg, die man sich auf Erden wählen kann. Man fährt auf der Gondel, man lacht, man ist ein bischen malinchonico und hört über die Wasser weg singen und Musik machen.
Nochmals, erwägen Sie meinen Vorschlag in einem „feinen Herzen“ und seien Sie auf das herzlichste
gegrüßt von
Ihrem
676. An Elisabeth Förster auf der Reise nach Paraguay
12. März 1886 Nizza, rue St. Francois de Paule 26 II Et.
Mein liebes Lama,
unbändige Freude über Deinen Brief aus dem Weltmeere! Er befreite mich von einem fast unerträglichen Drucke, der so weit gieng, mich nicht einmal an Dich schreiben zu lassen, ob ich es gleich täglich wollte: — ich hatte mich ja für das prächtige und ganz überraschende „Vergiß mein nicht“ zu bedanken! Wir haben nämlich in Europa einen zweiten Aufguß von Winter, der nicht weniger stark ausgefallen ist als der erste: unerhörte Schneemassen von England bis Italien; selbst hier erniedrigen wir uns die Nacht wenigstens bis zu 3 Grad unter Null — kurz, die Zeitungen strotzten von schlechten Wetter-Nachrichten, Stürmen, wie sie die „ältesten Seeleute“ nicht erlebt hätten und dergleichen. Und nun sah ich immer das arme Lama schaukeln, schaukeln — — Ich gratuliere sehr dazu, wie Dir bisher die Reise bekommen ist; ich hatte Dir, als Mittel gegen die Seekrankheit, Chloral noch empfehlen wollen und mich geärgert, es vergessen zu haben, aber siehe da! das Lama hat ein noch besseres Gegenmittel, nämlich ihre Gesundheit. Auf diese hin darfst Du wirklich stolz sein: Dein Bruder ist ein wahres Krüppelthier gegen Dich. Da fällt mir ein, daß besagte Krüppelei eben ein wunderliches Projekt hervorgebracht hat: nämlich mich in die Kur des Prof. Schwenninger zu begeben, der nun einmal den Glauben haben soll, mir helfen zu können (er hat, ich weiß nicht wie, eine Anhänglichkeit an mich; thatsächlich haben wir eine Zeitlang im „Kopf“ zusammen zu Mittag gegessen) Dieser Schwenninger richtet sich jetzt in Heidelberg oben auf dem Schloß das große Hôtel zum Sanatorium her; schon für diesen Sommer werden Gäste erwartet (darunter Lord Rosebery, der englische Minister des Auswärtigen); schließlich giebt es diesen Sommer ein ungeheures Universitäts-Jubiläum, und das Heidelberger Faß soll zum ersten Male gefüllt und ausgetrunken werden. Soviel über meine „Gesundheit“.
Köchlins hier, mir sehr zugethan, haben mir gestern mitgetheilt, daß ihr jüngster Sohn sich mit der Tochter jener uns bekannten Basler Familie Hofmann-Merians verlobt habe. Daß Thurneysen-Merian diesen Winter gestorben ist, wirst Du wissen; ebenfalls Wackernagel, der Redakteur der Basler Nachrichten. Die gute Irene v. Seydlitz hat mir einen komischen Brief geschrieben, aus dem sich irgendwelche Hamburger Inspirationen errathen lassen; ich will zusehn, dieses Jahr auch einmal nach München zu kommen, doch aus andern Gründen: ich brauche etwas Verkehr mit Künstlern. Geizer in Jena hat einen Ruf nach Basel gehabt, an Jacob Burckhardts Stelle — und abgelehnt (er rechnet auf Berlin) Ich glaube nicht daran, mein liebes Lama, daß ich mich für die Universität wieder einfangen lasse: es ist mir klimatisch nicht möglich, so lange man mir nicht hier in Nizza eine Zuhörerschaft zurecht macht. Ich kann es nicht beschreiben, wie ich wieder vorigen Herbst mich in Naumburg und Leipzig gefühlt habe: eine beständige betrübte Pelzigkeit. Hier habe ich jeden Winter einen tüchtigen Schritt vorwärts gemacht: zum Mindesten muß ich nichts zu früh risquiren, um nicht Alles wieder zu verlieren. — Verzeihung! Aber Du hast diesen Dingen so viel Nachdenken geschenkt, trotz allen eignen Sorgen, daß ich Dir davon erzählen muß. Der Fall mit der Schwester Deussens hat mich äußerst erbaut — Euretwegen! Ich glaube mich zu erinnern, daß sie als vierzehn- oder fünfzehnjähriges Mädchen ein großes Hauswesen (zu Hause) fest in den Händen hatte und wacker durchführte.
Sage Deinem Bernhard, daß ich den ganzen Winter meine Mahlzeit mit seinem Messer gemacht habe, ebenfalls, daß ich die wollenen Hemden sehr zu schätzen weiß (allerdings als Unterzieh-Hemden); denn ich habe diesen harten Winter, Dank dieser Bekleidung, niemals eingeheizt und in summa doch weniger gefroren als in irgend einem Winter. —
Entdeckung: fetter weißer Käse ist sehr viel leichter verdaulich als magerer. Mein Mittag besteht aus Milch, Grahambrod, Käse und Nüssen — ich glaube, man heißt dies, mit einiger Freiheit des Ausdrucks, Vegetarianismus.
Mein altes liebes Lama, verzeih die Dummheiten dieses Briefs, hoffentlich werde ich wieder vernünftiger — und heute ist es etwas zu Neues und Kurioses für mich, daß das Lama in der Nähe der Cap-Verdeschen Inseln schaukelt! Nein, welche Wohlthat, daß man kein Eckensteher ist! Es lebe das Lama und ihr Bernhard und Euer Paraguay und Eure ganze gute Gesellschaft und Menschheit, die Ihr um Euch habt!
In Liebe und Dankbarkeit
Dein Fritz.
Den 13. April will ich nach Venedig, Briefe poste restante. den 13. Juli ungefähr nach Sils. Im Herbst zur guten Mämms.
677. An Franziska Nietzsche in Naumburg (Postkarte)
<Nizza, 19. März 1886>
Verzeihung für mein langes Schweigen und nimm mit dieser Karte fürlieb, meine gute Mutter! aber ich darf nicht mehr schreiben als ich schon schreibe, bin außerdem sehr angegriffen und recht viel krank. Noch weiß ich nicht, wie der Plan des Jahres zu machen ist: jedenfalls nimm bei Deiner Zimmer-Vermiethung keine Rücksicht darauf! (Du weißt ja, daß ich eventuell doch nur „vorübergehend“ in Naumburg sein könnte, und daß ich, der Stille wegen, das Nest oben vorziehe) Ich habe Prof. Rohde in Tübingen gratulirt zu seiner Versetzung, aber keine Antwort erhalten: vielleicht sind wieder Briefe verloren gegangen? (Ein prächtiger Brief vom Lama, mitten auf der Fahrt geschrieben und ein Zeichen von Glück und gutem Muth, hat mir sehr wohl gethan: ich war so in Angst...) Bis zum 13. April bleibe ich hier, nachher wahrscheinlich Venedig. Aber ich habe Niemanden dort, der für mich sorgt und mich etwas zerstreut — ich bedarf sehr der Erholung.
Von Herzen Dein F.
678. An Franz Overbeck in Basel
Nice (France) rue St. François de Paule 26 II étage, Donnerstag <25. März 1886>
Lieber Freund,
Daß ungefähr zu gleicher Zeit, wo Du an mich schriebst, meine Gedanken bei Dir in Basel waren, wird Dir ein vorgestern an Dich abgesandtes rothes Heft verrathen: — wie schön wäre es, über dergleichen curiosa hübsch miteinander, beieinander lachen (selbst sich ärgern) zu können! Ach, die dumme Gesundheit, die Einen von seinen Freunden fern hält! Die Nachrichten über Deine eigne Gesundheit (aus beiden letzten Briefen), auch über Deine Augen, lassen mich es bewundern, wie tapfer Du Dich eigentlich dort in Basel durchschlägst. Aber freilich, Du hast es, Dank Deiner Frau, eben hundert Male besser als ich: Ihr habt zusammen ein Nest — und ich habe höchstens eine Höhle, ich mag mich drehn und wenden wie ich will. Man sagt mir hier, daß ich den ganzen Winter, trotz vielfacher Beschwerniß, immer „bei glänzender Laune“ gewesen sei; ich selber sage mir, daß ich den ganzen Winter profondement triste, torturirt von meinen Problemen bei Tag und Nacht, eigentlich noch mehr höllenmäßig als höhlenmäßig gelebt habe — und daß ich den gelegentlichen Verkehr mit Menschen wie ein Fest, wie eine Erlösung von „mir“ fühle. Das große Mißverständnis der Heiterkeit! Die brave Malvida, die mit ihrer rosigen Oberflächlichkeit sich in einem schweren Leben immer „obenauf“ gehalten hat, schrieb mir einmal, zu meinem bittersten Vergnügen, daß sie, aus meinem Zarathustra heraus, schon den „heitren Tempel winken“ sehe, den ich auf diesem Fundamente aufbauen werde. Nun, es ist einfach zum Todt-lachen; und ich gebe mich nachgerade damit zufrieden, daß man mir nicht zusieht und ansieht, an was für einem „Tempel“ ich baue. —
Erholung, lieber alter Freund, nichts als Erholung habe ich auch jetzt wieder nöthig: aber sie ist immer schwerer zu schaffen. — Die erquickliche leichte Musik Köselitzens gehört dahin: was bin ich diesem Glücksfunde meines Lebens dankbar! (Aber warum hast Du mir nichts über den Brief K<öselitzen>’s gesagt, den ich dem letzten Briefe an Dich beigelegt hatte? Hoffentlich ist nichts verloren gegangen? Ich schrieb gleich nach dem Eintreffen des letzten Geldes; seitdem hörte ich nichts von Dir). Es ist dem Armen mit Wien wie mit Dresden mißrathen; er bat mich, etwas zu seinen Gunsten bei Mottl in Carlsruhe zu versuchen. Letzterer, obschon mir persönlich unbekannt, hat inzwischen sehr artig an mich geschrieben: er lege den größten Werth auf meine Empfehlung („die Empfehlung eines von mir enthusiastisch verehrten Mannes“) Hoffentlich bleibt es nicht bei Worten. — Was Du von Deinen litterarischen Absichten schreibst, macht mir rechte Freude. Ich lese Dich so gern, selbst noch abgesehn von dem, was man durch Dich lernt. Du verschlingst so artig Deine Gedanken, ich möchte fast sagen, listig, als ein Mensch der nuances, der Du bist. Der Himmel segne Dich dafür, in einem Zeitalter, das täglich plumper wird. —
Inzwischen hat man sich bemüht, mich zur Wiederaufnahme meiner akademischen Thätigkeit anzureizen. Ich soll durchaus culturgeschichtliche Collegien lesen. — Sonderbar! Rein als Frage der Erholung ist mir dieser Gedanke sogar recht geläufig. Aber es giebt eine Verrechnung dabei.
Bitte, sende mir, sobald Du kannst, das flügge werdende Geld hierher (zur Hälfte französisch, zur Hälfte italiänisch, wofern dies möglich ist und Dir keine Mühe macht). Ich bleibe hier bis zum 13. April. Meine Augen erlauben es nicht länger. Nachher wahrscheinlich Venedig, mit seinem Gäßchen-Dunkel; dann Engadin; im Herbst muß ich meiner alten armen Mutter etwas Trost zusprechen.
Herr Credner ist bereit, „einen zweiten Band der „Morgenröthe“ in Verlag zu nehmen,“ und hat mir brieflich angezeigt, daß er wünsche, „unter meine Verehrer gerechnet zu werden.“ Solchen Glauben in Israel habe ich noch nicht gefunden. Trotzdem — — —
Ach, wie Vieles gäbe es zu sagen und zu berathschlagen, lieber Freund! Empfiehl mich angelegentlich Deiner Frau und ihren Angehörigen. Dieses Jahr wird mich auch einmal nach München bringen. — Treulich Dein Freund Nietzsche.
(Sehr in Arbeit. Sei übrigens unbesorgt, es wird keinen zweiten Band „Morgenröthe“ geben. —)
679. An Hermann Credner in Leipzig (Entwurf)
<Nizza, um den 27. März 1886>
Mit diesem Briefe wünsche ich Ihnen ein Vergnügen zu machen. Inzwischen nämlich während der Abschrift, ergab sich die Unmöglichkeit das neue Buch als 2ten Theil oder neue Folge herauszugeben. Es bekommt einen Titel für sich (wie es seine Farbe und seinen Sinn für sich hat) — und damit, denke ich, ist auch Ihnen ein Gefallen geschehn. Dieser Titel ist:
die Capitel-Überschriften lauten:
Nun aber die Form-Fragen: denken Sie, bitte, mit mir darüber nach, wie wir diesem Buche ein möglichst vornehmes und „unpopuläres“ Gewand geben: so allein wäre es seinem Inhalte angemessen. Die neulich gesandte Probe von Du Bois-Reymond welche mir an sich sehr gefallen hat — sie macht Ihrem (oder Du Bois-Reymond<s>) Geschmack alle Ehre — erlaubt trotzdem keine Anwendung auf den Fall meines Buchs: dies soll sehr langsam gelesen werden, es muß viel weniger auf einer Seite stehen, es muß auf den Gelehrsamkeits-Anspruch, wie er sich in einem so großen Formate ausdrückt, Verzicht leisten — und ich will’s endlich mit deutschen Lettern versuchen. Man bringt den Deutschen nicht anders dazu, die Form, die Sprache, den Geschmack eines Buches ernst zu nehmen. — Ich wollte vorschlagen: Wenig Zeilen: c. 26, bequeme Intervalle (worin wesentlich der vornehme Eindruck eines Buches liegt)
Mittelgroßes Format
Feines Velin
Der Inhalt kommt etwas der Hälfte, höchstens Zwei-Drittel der „Morgenröthe“ gleich.
Bitte, geben Sie mir so bald wie möglich eine Probe. Kann der Druck in c. 2 M<onaten> beginnen?
680. An Heinrich Köselitz in Annaberg
Nice (France) rue St. François de Paule 26 II étage <27. März 1886>
Lieber Freund,
es ist lange her, daß ich Ihnen nicht geschrieben habe: den Grund davon gab ich auf meiner letzten Karte an, — hoffentlich glauben Sie mir genug, um das zu glauben. Meine Augen sind überangestrengt, übermüdet und „über“ in jedem Betracht, — sie haben zuviel diesen Winter thun müssen, der ein trüber Winter war. Und es ist sonderbar, wie die Brauchbarkeit oder Unbrauchbarkeit meiner Augen mit dem Grade der Lichtfülle im Verhältniß steht! — Wie viel bin ich bei Ihnen gewesen, mit Sorgen, mit Hoffnungen, mit vielem herzlichen Nachdenken über etwas, das vielleicht meinerseits zu thun sei. Und wie erstaunt war ich zu hören, daß Sie Lust und Muth genug zurück erobert haben, um an das Dichten der „Marianna“ zu gehen! Das hat mir große Freude gemacht. Mir ist auf’s Gewissen gefallen, daß ich nach dieser korsischen Seite hin Ihr Interesse zu lenken gesucht habe, — und daß ich zuletzt ein Einsiedler bin, mit einem Einsiedler-Geschmack, der publice gar nicht in Betracht kommt. Im Zeitalter der „Operette“ und des choreographischen Poëms (heiße es nun Amore oder Parsifal) gehöre ich wahrscheinlich unter die „Unzeitgemäßen“. Offenbar will man heute im Theater etwas ganz Andres als im vorigen Jahrhundert, — und „die Oper“ scheint mir überlebt. —
Es fällt mir ein, daß die Wiener ein neues Operetten-Talent haben, Hrn. Kremser, dessen „Botschafter“ (es ist der junge Richelieu) c. 30 Mal mit ausverkauftem Hause vorgeführt wurde.
In Carlsruhe hat man Berlioz’ Benvenuto Cellini „gemacht“, — sehr respektabel für Herrn Mottl! Haben Sie von ihm inzwischen gehört? — Ich leider nicht.
Im „Klassischen Concert“ von Monte-Carlo (unter der Leitung eines Östreichers) habe ich alte Sachen von Rameau (von 1736) gehört, mit großer Neugierde; dann auch ganz neue Modernitäten von Massenet, scheußlich-bunt orchestrirt. Ich hatte keinen Begriff davon, daß man’s auch mit der Orchestration hurenhaft treiben könne.
Das letzte musikalische Ereigniß; hierselbst war der „russische Chor“, der sich durch ganz Europa bewegt hat und hier in Nizza, dem Wohnsitze vieler Russen, es zu einem großen Erfolge brachte. Nicht bei mir: obwohl die Kunststücke des Chorgesangs an sich, die pianissimi, die Verschnellerungen des tempo’s, und ein gewisser reiner mädchenhafter Stimmklang gewiß große Auszeichnung verdienen. Aber die Sachen selbst waren zum Theil nicht russisch genug (irgend wann einmal aus Deutschland oder Italien oder der Türkei hinübergerathen?), zum andern Theil russisch, aber nur im Sinne und Instinkte des gemeinen Mannes (mit einer Leibeigenschaft-Melancholie auch noch über den heitersten Liederchen); es fehlte ganz die männliche Note, der Ausdruck der herrschenden Stände und ihres Stolzes. Vier Concerte, die ersten mit großen Preisen (50, 20, 10 frcs. und nichts weiter).
Noch habe ich mich nicht für Ihren Brief bedankt, lieber Freund. Wenn ich Sie nur an der Spitze eines Orchesters wüßte! Wenigstens für einige Zeit: ein Musiker hält das Leben schlecht aus, wenn er lauter Zukunfts-Partituren schreibt. Ihre Erfahrungen mit Dresden haben etwas Groteskes, dem ich ein paar Erfahrungen mit demselben Dresden zur Seite stellen könnte — fast jede Woche bin ich auf diese curiose Stadt wieder aufmerksam gemacht worden. Da schreibt mir zum Beispiel gestern Jemand, der dort sich niedergelassen hat, ich möchte ihm eine Professur der Philosophie verschaffen, womöglich in Preußen: dieser Jemand war — was glauben Sie? — der verrückte E. von Hagen. Vorige Woche bot mir ein dortiger Dichter seine Freundschaft an: sein Herz sei, mir gegenüber, aufgegangen wie eine volle Rose. Wörtlich! Ich antworte nicht mehr auf solche curiosa.
Prof. Rohde hat eine Berufung nach Leipzig angenommen: und jetzt ist die halbe philosophische Fakultät mir dort „gut Freund“ (Zarncke, Heinze, Leskien, Windisch, Rohde usw.)
Diesen Winter habe ich benutzt, etwas zu schreiben, das Schwierigkeiten in Fülle hat, so daß mein Muth, es herauszugeben, hier und da wackelt und zittert. Es heißt:
Jenseits von Gut und Böse.
Vorspiel
einer Philosophie der Zukunft.
Grüßen Sie Ihren verehrlichen Vater von mir, mit dessen Befinden es hoffentlich besser geht? Es hat mich sehr lachen machen, Sie mir als seinen Vicar zu denken. Sie passen nicht schlecht dazu? hein!
Votre ami
N.
Von hier geht’s am 13. April nach Venedig. Es sticht mich in’s Herz, zu denken, daß ich Sie dort nicht finde. — Und wo werde ich wohnen!
681. An Unbekannt (Entwurf)
<Nizza, etwa Ende März 1886>
Ich habe diesen Winter auch etwas fertig gemacht, etwas Lustiges, es heißt sich
Des Prinzen Vogelfrei
Lieder und Gedanken
Mitgetheilt
v.
F. N.
Man wird es nicht für möglich halten, daß es vom gleichen Verf. wie Z<arathustra> ist — noch weniger, daß hinter beiden Werken die gleichen Hintergedanken stehen. — — —
Nun aber der Druck! Herr Credner war bereit, einen zweiten B<and> der „Morgenröthe“ herauszugeben: nachdem er mir sogar bis so weit seine Bereitwilligkeit bewiesen hat, werde ich hoffentlich für den Pr<inzen> Vogelfrei auf ihn zählen können. Er hat neulich mir geschrieben, daß er wünschte „unter meine Verehrer gerechnet zu werden“; auch Mottl in Carlsruhe, obwohl mir persönlich unbekannt usw.
682. An Hermann Credner in Leipzig (Entwurf)
<Nizza, Ende März 1886>
Hiermit erlaube ich mir Ihnen den Anfang und den Schluß des neuen Buchs vorzulegen (eine Art Widmungs-Gedicht und ein Ausklang des Ganzen), hoffentlich mit dem Ergebniß, daß Sie einigen weiteren Mittheilungen und Vorschlägen, die ich zu machen habe, ein um so geneigteres Ohr schenken.
Das Buch ist als „Fortsetzung“ oder „neue Folge“ der „Morgenröthe“ unmöglich auszugeben: davon habe ich mich während der Abschrift überzeugt. Es ist dazu viel zu fundamental (auch im Ton abweichend): ich kann es jetzt nicht anders und besser betiteln als so:
So, wie ich jetzt das ganze Material geordnet habe, beginnt das Buch mit jenem Hymnus „an den Mistral“: darauf folgt eine lange Einleitung, welche die Züge der Philosophie der Zukunft, deren Heraufkommen ich voraussage, darzustellen unternimmt.
Darauf
Erster Theil: Buch der Loslösung
Zweiter Teil: Buch der Heimlichkeit (mit eingestreuten Versen und Epigrammen)
Dritter Theil: Buch der Höhe
zum Schluß das mitgesandte Lied „oh Lebensmittag“.
Der Umfang ist bedeutend geringer als der der „Morgenröthe“: schon aus diesem Grunde aber verbietet es sich, das neue Buch als eine Art Fortsetzung herauszugeben. Ich bilde mir ein, daß es Ihnen erwünscht ist, auf diese Weise das Buch nicht an eines meiner früheren Werke angekettet zu wissen. — Nach meiner Berechnung wird es den Umfang von der „fr<öhlichen> W<issenschaft>“ haben: welche ich mir gestatte, Ihnen meinerseits zu präsentiren.
Ein Punkt, in Betreff dessen ich schlechterdings um Ihr Entgegenkommen und Ihr Nachgeben bitten muß ist die Form- und Formatfrage des Buchs.
Gesetzt, es giebt später einmal größere und umfänglichere Sachen von mir, deren Herausgabe zwischen uns vereinbart würde, so will ich von vornherein versprechen darin meinerseits ein „Nachgeben“ — aber dies Mal muß das neue Buch vollständig gleich meiner ganzen bisherigen Litteratur erscheinen: es ist dies eine Schicklichkeits- und Etiquettenfrage, bei der der Werth gerade dieses Buches entscheidet.
Man hat sich außerdem an eine bestimmte Form und Ausstattung meiner Bücher gewöhnt: sie gehört jetzt mit zu dem Typus der in ihr repräsentirten Denkungsweise. Vergeben Sie mir, daß ich zu Gunsten des neuen, so entscheidenden Buches unbedingt die alte Form mir ausbitte.
In Betreff des Honorars war meine Vereinbarung mit Herrn Schm<eitzner> die, daß eine Auflage von 1000 Ex. als Norm genommen würde: und daß in Betreff späterer Auflagen nichts voraus festgesetzt werde.
Es sind Bedingungen, auf welche hin man sich mit mir in Verbindung gesetzt hat als ich c. 24 Jahr alt war; jetzt, wo ich im 42ten bin, möchte ich es, wenn nicht besser, so doch nicht anders haben, als ich es damals gehabt habe. (Sehr menschlich wie mich dünkt —)
Meine Hoffnung ist, falls die Augen es erlauben, ungefähr in 2-3 Wochen die Abschrift abzuschließen. Bis dahin habe ich vielleicht ein Wort von Ihnen in den Händen, welches mich in Betreff meiner heutigen Bitte beruhigt. (Denn ich bin sehr beunruhigt)
683. An Ernst Schmeitzner in Chemnitz (Entwurf)
<Nizza, Ende März 1886>
Darf ich die Hoffnung aussprechen, daß die Angelegenheit der Hypothek Ihres Hrn. Vaters endlich erledigt und zum Abschluß gekommen ist? Ich für meine Person habe unbändig viel Störung und Unannehmlichkeit davon gehabt; aber dafür können Sie nichts.
Mit Ihrem letzten nach Leipzig gesandten Briefe haben Sie mich beleidigt, ich will das nicht verhehlen, — noch weniger möchte ich auf das in ihm angeregte Thema zurückkommen.
Zuletzt eine Anfrage, in Betreff derer es bei Ihnen steht, Ja oder Nein zu sagen. Zum Zweck einer Sammlung meiner Gedichte möchte ich auch das Verfügungsrecht über jene Lieder haben, welche 1882 in Ihrer Revue abgedruckt worden sind: sie würden „verbessert“, verlängert, zum Theil verkürzt, dieser Sammlung einverleibt werden. Darf ich?
684. An Franz Overbeck in Basel
Sonnabend <Nizza, 10. April 1886>
Lieber Freund,
nur wenige Worte. Die Augen verlangen es. Besten Dank für Brief, Geld und die zwei Bücher. Nächsten Dienstag Abreise nach Venedig, Adresse einfach poste restante. Es ist möglich, daß ich im Köselitz’schen Neste sitzen werde. Heinze’s sind hier, zu meiner Erholung, deren ich sehr bedarf. Winter-Pensum exakt fertig, Abschrift selbsthändig besorgt, Fädchen drum gebunden, ad acta gelegt. Dergleichen druckt mir Niemand, am wenigsten Credner; und der Luxus vom vorigen Jahre darf nicht wiederholt werden (ich meine das Drucken auf eigne Kosten.) Zuletzt: es hat Alles keine Eile. — Mottl hat Nein gesagt, sehr motivirt, Principien-Kampf zu Gunsten Wagners etc. — K<öselitz> selbst sandte Proben seines Operntextes „Marianna“ (das ist das korsische Thema.) Rohde hat geschrieben, schwer bewegt. — Das Schönste war ein Brief aus offenem Meere, aus der Nähe der Cap Verdeschen Inseln, seitens meiner Schwester: glückliche Fahrt, gar keine Seekrankheit, und prächtige Menschen. Eine Schwester Deussens gehört auch zum Projekt. Eine hiesige Fabrik hat meine Empfehlung nachgesucht, um ihre Sachen in Paraguay einzuführen: spaaßhaft. In der französischen Litteratur ist le grand succès dieses Jahres un crime d’amour von Paul Bourget: erstes Zusammentreffen der beiden geistigsten Strömungen des Pessimismus, des Schopenhauerischen (mit der „Religion des Mitleidens“) und des Stendhal’schen (mit messerscharfer und grausamer Psychologie.) Man hält Vorträge über diesen Roman: der endlich einmal wieder „Kammermusik-Litteratur“ ist und nichts für die Menge. Deutscherseits sagt man von ihm, wie ich höre, ein „Fäulnißprodukt,“ —
Mich Dir und Deiner Frau angelegentlich empfehlend Dein Freund
N.
N. B. Heinze erzählte mir vom großen Eindrucke, den Harnacks Dogmengeschichte gemacht habe. — Gestatte mir ein Buch gerade Dir zu empfehlen, von dem man in Deutschland nichts wissen will, aber das viel von meiner Art, über Religion zu denken, und eine Menge suggestive Fakta enthält: Julius Lippert, Christenthum, Volksglaube, Volksbrauch (Hofmann in Berlin, 1882.)
685. An Bernhard Förster in Asuncion
Nizza den 11. April 1886.
Mein lieber Schwager,
es macht mir einen ganz wunderlichen Eindruck, meinen ersten Brief an Dich übers Meer um einer Geschäftssache Willen abschicken zu müssen. Ein Herr Feer, der hier mit einem andren Deutschen zusammen eine Fabrik besitzt, hat sich an mich gewendet, um mit seinem Anliegen von Dir gut aufgenommen zu werden. Es handelt sich um aromatische Essenzen, welche er in Paraguay einzuführen wünscht: — ein wohlriechendes Anerbieten, dessen Fürsprecher ich mit Vergnügen bin. Herr Feer ist ein Verwandter der mir befreundeten Familie Albert Köchlin, allem Anscheine nach ein wackerer zuverlässiger Mensch, auf den Du mit Deinem grünen Buche einen, wie es scheint, beinahe verführerischen Eindruck hervorgebracht hast; genug, er schwärmt seitdem für Paraguay, denkt selbst an Reisen dahin usw. Er will Dir schreiben, — nun, welchen Sinn und Werth sein Anerbieten hat, weiß ich nicht zu beurtheilen, aber der Mensch ist einer Empfehlung werth. —
Seit einer Woche sind Heinze’s aus Leipzig hier: Ihr könnt denken, wie viel von Euch die Rede war und ist!
Übermorgen geht es aber fort: ich versuche es wieder mit Venedig, wie die letzten Jahre. Etwas überarbeitet; viel Abschreiberei; schließlich fehlt mir die Lust, etwas von mir „öffentlich“ zu machen. Kurz, ein Fädchen um’s Manuscript und ad acta gelegt. —
Nach den Zeitungsberichten zu urtheilen, müßt Ihr gerade auf die Revolution in Montevideo zugesteuert sein; der Hintergrund dieser Bewegung hat mich für Deine Projekte nachdenklich gemacht. — Dies Argentinien könnte schließlich Par<aguay> wie eine Enclave mit seinen Zöllen tyrannisiren.
Verzeihung! Es gab übrigens diesen Winter hier Vorträge über Südamerika, worin Parag<uay> auf eine glänzende Art ins Licht gestellt wurde: nämlich in Hinsicht seiner Bewohner, in denen die milden und arbeitsamen Instinkte wundersam mit Heroismus und Ausdauer in starken Gefühlen vereinigt seien. Der Redner schloß mit dem Gedanken, daß der Mensch vielleicht am schönsten und vollständigsten gedeihe, wo er der Natur am nächsten lebe. Wozu die Zuhörer Beifall klatschten. —
Mit den herzlichsten Wünschen Dein
Friedrich Nietzsche.
Adresse bis Mitte Juni: Venezia poste restante. Nachher Sils-Maria, Engadin, Schweiz.
Der Tod des Professor Vischer-Heusler in Basel hat mir sehr weh gethan. — Rohde ist bereits in Leipzig. Im Herbst hoffe ich dort hin kommen zu können. Mit Credner und Schmeitzner Verdruß über Verdruß.
Claire Heinze will von hier aus ebenfalls an Euch schreiben. Ein Brief von mir, adressirt an Frau Dr. Förster, Asuncion, Paraguay poste restante, ist hoffentlich Euch zu Händen gekommen? —
686. An Franziska Nietzsche in Naumburg (Fragment)
<Nizza, 11. April 1886>
Verzeihung, meine liebe Mutter, daß ich wieder so schweigsam war und Dir nicht einmal für Deinen guten Brief gedankt habe. Ein paar Zeitungs-Artikel aus den Basler „Nachrichten“, deren ich zufällig habhaft wurde (leider nur die 3 letzten Nummern) sind an Dich abgeschickt worden: sie stammen von einem eben verstorbenen Schweizerischen Staatsmann, dem Landamman Vigier, der 30 Jahre die Regierung des Kantons Solothurn geleitet hat. Als Student war er in Berlin; und seine Erinnerungen an die 48ger Jahre machen um des Contrastes willen einen starken Eindruck, — man hält es nicht für möglich, daß wir schon so ganz entgegengesetzte Zustände erlebt haben. Zuletzt: wer glaubt heute noch daran, daß unser Deutsches Reich 40 Jahre Stand hält! Es geht alles heute schnell vorüber.
Heinze’s sind seit einer Woche hier, und es giebt zwischen uns einen heiteren und artigen Verkehr, zumal wir nicht weit von einander wohnen. Auch ein Paar schöne Tage kamen zu Hülfe: so daß Heinzes recht erbaut von Nizza sind. Ich bin im Grunde sehr angegriffen, Dank der langen Arbeit und Schreiberei; auch habe ich alles Drucken hinausgeschoben, ich denke im Herbst Einiges persönlich zu diesem Zwecke zu arrangiren, wenn ich zu Dir und nach Leipzig komme. Mit Herrn Credner bin ich beinahe wieder auseinander, unter uns gesagt. Auch der frühere Verleger Schm<eitzner> hat sich durch gereizte und wenig erquickliche Briefe mir ins Gedächtniß zurückgerufen, — ich habe den ganzen Winter über noch Schererei von wegen der Hypothek seines Vaters gehabt.
Der Tod des Prof. Vischer-Heusler in Basel hat mir sehr weh gethan.
Rohde hat von Tübingen noch geschrieben, er ist seit dem 8. d. M. in Leipzig. —
Nächsten Dienstag geht es fort von hier, nach Genua und Venedig; es schmerzt mich, daß ich den guten Freund Köselitz daselbst nicht mehr vorfinde.
687. An C. Heymons (Carl Duncker’s Verlag) in Berlin
Nizza (France), 12. April 1886 rue St. François de Paule 26
Geehrter Herr,
mit diesem Briefe möchte ich Ihnen den Vorschlag machen, ein philosophisches Werk von mir herauszugeben, das unter dem Titel „Jenseits von Gut und Böse“ bereit sein würde, in die Welt zu gehn. Einer meiner Freunde, der mich gerade hier besucht (Hofrath Heinze, Prof. der Philos. in Leipzig) räth mir, mich an Sie zu wenden, in Anbetracht, daß ich am ehesten bei Ihnen den Muth der Initiative finden werde, wie er zur Herausgabe eines solchen sehr unabhängig gedachten und gemachten Buchs nöthig ist. Meine Leser und Anhänger sind weit verbreitet genug, um Ihnen von vornherein die Verkäuflichkeit des Buchs wahrscheinlich zu machen; meine Bedingungen andererseits enthalten, wie ich hoffe, nichts, was Ihnen unbillig erscheinen dürfte, zumal es die alten gleichen Bedingungen sind, welche mir von meinem 24ten bis zum 42ten Lebensjahre immer zugestanden worden sind. Als Honorar pro Bogen 40 Mark, bei einer Auflage von 1000 Exemplaren.
Die Ausstattung (Satz, Format, Papier u.s.w.) getreu nach dem Vorbild von „Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister“ — ich nehme eins meiner früheren Werke, im Grunde sind sie allesammt in dieser Hinsicht einander gleich. Gute Druckerei vorausgesetzt: die meisten meiner Bücher sind bei Teubner und C. G. Naumann in Leipzig gedruckt.
Der Umfang des Buches möchte sich ungefähr auf 300 Seiten erstrecken. — Bedingungen für neue Auflagen vorbehalten. — Druck alsbald beginnend.
Das Buch enthält zehn Abschnitte, deren Überschriften lauten: Von den Vorurtheilen der Philosophen. Der freie Geist. Das religiöse Genie. Das Weib an sich. Zur Naturgeschichte der Moral. Wir Gelehrten. Unsere Tugenden. Völker und Vaterländer. Masken. Was ist vornehm?
— Darf ich hoffen, hiermit, geehrter Herr, Ihnen ein willkommenes Anerbieten gemacht zu haben?
Hochachtungsvoll
Ihr ergebener
Professor Dr. Friedrich Nietzsche.
688. An Carl Fuchs in Danzig
Nizza (France) rue St. François de Paule 26 II <vermutlich Mitte April 1886>
Werther und lieber Herr Doktor,
glauben Sie daran, auch ohne daß ich es schriftlich bezeuge (was mir meine Augen von Jahr zu Jahr weniger erlauben —), daß nicht leicht Jemand Ihren Untersuchungen und Feinheiten mit mehr Theilnahme folgen kann, als ich. Wenn nur „Theilnahme“ ausreichte! Aber es fehlt mir an Wissen und Können nach allen den Seiten hin, wo Ihre merkwürdig vielfältige Begabung liegt. Vor allem: es vergehen Jahre, in denen mir Niemand Musik macht, ich selbst eingerechnet. Das Letzte, was ich mir gründlich angeeignet habe, ist Bizet’s Carmen, — und nicht ohne viele, zum Theil ganz unerlaubte Hintergedanken über alle deutsche Musik (über welche ich beinahe so urtheile wie über alle deutsche Philosophie); außerdem die Musik eines unentdeckten Genies, welches den Süden liebt wie ich ihn liebe und zur Naivetät des Südens das Bedürfniß und die Gabe der Melodie hat. Der Verfall des melodischen Sinns, den ich bei jeder Berührung mit deutschen Musikern zu riechen glaube, die immer größere Aufmerksamkeit auf die einzelne Gebärde des Affekts (ich glaube, Sie heißen das „Phrase“, mein lieber Herr Doktor?), ebenfalls die immer größere Fertigkeit im Vortrage des Einzelnen, in den rhetorischen Kunstmitteln der Musik, in der Schauspieler-Kunst, den Moment so überzeugend wie möglich zu gestalten: das, scheint mir, verträgt sich nicht nur mit einander, es bedingt sich beinahe gegenseitig. Schlimm genug! man muß eben alles Gute in dieser Welt etwas zu theuer kaufen! Das Wagnerische Wort „unendliche Melodie“ drückt die Gefahr, den Verderb des Instinkts und den guten Glauben, das gute Gewissen dabei allerliebst aus. Die rhythmische Zweideutigkeit, so daß man nicht mehr weiß und wissen soll, ob etwas Schwanz oder Kopf ist, ist ohne allen Zweifel ein Kunstmittel, mit dem wunderbare Wirkungen erreicht werden können: der „Tristan“ ist reich daran —, als Symptom einer ganzen Kunst ist und bleibt sie trotzdem das Zeichen der Auflösung. Der Theil wird Herr über das Ganze, die Phrase über die Melodie, der Augenblick über die Zeit (auch das tempo), das Pathos über das Ethos (Charakter, Stil, oder wie es heißen soll —), schließlich auch der esprit über den „Sinn“. Verzeihung! was ich wahrzunehmen glaube, ist eine Veränderung der Perspektive: man sieht das Einzelne viel zu scharf, man sieht das Ganze viel zu stumpf, — und man hat den Willen zu dieser Optik in der Musik, vor Allem man hat das Talent dazu! Das aber ist décadence, ein Wort, das, wie sich unter uns von selbst versteht, nicht verwerfen, sondern nur bezeichnen soll. Ihr Riemann ist mir ein Zeichen davon, eben so wie Ihr Hanns von Bülow, ebenso wie Sie selbst, Sie als der feinsinnigste Interpret von Bedürfnissen und Veränderungen der anima musica, welche, Alles in Allem, zuletzt doch der beste Theil von dem sein mag, was die âme moderne ist. Ich drücke mich verdammt schlecht aus, zum Unterschiede von Ihnen; ich meine, es giebt auch an der décadence eine Unsumme des Anziehendsten, Werthvollsten, Neuesten, Verehrungswürdigsten, — unsre moderne Musik zum Beispiel, und wer nur nach der Art der drei eben Genannten ihr treuer und tapferer Apostel ist. Verzeihung, wenn ich noch hinzufüge: wovon ein Decadenz-Geschmack am entferntesten ist, das ist der große Stil: zu dem zum Beispiel der Palazzo Pitti gehört, aber nicht die neunte Symphonie. Der große Stil als die höchste Steigerung der Kunst der Melodie. —
Endlich ein Wort über eine ganz große theoretische Differenz zwischen uns, nämlich in Anbetracht der antiken Metrik. Freilich: ich darf heute kaum mehr über diese Dinge mitreden, — aber 1871 hätte ich’s gedurft, welches Jahr ich in der erschrecklichen Lektüre der griechischen und lateinischen Metriker verbracht habe, mit einem sehr wunderlichen Resultate. Damals fühlte ich mich als den abseits gestelltesten Metriker unter allen Philologen: denn ich demonstrirte meinen Schülern die ganze Entwicklung der Metrik von Bentley bis Westphal als Geschichte eines Grundirrthums. Damals wehrte ich mich mit Händen und Füßen dagegen, daß z. B. ein deutscher Hexameter irgend etwas Verwandtes mit einem griechischen sei. Was ich behauptete war, um bei diesem Beispiele zu bleiben, daß ein Grieche beim Vortrage eines homerischen Verses gar keine andern Accente als die Wortaccente angewendet habe, — daß der rhythmische Reiz exakt in den Zeitquantitäten und deren Verhältnissen gelegen habe, und nicht, wie beim deutschen Hexameter, im Hopsasa des Ictus: noch abgesehn davon, daß der deutsche Daktylus auch in der Zeitquantität grundverschieden vom griechischen und lateinischen ist. Denn wir sprechen „Pfingsten, das liebliche Fest, war gekommen, es grünten und blühten“ mit dem Gefühle von
, vielleicht sogar als Triolen, gewiß aber nicht zweitheilig-feierlich mit einer langen Silbe, welche die Dauer von zwei kurzen hat. Das Strengernehmen der Dauer einer Silbe war es eben, was in der antiken Welt den Vers von der Alltagsrede abhob: was bei uns Nordländern ganz und gar nicht der Fall ist. Es ist uns kaum möglich, eine rein quantitirende Rhythmik nachzufühlen, so sehr sind wir an die Affekt-Rhythmik des Stark und Schwach, des crescendo und diminuendo, gewöhnt. Von Bentley aber (der ist der große Neuerer, G. Hermann ist erst der Zweite), ebenso von den deutschen Dichtern, welche antike Metra nachzubilden glaubten, ist ganz unschuldig unsre Art rhythmischer Sinn als einzige und „ewige“ Art, als Rhythmik an sich, angesetzt worden: ungefähr wie wir allesammt geneigt sind, unsrer Humanitäts- und Mitgefühls-Moral als die Moral zu verstehen und sie in ältere, grundverschiedene Moralen hineinzu-interpretiren. Es ist ja kein Zweifel, daß unsre deutschen Dichter „in antiken Metren“ damit vielerlei rhythmische Reize in die Poesie gebracht haben, deren sie ermangelte (das Tiktak unsrer Reim-Poeten ist auf die Dauer fürchterlich): aber ein Alter hätte nichts von diesen Zaubern gehört, noch weniger aber geglaubt, dabei seine Metra zu hören. — Unter Franzosen versteht man die Möglichkeit einer allein zeit-quantitirenden Metrik schon leichter: sie fühlen die Zahl der Silben als Zeit. — Ecco, der längste Brief, den ich seit Jahren geschrieben: nehmen Sie ihn als solchen und auch in jedem andern Verstande als ein Zeichen dafür, daß auch ich „die Dankbarkeit“ nicht vergesse, mein werther Herr Doctor, der Sie mich nun schon zwei Mal mit ganz ausgesuchten Gerichten bewirthet haben. — Wo um alles in der Welt haben Sie Ihr Talent zum causer en litterature her? ist etwas französisches Blut in Ihren Adern? —
Schließlich ein Wort des Zorns gegen Ihren Verleger und Drucker. Wie! „Hefte“? Hefte, die nicht haften, die nicht geheftet sind! lucus a non lucendo! Halten Sie diesen Scherz einem alten Philologen zu Gute und bleiben Sie trotzdem wohlgesinnt
Ihrem ergebensten
Dr. Friedrich Nietzsche,
weiland Prof. der klassischen
Sprachen, insgleichen der Metrik.
Lesen Sie, ich bitte, ein Buch, das Wenige kennen, Augustinus de musica, um zu sehen, wie man damals Horazische Metren verstand und genoß, wie man dabei „taktirte“, welche Pausen man einschob u. s. w. (Arsis und Thesis sind bloße Taktirzeichen).
Meine Adresse ist, ein für alle Mal: Naumburg an der Saale. Von da aus wird mir Alles nachgeschickt. Ich selbst bin „unstät und flüchtig“ auf Erden — —
689. An C. Heymons (Carl Duncker’s Verlag) in Berlin
Nizza (France) rue St Françoise de Paule 26. 20. April 1886.
Geehrter Herr,
ein Wort zur Beantwortung Ihres gefälligen, aber leider verneinenden Briefs. Ich habe einen so guten Glauben an die Anziehungskraft und also auch and die Verkäuflichkeit meines neuen Buchs, daß ich Ihnen einen Vorschlag machen will, der eine starke Probe für diesen Glauben giebt. Sie würden mich bereit finden, auf Zahlung des Honorars bis zu dem Zeitpunkt zu warten, wo 600 Exemplare verkauft sind.
Im Übrigen alle Bedingungen, welche ich zuletzt machte, aufrechterhaltend.
Hochachtungsvoll der Ihrige
Professor Dr. Nietzsche.
690. An Heinrich Köselitz in Annaberg
<Nizza,> Mittwoch der Charwoche <21. April> 1886
Lieber Freund,
immer noch aus Nizza! Im entscheidenden Zeitpunkte, wo ich nach Venedig fort wollte, schlug das Wetter um, und eine Art Verhärtung und Verwinterlichung hat bis jetzt Stand gehalten: so daß ich erst Ende Monats davon fliegen will. Wohin? selbst das ist nicht gewiß. Bei weitem am liebsten nach Venedig: doch ist der Gesundheits-Stand daselbst fragwürdig genug, und fast scheint es, daß Einer, der sich dorthin begiebt, sich nicht nur in eine Gefahr, sondern, was das Unangenehmere ist, in eine Quarantaine hineinstürzt. Bis heute ist letztere zwar nur für die Seeseite (und fürs ganze Adriatico) erklärt: es könnte aber bald genug kommen, daß man sich auch von der Landseite aus, z. B. von Mailand gegen Padua und Venedig sicher stellte: kurz, daß man mir den Rückweg in die Schweiz verbaute. — Trotzdem: ich glaube eigentlich daran, daß ich im entscheidenden Momente doch noch dorthin schlüpfe, — zuletzt hat man nicht zu viel Dinge lieb, und darunter ist, bei mir wenigstens, eine einzige Stadt.
Freilich: Venedig ohne Ihre Musik, lieber Freund! Es schmerzt mich durch und durch, wenn ich daran denke; Sie können nicht glauben, welche Wohlthat Sie mir seit Recoaro, Jahr für Jahr, erwiesen haben, und wie Nichts im Grunde mir diese Erleichterung gegeben hat, die meine Schwere und Schwermüthigkeit so nöthig hat —, als Ihre Kunst. Auch bleibe ich dabei, daß ich in Bezug auf Ihre Musik Recht habe: und nicht Herr Mottl, — dessen Urtheil ich mir zwar psychologisch zurechterklären kann, nimmermehr aber aneignen will! Einstweilen ist es die Wagnerei, die Ihnen im Wege steht; auch die deutsche Vergröberung und Vertölpelung, die seit dem „Reiche“ wächst und wächst. Wir müssen auf Mittel und Wege denken, uns zur Wehre zu setzen, daß man Sie und mich nicht mundtodt macht. Verzeihung, daß ich „mich“ dazwischen menge: aber die negativen Briefe deutscher Verleger geben mir den Eindruck, daß es jetzt bei mir so steht wie bei Ihnen, daß wir still unsre „Partituren“ in den Schrank legen. —
Und eine neue machen? Nicht wahr? Ich freue mich unbändig über Ihre korsische Dichter-Tapferkeit. Für die mitgetheilten kräftigen Verse tantissime grazie!
Was mein Manuscript angeht: so schwebt noch eine Verhandlung mit dem Berliner Verleger C. Heymons (d. h. Carl Duncker’s Verlag). Gesetzt, es wird auch da nichts ausgerichtet, nun, so hat es seine gute Seite für mich. Denn es ist ein erschreckliches Buch, das dies Mal mir aus der Seele geflossen ist, — sehr schwarz, beinahe Tintenfisch. Mir ist zu Muthe, als hätte ich irgend etwas „bei den Hörnern“ gepackt: ganz gewiß ist es kein „Stier“. — —
Wenn Sie einmal an Ihre trefflichen Leute nach Venedig schreiben: bitte, geben Sie ihnen zu verstehen, daß mir an zwei Dingen viel gelegen sei. Erstens, daß der Boden des Zimmers mit einem Teppich belegt werde: ich erkälte mich so leicht. Und dann: ein großer bequemer, gelehrter Lehnstuhl (in Frankreich sagt man für dies Möbel verständnißvoll „un Voltaire“). Eventuell kann man dergleichen miethen: natürlich auf meine Unkosten. —
Ihr Anerbieten, mir wieder bei der Correktur helfen zu wollen, ist herrlich. Geht Alles gut, so giebt es bei einander: Venedig, Druckbogen und Gondelei oder Spazierengehn an den Fondamenta nuove. Ich habe gerade sehr die Erholung und Stille nöthig. —
Ihnen und Ihren verehrten Eltern meine angelegentlichsten Grüße und Wünsche ausrichtend
Ihr
alter Freund
N.
691. An Franz Overbeck in Basel (Postkarte)
<Nizza, 25. April 1886>
Lieber Freund, immer noch in Nizza, wo mich die plötzliche Verhärtung und Verwinterlichung des Clima’s warten hieß: hinzugerechnet die schlechten Nachrichten über den Gesundheitsstand in Venedig. Ich bedarf der Erholung, wie lange nicht; es fehlt mir an Menschen, die sie mir schaffen könnten. Die Augen, Tag und Nacht schmerzhaft, verbieten Lesen und Schreiben. Das Letzte, was ich las, war Dr. Fuchsens Buch („Heft“? — lucus a non lucendo —) „rasend“ interessant und fein, ob ich schon mit allem Fundamentalen nicht einverstanden bin. Auch habe ich ihm gedankt. Rohde hat geschrieben, sehr bewegt über sein Fortgehn von Tübingen: wünscht mich diesen Mai in Leipzig zu finden, ebenso wie meine Mutter. Wir sind durch die letzten Nachrichten von meiner Schwester wieder besorgter, es scheint, daß sie das heiße Clima schlecht aushält. Ihr erster Brief, mitten aus dem Meere, Nähe der Cap Verdeschen Inseln, war heiter, ausgezeichnete Fahrt und Gesellschaft. Eine Schwester Deussens will hin. Eine hiesige Fabrik hat meine Fürsprache gesucht für Importe nach Paraguay: was mir très ridicule vorkam. — Was für ein schlechter Winter! —
Dein Freund
N.
692. An Franziska Nietzsche in Naumburg
<Nizza, 28. April 1886>
Meine liebe Mutter,
drei Worte, vor allem des Dankes für Deinen guten Brief. Unsre Sorgen sind gemeinsam, im Grunde glaube ich, daß wir allesammt nicht für ein heißes Clima gemacht sind. Abgesehn von allen leiblichen Consequenzen ruinirt es den Muth und die Kraft des Willens: deshalb geht Dein krankes Thier in so kalte Sommerfrischen, die einem milden Nizzaer Januar zum Verwechseln ähnlich sind: — ich meine, weil unsereins viel Muth und Willenskraft nöthig hat.
Die letzte Zeit war sehr hart und schlecht für mich, eigentlich eine Tortur, bei der Alles, was sonst wohl thut, einem schwer fällt. Ärger über meine Verleger voran: es ist nichts mit Credner (obwohl ich heute noch einen letzten indirekten Versuch vermittelst eines Briefes an Heinze gemacht habe); es ist auch mit den andern Verlegern nichts, an die ich mich gewendet habe. Dies ist schlimm, in vielfachem Betracht; eine der Folgen die ich nur Deinethalb berühre, ist, daß mir die bestimmt erwartete Geldzuschuß-Summe für dies Jahr abgeht, — auf diese hin hatte ich ja die Reise zu Dir projektirt! Nun, warten wir ab, was wird.
Übermorgen gehe ich nach Venedig, will sehr still herumgehen und mich von der großen Angegriffenheit so gut es geht erholen. Vielleicht wohne ich im alten Zimmerchen des guten Köselitz (in Bezug auf welchen ich auch aus Deutschland eine neue abschlägige Antwort zu verzeichnen habe, vom Carlsruher Hofkapellmeister: es hat mich stark mitgenommen, weil ich hier gerade gewonnenes Spiel zu haben glaubte.
Meine Adresse ist zunächst:
Venezia (Italia)
poste restante
Andre Jahre, nicht wahr? machen wir ein kleines Rencontre auf halbem Wege; es scheint mir mit meinen Finanzen absolut unverträglich zu sein, eine Reise nach Naumburg hin und zurück auf mein Jahres-Budget zu setzen. Noch abgesehn von der Gesundheit: denn Du kannst nicht glauben, welche Überwindung ich wieder im vorigen Herbst nöthig hatte, um mir nicht die Melancholie eines Leidenden allzusehr anmerken zu lassen.
In herzlicher Liebe Dein Sohn
692a. An Sophie Vischer-Heusler in Basel (Entwurf)
<Nizza, vermutlich 28. April 1886>
Noch von meinem letzten Besuche in Basel, wo ich einen Vormittag in Ihrem Hause war (Sie selbst waren verreist) habe ich den Eindruck von dem tiefen Vertrauen zurückbehalten, welches wir, ich darf es wohl sagen, zu einander hatten.
Darf ich hinzufügen, daß es mir persönlich scheint als ob <ein> Stück meines eignen Leben<s> mit ihm zu Grabe getragen sei: er gehörte unter die M<enschen>, welchen ich viel Vertrauen und Entgegenkommen zu danken habe, in einem Lebensalter, wo man durchaus noch keinen Anspruch auf Beides zu erheben hat.
welche mich verpflichtet, Ihnen ein Zeichen meiner Trauer und meines tiefen Mitgefühls zu geben. Es werden selten Männer so betrauert wie Ihr ausgezeichneter Gemahl betrauert wird: von M<enschen> der verschiedensten Denkweisen und Bestrebungen, die aber alle einmüthig in dem Wunsche sind, einmal einen Nachruhm, wie er ihn hat, zu hinterlassen, als treue, wohlwollend-wohlthätige und unermüdliche Freunde alles Guten und Gerechten.
In meinem nächsten Briefe will ich meiner Schwester von Ihrem großen Leide Nachricht geben: über das Meer, wie Sie wissen werden.
693. An Sophie Vischer-Heusler in Basel
Nizza, den 28. April 1886.
Liebe verehrte Frau Professor,
über Naumburg kommt diese außerordentlich schmerzhafte und überraschende Mittheilung zu mir, welche mich verpflichtet, auch meinerseits Ihnen ein Zeichen meiner Trauer und meines tiefen Mitgefühls zu geben. Es werden selten Männer so betrauert, wie Ihr ausgezeichneter Gemahl betrauert wird: von Menschen der verschiedensten Denkweisen und Bestrebungen, die aber alle einmüthig in dem Wunsche sind, einen Nachruhm, wie er ihn hat, zu hinterlassen, als treue, uneigennützige, wohlwollend-wohlthätige und unermüdliche Freunde alles Guten und Gerechten. Darf ich hinzufügen, daß mir persönlich ein Stück Leben und Vergangenheit mit ihm zu Grabe getragen wird, an welches ich gerne und mit vieler Dankbarkeit zurückzudenken habe: er gehörte zu den trefflichen Basler Collegen, die mir, in einer Lebenszeit, wo man noch wenig Anspruch auf Vertrauen machen darf und sich im Grunde erst zu „beweisen“ hat, mit einem unbedingten Vertrauen und hülfreich in Rath und That entgegengekommen sind, nach dem Vorbilde seines verehrungswürdigen und mir unvergeßlich theuren Vaters. Noch von meinem letzten Besuche, den ich ihm in Basel machte (vor zwei Jahren, Sie selbst waren verreist —) habe ich den Eindruck jenes tiefen Vertrauens zurückbehalten, welches wir, ich darf es wohl sagen, zu einander hatten.
In meinem nächsten Briefe will ich meiner Schwester von Ihrem großen Verluste Mittheilung machen, verehrte Frau Professor (über das Meer, Sie wissen ohne Zweifel von ihrer Übersiedelung nach Paraguay?); und ich weiß, daß sie mit Ihnen und mit mir auf das Schmerzlichste davon getroffen sein wird. Wenn ich selbst in diesem Jahre über Basel kommen sollte, werde ich mir die Freiheit nehmen, Ihnen mündlich zu wiederholen, was ich hier geschrieben habe,
als Ihr hochachtungsvoll
ergebener und sehr
betrübter Freund
Professor Dr. Nietzsche.
694. An Franz Overbeck in Basel (Postkarte)
<Venedig, 1. Mai 1886>
Gestern Abend bin ich in Venedig eingetroffen, nach ein paar Wochen peinlicher Ungewißheit: deren Zeugniß auch eine Karte an Dich gewesen ist, lieber Freund. — Meine Verleger-Verhandlungen sind allesammt bisher gescheitert, unter nicht uninteressanten Umständen; einen letzten Versuch wird Heinze machen, — aber es steht hier wie mit Mottl’s Negativum: alle diese Herrn wollten gar zu gern, aber sie dürfen nicht. (Die öffentliche Meinung als Gewissen — ) Ich sitze im Neste des ausgeflogenen Singevogels: Adresse San Canciano calle nuova 5256.
695. An Heinrich Köselitz in Annaberg (Postkarte)
<Venedig, 7. Mai 1886>
Lieber Freund, ich sitze hier in Ihrem Neste, ohne Sie, den ausgeflogenen Singevogel, irgendwie zu repräsentiren. Denn es geht mir nicht gut, meine Augen torturiren mich Tag und Nacht. Das Wetter ist glänzend klar und frisch, aber — ich darf nichts sehen, und Alles thut mir weh.
In summa: ich reise nächster Tage ab, über München nach Naumburg, um mich in einen Wald zu verstecken. Meine Adresse also Naumburg a.d.Saale: — auch für den Fall von Correkturbogen…
Ihre Leute hierselbst sind ausgezeichnet; es scheint mir, daß im Winter (wo das Licht nicht so intensiv ist) sich gut hier wohnen ließe.
Unter einem Concertprogramm las ich als Dirigenten Edoardo Sassone, warum nicht Enrico? — —
696. An Max Heinze in Leipzig (Entwurf)
<Venedig, 7. Mai 1886>
tantissime grazie für die ganze Bemühung! Zuletzt glaube ich, daß es klug ist, Herrn Credner für dies Mal zu acceptiren quand même, — ich möchte gerade diesem Buche nicht durch einen schlechten Verleger-Namen geschadet wissen.
Geben Sie ihm also, wenn ich bitten darf, das Ms., zugleich mit beifolgendem Blatte, das meine Wünsche für die Druckerei enthält
Ich bin krank, ohne Gesellschaft, Tags und Nachts augenleidend: der letzte Punkt ist es, der mir widerräth in Venedig zu bleiben (wo es blendend klar, aber sehr frisch, beinahe kalt ist)
Auf Wiedersehn also in Leipzig oder — Tautenburg! —
697. An Hermann Credner in Leipzig (Entwurf)
<Venedig, 7. Mai 1886>
Um sofortige In-Angriffnahme des Drucks gebeten. Wöchentlich 3—4 Bogen.
Tiefes Schwarz, mir in H<insicht> auf meine l<eidenden> Augen dringend erwünscht.
Die letzte Correktur wird von mir und Hr. K<öselitz> besorgt: so daß zu gleicher Zeit 2 Abzüge an H. K<öselitz> und 1 Abzug an mich abgehn. Unsere beiden Adressen folgen anbei Zu Händen des Herrn Druckerei-Besitzers.
698. An Franziska Nietzsche in Naumburg (Postkarte)
<Venedig, 7. Mai 1886>
Meine liebe Mutter, es geht nicht gut. Es ist in Venedig für mich nicht auszuhalten. Die Augen sind zu schmerzhaft — und es fehlt mir an Zerstreuung. Kurz, ich will dieser Tage zu Dir hin abreisen, höchstens daß ich mich in München ein wenig verzögere. —
Mit Credner wird es noch etwas, wenigstens scheint es augenblicklich so. —
Dies Mal hat Dein Sohn es recht nöthig, sich pflegen zu lassen.
In Liebe Dein F.
699. An Irene von Seydlitz in München
Venezia, San Canciano calle nuova 5256 7 Mai 1886.
Verehrte Freundin,
nichts konnte liebenswürdiger sein als die Intention Ihres Briefes an mich, — der mich aufforderte, an mich selbst zu denken. Aber gerade das geht, wie es scheint, über meine Kräfte, Dank einer lebenslänglichen Verwöhnung: es gab in diesem Winter so viel Anderes zu denken, es lag so viel Anderes und lauter so Schweres auf mir, daß ich nicht einmal Zeit hatte, an mich zu denken, wozu Ihre Zeilen in der That die freundschaftlichste Aufforderung enthielten. Nehmen Sie das alles wörtlich, so verrückt es auch klingen mag. Aber ein Mensch wie ich ist in sein Problem — in seine „Aufgabe“, sagt man wohl? — gespannt wie in ein schönes alterthümliches Folterwerkzeug: hat man’s wieder einmal „überstanden“, nun, so ist man doch für eine längere Zeit kaput. Zum Beispiel jetzt: ein Manuscript mit dem bösartigen Titel „Jenseits von Gut und Böse“ ist das eine Resultat des Winters; das andre — liegt hier in Venedig, ich selber, jenseits vielleicht von Gut und Böse, aber nicht von Ekel, Langeweile, malinchonia und Augenschmerzen. —
Diesen Winter sah ich öfter einmal den Namen meines Freundes Seydlitz in der Neuen freien Presse oder anderswo — sehr siegreich, wie mir schien? — Ich glaube von einem Auftrage für Bologna gelesen zu haben? Dies gab mir die Vorstellung, als ob Sie miteinander vielleicht südliche Pläne planten. Und darf ich wissen, wo Sie sich vor der großen Hitze verstecken wollen? — Zuletzt bitte ich, nicht erstaunt zu sein, mich plötzlich einmal in München auftauchen zu sehn. „Durchreisendamente“, um italiänisch zu sprechen. Dies Jahr muß ich meiner Mutter etwas zu Hülfe kommen, daß sie den Verlust ihres andren Kindes nicht gar zu schwer trägt. — Übrigens sind die Nachrichten gut, die Seefahrt war glänzend. —
Seien wir guter Dinge! (Erste Bedingung des ewig-Weiblichen nach meiner façon: lachen-können, im Kopfe lauter dummes Zeug.)
Dankbar und ergeben
Ihr
Fridericus Nux Crux
Lux Dux etc.
700. An Franziska Nietzsche in Naumburg (Postkarte)
<München,> Dienstag den 11ten Mai. <1886>
Meine liebe Mutter, gesetzt, daß die Gesundheit nichts dazwischen redet, will ich heute Nachmittag 1/2 6 von hier (München) mit dem Schnellzuge zu Dir mich auf den Weg machen. Das heißt: ich komme morgen ganz früh nach Leipzig (3 Uhr 53) und werde mit dem ersten Zuge nach Naumburg weiterreisen. Daß Du an der Bahn bist, möchte ich ganz und gar nicht: es ist viel zu früh und unbequem für Dich.
In Liebe Dein F.
Nein! Ich komme erst Donnerstag früh.
701. An Albert Erlecke in Chemnitz (Entwurf)
<Naumburg, kurz nach dem 18. Mai 1886>
Geehrter Herr, ich bedaure, daß eine so rasche Erledigung Ihres Wunsches, wie Sie ihn durch Ihr Telegramm ausdrückten, ganz außerhalb der Möglichkeit lag. Mein Banquier verlangte vor Allem etwas über Sie und Ihre Verhältnisse in Erfahrung zu bringen; aus Ihrem Briefe war in Hinsicht auf ausreichende Bürgschaft und Sicherstellung des verlangten Geldes nichts zu entnehmen.
Ein früherer Brief, auf welchen Sie verweisen und der vielleicht darüber Mittheilungen enthielt, ist bedauerlicher Weise nicht in meine Hände gekommen. — So weit ich die Lage aus der Ferne beurtheilen kann, ist Herr Schmeitzner jetzt sehr gedrängt, seinen Verlag zu verkaufen: es ist wahrscheinlich, daß er Ihnen denselben auch noch zu einem geringeren Preise anbieten wird.
702. An Hermann Credner in Leipzig (Entwurf)
<vermutlich: Naumburg, kurz vor dem 25. Mai 1886>
Aber was sind sie für ein Mensch! Keine Antwort auf meine Briefe, nicht einmal der Empfang des Ms. wurde mir angezeigt, die Bedingung, die ich stellte (daß der Druck sofort beginne, — — —
Ich habe keinen Geschmack für bummlige Geschäftsleute, noch weniger für unhöfliche.
Sie machen es mir unmöglich, mit Ihnen weiter zu verkehren: und ich will froh sein, wenn ich — — —
703. An Hermann Credner in Leipzig (Entwurf)
<Naumburg, vermutlich 25. Mai 1886>
Ich bedaure, Ihnen erklären zu müssen, daß mir fürderhin mit Ihnen geschäftlich zu verkehren unmöglich ist. Sie haben mir auf meinen Brief aus Nizza <nicht geantwortet> und sich nicht einmal, wie ich es durch Hofrath H<einze> Ihnen zu verstehen gab, für dieses Versäumniß zu entschuldigen gewußt. Sie haben den Empfang des M<anuskripts> mir weder angezeigt noch die Bedingung, unter welcher ich dasselbe in Ihre Hände gab (sofortige und schleunigste Erledigung des Drucks) erfüllt. Endlich: Sie schweigen selbst auf mein dringliches Telegramm vom Sonntag: Gründe genug für mich, um hier ein Ende zu machen und anders über mein Ms. zu verfügen: Senden Sie dasselbe, wenn ich bitten darf, mit der nächsten Postgelegenheit nach Naumburg.
704. An Elisabeth Förster in Asuncion
Naumburg 31 Mai 1886.
Mein liebes Lama,
Alles, fast Alles, was Du mir gemeldet hast, klingt muthig und lustig: so daß ich meine Geburtstagswünsche dies Mal sehr abkürzen kann (wozu mich andererseits die Augen zwingen), — bleibe so, wie Du bist, muthig und lustig, und „laß Dich nicht aus der Fassung bringen“! Letzteres nämlich ist unsre Devise hierselbst, welche ich jeden Tag unsrer Mutter einige Dutzend Male bei möglichen oder unmöglichen Anlässen zurufe oder mir zurufen lasse. Wozu, wie Dir wohl schon mitgetheilt worden ist, in meinem Falle reichlich Anlaß vorhanden ist. Die Verlegernoth dauert nunmehr schon 3 Monate und ist auf dieselbe kostspielige, aber freiherrliche Manier endlich von mir abgeschüttelt worden, wie voriges Jahr. Von Venedig bin ich noch zur rechten Zeit losgekommen, inzwischen ist die Cholera dort in Blüthe getreten, und durch Land- und See-Quarantänen umzingelt. Wir hatten einen Hundtag-Hitz-Anfall im Mai, der mir wieder zu verstehen gab, wie es Dir wohl zu Muthe sein mag: aber es scheint mir, daß Du leichter Hitze erträgst als ich, — und wahrscheinlich ist Eure Luft nicht so dicklicht wie die Naumburger. Von Seydlitzens gute und liebevolle Briefe; zuletzt aus Berlin, wo der Japonisme triumphiren soll. Rohde habe ich in Leipzig im Colleg gehört: auch da aber sagte ich mir schließlich „ich tausche heute mit Niemandem mehr“. — Und Leipzig ist keine Zufluchts- und Ausruhestätte für mich, — so viel ist klar. Eher schon München: obwohl es erst zu probiren ist. — Um Nizza und Sils-Maria werde ich nicht herumkommen: die Zwischenakte, wo mir vor Allem menschlicher Verkehr noththut, als Kur, müssen noch erfunden werden.
So viel von mir, mein liebes liebes Lama! Deine Mittheilungen über alte Freunde, die den artigen Umweg über Paraguay gemacht haben, waren sehr dankenswerth. Ich denke, daß der tägliche Morgen-Genuß von Maté, welchem ich mich hier ergeben habe, ein gutes Anzeichen dafür ist, wie viel ich an Dich gedacht, auch wie gern ich von Dir gehört habe. Meinem trefflichen Schwager die wärmsten Grüße: ein Briefchen an ihn von Nizza aus wird schwerlich angelangt sein?
In getreuer Bruderliebe
Dein F.
705. An Constantin Georg Naumann in Leipzig
Naumburg a/Saale 3 Juni 1886.
Geehrter Herr,
besten Dank für die übersandte Berechnung: ich gestehe, daß ich gehofft hatte, Sie würden einen noch geringeren Kostenpreis herausrechnen. Mit dem Papier bin ich einverstanden: es gefällt mir. —
Zuletzt bitte ich Sie angelegentlich, den Druck, so sehr es nur angeht, zu beschleunigen und jede Woche mindestens 3 Bogen fertig zu stellen. Den Grund sagte ich Ihnen schon: ich möchte nicht den Sommer verlieren, der zu einer größeren Ausarbeitung bestimmt ist, — vor der Beendigung des Drucks fehlt mir jene Freiheit und Unbekümmertheit, welche ein ganz neuer Gedankenkreis für sich in Anspruch nimmt. Alle produktiven Menschen haben es eilig.
Mit dem Ausdrucke persönlichen Vertrauens
Ihr
ergebenster
Prof. Dr. Nietzsche
706. An Heinrich Köselitz in Annaberg (Telegramm)
Leipzig, 5. Juni 1886.
Zusammenkunft sehr erwünscht. Vielleicht für eine Woche? Auenstraße 48 2.
Nietzsche
707. An Paul Heinrich Widemann in Bernsdorf (Postkarte)
Leipzig, 7. Juni 1886.
Werther Freund, es wäre schön, wenn ich Sie hier in Leipzig zu sehen bekäme: ich bleibe noch bis Ende der Woche. Meine Wohnung ist Auenstrasse 48, 2. Etage rechts. Herr Köselitz ist gleichfalls hier, seit Sonntag. — Und wer weiß, wann eine solche gute Gelegenheit sich wieder anbietet! — Kommen Sie, wenn es irgend angeht!
Mit herzlichem Gruß und Wunsch
Ihr Nietzsche
708. An Constantin Georg Naumann in Leipzig
<Leipzig, 13. Juni 1886>
Das unnumerirte, mit drei Sternen bezeichnete Stück, welches jetzt den Anfang vom vierten Hauptstück macht („Ach, was seid ihr doch etc.“) soll von dieser Stelle weg und an das Ende des neunten Hauptstücks gerückt werden d. h. an den Schluß des Buches. Dort bekommt es die letzte Nummer und verliert seine Sternchen
Prof. Nietzsche.
Von jetzt ab die Correctur wieder wie zuerst für Herrn Köselitz nach Annaberg (Erzgebirge)
für mich Naumburg a/Saale.
709. An Constantin Georg Naumann in Leipzig (Postkarte)
<Leipzig,> Montag den 14. Juni 1886.
Geehrtester Herr, entgegen meiner gestrigen Mittheilung will ich heute melden, daß ich noch diese Woche hier in Leipzig bleibe, desgleichen Herr Köselitz.
Hochachtungsvollst
Prof Dr Nietzsche.
710. An Arthur Nikisch in Leipzig (Entwurf)
<Leipzig, Mitte Juni 1886>
H<einrich> K<öselitz>, derselbe Componist, der vor 4 Jahren Ihnen sein Erstlingswerk „Scherz List und Rache“ vorlegte, bittet durch mich um die Erlaubniß, Ihnen seine zweite, wie er hofft, aufführbarere und in jeder B<eziehung> reifere Oper der Löwe von V<enedig> (fertig in Partitur und Klavierauszug) zusenden zu dürfen. Er legt großen Werth darauf, sein Werk in der Hand eines jener seltnen Interpreten zu wissen, welcher ein Herz auch für die heitere, südländische, mozartische Welt der Töne hat.
Er glaubt, Ihnen für die entschiedene Kritik, welche Sie damals hinsichtlich seiner Instrumentation übten, sehr dankbar sein zu müssen: hoffen wir, daß er sie sich gründlich zunutze gemacht hat! Ich selbst, wenn es erlaubt ist, das hinzuzufügen, lege den größten Werth darauf, dieses neue frohmüthige, selbst ausgelassene Werk — — —. Die Ouvertüre desselben ist 1885 mit ausgezeichnetem Erfolg in Zürich (in einem Tonhallen-Concert) aufgeführt worden.
711. An Franz Overbeck in Basel
Leipzig 20. Juni 1886.
Lieber Freund,
ein paar Worte aus Leipzig, als späten Dank für Deinen Brief, der mich in Venedig erreichte. Es war gut, daß ich diesem Cholera-Neste entschlüpft bin, so unangenehm die Veranlassungen dazu waren. Es gäbe Viel zu erzählen, — aber schreiben? Nein! Es steht gar zu schlecht mit den Augen. Schmeitzner, wie ich gerade zur rechten Zeit erfuhr, gedachte mir einen schlimmen Streich zu spielen, nämlich meine ganze Litteratur an eine der schmutzigsten und anstößigsten Figuren des sächsischen Buchhandels zu verkaufen (der Betreffende ist mehrfach wegen Vertriebs obscöner Schriften bestraft, auch Socialdemokrat, anerkannt käuflich usw.) Mein Versuch, hier dazwischen zu treten, hat zum Mindesten die Sache etwas verschoben und hinausgeschoben. Ein Leipziger Verleger (nicht der völlig unzuverlässige und launenhafte Credner) verhandelt jetzt mit Schm<eitzner> über den Ankauf meiner Schriften (d. h. der Rest-Exemplare) — aber der unverschämte Schm<eitzner>, (der einen Begriff von meiner Nothlage hat und sie zu seinen Gunsten ausnützt) verlangt den unverschämten Preis von 12 000 Mark. —
Einen neuen Verleger für etwas Neues habe ich nicht aufzufinden vermocht: eine Menge peinlicher Erfahrungen in diesem Capitel hat mich zur Resignation gebracht. Im Grunde hat es mich fast ein halbes Jahr gekostet, dies Suchen, Warten und Enttäuschtwerden. Meine Schriften, sagte man mir in Leipzig, seien „Zukunftsmusik:“ was ich mir ad notam genommen habe. —
Sodann wurde nöthig, für Herrn Köselitz etwas zu thun, da, seitdem er selbst für sein Werk sich bemüht hat, Alles stecken geblieben ist. Hier in Leipzig habe ich wenigstens Eins erreicht — eine Privataufführung im Gewandhause vom letzten Werke K<öselitzen>’s (dem Septett) mit lauter ausgezeichneten Künstlern, den ersten Kräften des Gewandhaus-Orchesters. Der Erfolg war belehrend, wenn auch nicht angenehm — die Musik klang nicht gut, viel zu dick; ich meine, es ist die höchste Zeit, daß K<öselitz> in einer eigentlichen Musikstadt zu leben sich entschließt, um in Betreff der Orchestration zu hören und zu lernen. In Betreff der Oper verhandle ich eben mit Nikisch (ohne viel Hoffnung zu haben.) K<öselitz> brachte mir den fertigen Text der korsischen Oper mit („Marianna“ heißt sie) den er in Annaberg gedichtet hat. Doch war ich nicht im Stande, denselben zu billigen; so sehr der Muth anzuerkennen ist, mit dem er die Aufgabe gefaßt hat. Ein Jahr später wird er’s besser machen. —
Herr Widemann hat mich hier besucht: das ist ein tüchtiger achtbarer und feiner Mensch, obschon mir seine Philosophie einstweilen noch gründlich anfängerhaft vorkommt. Aber es ist etwas, so anzufangen. —
Aber Rohde! Ich fand ihn in der wunderlichsten Klemme, außer sich über die Dummheit, Tübingen verlassen zu haben und tief im Widerspruch mit Leipzig: so daß sein Entschluß, sich nach Heidelberg berufen zu lassen (was inzwischen formaliter geschehn ist) schließlich räsonabel war, faute de plus raisonable. Dies unter uns: obwohl ich glaube, daß heute das Definitivum der Sache da ist (die Rückantwort des sächsischen Ministers). — Die baierische Tragödie hat mich tief erschüttert, ich weiß etwas zu viel von ihren Voraussetzungen. —
In München gab es ein paar prächtige Stunden bei Deinen Verwandten. Der Sommer wahrscheinlich in Sils-Maria. In Kürze eine Karte darüber.
In alter Liebe Dein
Nietzsche.
712. An Heinrich Köselitz in Annaberg (Postkarte)
Montag. <Leipzig, 21. Juni 1886>
Lieber Freund, bitte, die Bogen immer noch hierher (Leipzig, Auenstraße 48 II) zu senden. Wenigstens diese Woche will ich noch bleiben, da das Wetter zu frisch ist, um ins Gebirg zu gehn. Können Sie nicht über Reitzenhain etwas erkundschaften? Wie die Ernährung sei? Ob Wald unmittelbar dabei? Was für Wege? Wo die Unterkunft am rathsamsten?
Für unser Zusammensein Ihnen meinen herzlichsten Dank aussprechend
Ihr Freund Nietzsche.
Gesundheit erst heute sich zum Bessern wendend.
— Vergessen Sie, bitte, das Clavier-Arrangement nicht: „durch diese Pforte muß er kommen“, nämlich der Erfolg.
713. An Franziska Nietzsche in Naumburg (Postkarte)
<Leipzig, 21. Juni 1886>
Meine liebe Mutter, es ist immer noch zu frisch, um ins Gebirge zu gehn. Diese Woche bleibe ich wohl noch hier. Was ankommt, bitte, umgehend hierher senden! — Freitag war die Musikaufführung im Gewandhaus. Sonnabend und Sonntag war ich heftig krank. Heute besser. Hr. K<öselitz> ist abgereist. Dankbar unsres letzten Zusammenseins eingedenk!
Dein Sohn.
Schm<eitzner> will 12000 M. für meine Bücher: das ist Herrn Fr<itzsch> zu viel. — Schm<eitzner> war zu diesem Zwecke schleunigst hierher gereist.
714. An Heinrich Köselitz in Annaberg (Postkarte)
<Leipzig, 16. Juni 1886>
Lieber Freund, schönsten Dank für Ihre Auskunft: der Prospect (den ich alsbald zurücksende, zusammen mit einem sehr lesenswürdigen Stück Alfieri’s) belehrte mich ausreichend und ersparte mir die Reise (— es ist dort zu theuer für mich —).
Morgen Abend will ich fort nach Sils-Maria! Den nächsten Bogen (den zehnten — der heute Abend abgeht) erbitte ich mir nach Chur (Schweiz) poste restante.
Bei Fritzsch ist Ihr Csardàs angelangt.
Leben Sie wohl, nämlich heiter und tapfer, als alter Ritter des gai saber und empfehlen Sie mich Ihren verehrten Eltern.
Ihr Freund N.
Rohde zum Geheimen Hofrath ernannt. —
715. An Franziska Nietzsche in Naumburg (Postkarte)
<Leipzig, 26. Juni 1886>
Meine liebe Mutter, darf ich Dich bitten, morgen (Sonntag) hierher zu kommen und mir die Abreise zu erleichtern? Auch den Koffer mitzubringen, gepackt und geschnürt? Insgleichen ein Nachthemd (denn seit 3 Wochen habe ich immer noch dieselben schrecklichen Sträflings-Hemden) Es versteht sich, daß Deine Reisekosten Dir nicht zur Last fallen dürfen!
Ich werde Dich auf der Bahn empfangen, (c. 11 Uhr) und wir essen dann im Panorama.
In herzlicher Liebe Dein
Sohn.
Auch den kleinen Litteratur-Kalender von 1885 mitbringen! Im Cabinet auf dem Bücherbrett liegend, so viel ich mich erinnere — ein kleines Büchlein, vorne das Bild Gottfried Kellers.
716. An Franz Overbeck in Basel (Postkarte)
Rorschach, Montag Nachmittag. <28. Juni 1886>
Lieber Freund, übermorgen hoffe ich in Sils-Maria zu sein. Habe die alte Gewogenheit, mir dahin das Geld zu senden, in der alten Form.
In alter Treue
Dein Fr. Nietzsche.
717. An Franziska Nietzsche in Naumburg (Postkarte)
<Chur, 29. Juni 1886>
Meine liebe gute Mutter,
in Chur bin ich angekommen, wie billig, nach der ungeheuren Anstrengung, krank. Auch jetzt noch Kopfschmerz. Doch habe ich schon einen wundervollen langen Waldspaziergang in stärkender Gebirgsluft gemacht. Die Reise war trefflich in Scene gesetzt: ich kann Dir nicht genug für Deine Gegenwart und Hülfe dabei danken. Im Grunde war es so ganz in Ordnung, daß ich zu Dir kam, für diesen Frühling. Aber ein anderes Mal müssen wir’s umgekehrt verabreden, nicht wahr? meine liebe liebe Mutter!
Mit dem herzlichsten Danke
Dein F.
Adresse: Sils-Maria, Oberengadin, Schweiz.
718. An Ernst Wilhelm Fritzsch in Leipzig
Sils-Maria, Oberengadin, Schweiz Montag 5. Juli 1886.
Lieber und werther Herr,
es versteht sich von selbst, daß ich gegen alle Annäherungs-Versuche des Schm<eitzner> unzugänglich bin: er hat mir beifolgenden Brief geschickt, insgleichen ein Telegram<m> desselben Inhalts. Wie er auf den absurden Gedanken gekommen ist, daß ich selbst meine Bücher zurückkaufen soll, weiß ich nicht: was er von einem Angebot von 1000 M. Ihnen gesagt hat, ist vollständig erdichtet. — Bis jetzt habe ich natürlich geschwiegen: falls Sie es wünschen sollten, daß ich ihm es noch einmal schriftlich gebe, wie ungereimt sein Vorschlag mir vorkommt, so stehe ich Ihnen damit zu Diensten. —
Im vorigen Herbst hatte ich in der Voraussetzung, daß es nur noch einen ganz kleinen Rest von „Menschl<iches> Allzumenschl<iches>“ gebe, bei ihm angefragt, was er dafür wolle. Darauf erfuhr ich die erhebliche Zahl der vorhandenen Exemplare, — er wollte sie mir für 2500 M. ablassen: womit unsre Verhandlung zu Ende war. Credner war es (nicht ein „Freund“) der daran gedacht hatte, die Restexemplare aufzukaufen und eine neue Auflage zu veranstalten. Dies unter uns.
Es wäre mir ein großer Stein vom Herzen, wenn meine Litteratur erst glücklich in Ihren Hafen eingeschifft ist! Hoffentlich können Sie mich baldig mit dieser Nachricht beglücken.
Mit herzlichem Gruß
Ihr
ergebenster
Prof Dr Friedrich Nietzsche
NB. Vergleichen Sie einmal die Ziffern der Exemplare mit der Ihnen gegebnen Liste. Es scheint mir nicht Alles zu stimmen.
NB. Ich erzählte Ihnen, daß jener Erlecke von mir Geld haben wollte — und daß, als ich mich erkundigt hatte, wer das sei, ich [+ + +] gen. F. N.
719. An Heinrich Köselitz in Annaberg
Sils-Maria Oberengadin Schweiz 5. Juli 1886.
Helfen Sie, lieber Freund, auch hierin — C. G. Naumann schickt mir beifolgenden Entwurf einer Anzeige meines Buchs für das Buchhändler-Börsenblatt. Bitte, machen Sie eine kleine Redaktion und Verbesserung; ein paar signifikantere Ausdrücke sind zu finden, — ich selbst bin dazu ganz unfähig und ungeduldig. Auch will ich’s gar nicht wieder sehn: Sie, lieber Freund, ersparen mir’s, meine eigne Reclame machen zu müssen, nicht wahr? —
— Daß man mich mit meinen Titeln nennt, ist vielleicht für die Sortimenter ganz in Ordnung. Natürlich fehlen sie auf dem Titelblatte.
— Die drei letzten Abschnitte haben als Überschrift:
Völker und Vaterländer.
Was ist vornehm?
Aus hohen Bergen. Nachgesang.
— Inzwischen meinen ergebensten Dank für Brief und Correkturen-Eifer: in der That kommt Ihre Sendung immer nur ein Paar Stunden später als die Naumann’s an mich: — was kaum mit rechten Dingen zugeht.
Hübsch kalt, herrliche Natur, „Ruhe, Größe, Sonnenlicht“ - - -
Bitte, theilen Sie (bei Gelegenheit der Sendung an Naumann) ihm mit, daß ich mit allen seinen Vorschlägen einverstanden bin.
In alter Treue
Ihr Freund N.
720. An Franz Overbeck (Entwurf)
<Sils-Maria, 14. Juli 1886>
Auch ich, mein lieber Freund, hätte sehr gern das Jahr Dich wiedergesehn; aber ich sehe schon, daß es nichts wird. Mein Wille, den Sommer etwa in Thüringer Wald, den Herbst in M<ünchen> zu verleben, scheiterte an der force majeur<e> (oder mineur<e>) meiner Gesundheit. Es war bis jetzt eine lange Geduldsprobe; ich habe, wie ich glaube, nicht dabei gemuckst; aber jetzt spüre ich die schrecklichen Strapatzen und ihre Nachwirkungen: statt mich zu erholen, wie ich’s nöthig hätte, habe ich mich mit diesem deutschen Aufenthalt heruntergebracht
Fritzsch und Schm<eitzner> haben sich bisher nicht geeinigt. Dieser Tage hat Schm<eitzner> mir direkt den Antrag gemacht, ich sollte meine Litteratur für 12500 Mark abkaufen; insgleichen wollte Erlecke Geld von mir, um die Bücher an sich zu bringen. Kurz, es ist noch die alte Confusion, zu der ich stillschweige und warte. Die schändliche Vernachlässigung, der ich seitens Schm<eitzner> ausgesetzt gewesen bin, ist jetzt in volles Licht gerückt: er hat seit 10 Jahren kein Exemplar von mir an die Sortimenter vertheilt, er hatte nicht einmal ein Leipziger Commissionslager, er hat keine Anzeige gemacht, kein Redaktionsexemplar vertheilt: die Bücher (von M<enschliches,> Allzu<menschliches> an) sind immer noch nicht herausgegeben.
Meine Verhandlungen mit allen möglichen Verlegern haben mir schließlich einen einzigen Ausweg gezeigt, den ich jetzt gehe. Ich mache den Versuch, etwas von mir erscheinen zu lassen, auf meine Unkosten: gesetzt, es werden dreihundert Exemplare verkauft, so habe ich die Kosten heraus und kann eventuell das Experiment wiederholen. Die Firma C. G. Naumann giebt ihren sehr achtenswerthen Namen dazu her (es steht also darauf Verlag von C<onstantin> G<eorg> N<aumann>) Dies strengstens unter uns. Hoffentlich wird das Buch bald fertig, so daß es Dich in Deiner Sommerfrische beglücken kann, wobei ich bemerke, daß es auch noch in einem peinlich frischen Klima als sehr frisch empfunden werden dürfte.
Den Gedanken, mich ein paar Monate zur Erholung jedes Jahr in Deutschland aufzuhalten (z. B. in München) habe ich wieder zurückgelegt: und München hat nicht aufgehört, mich auf die liebenswürdigste Weise an sich zu locken: Seydlitzens, mit denen ich nach langjähriger Erfahrung herzlicher und näher stehe als je; insgleichen der ausgezeichnete Aquarellist Hans Bartels mit Frau, welche meine Installation in die Hand nehmen wollen; letzterer schrieb mir kürzlich von Schloß Berg, wie sehr sich Levi darauf freue, mich einmal den Winter über in M<ünchen> zu haben. Bei einer Jagd auf gute originelle Bücher bin ich wiederum auf etwas Münchnerisches gestoßen: auf Nägelis <Mechanisch-physiologische Theorie der> Abst<ammungslehre> (ein von den Darwinisten scheu bei Seite gelassenes Werk) etwas anderes eben daher: die Anthropogeographie <oder Grundzüge der Anwendung der Erdkunde auf die Geschichte> habe ich mir auch mitgenommen, doch nicht um mich damit lustig zu machen (er gehört dem Kreis der Gregorovius, Moritz Wagner und dergl. großthuerischen Mittelmäßigkeiten, die einander furchtbar bewundern und anräuchern)
ich muß bekennen, daß es nicht allein die klimatische Unzuträglichkeit ist, die mir jenen Plan widerräth. Ich habe Niemanden daselbst, der einen Begriff davon hätte, worum es sich bei mir handelt; und noch abgesehn von dieser Entbehrung persönlicher Sorgfalt und delicatezza, die mir es erlauben könnte, zu sein, was ich bin — wie es zur Erholung nöthig ist —, weiß ich noch weniger Jemanden, mit dem ich meine sehr unpersönlichen Sorgen und Probleme gemein hätte.
Das Leben in Deutschland ist gänzlich unzuträglich: es wirkt vergiftend und lähmend auf mich, und meine Menschenverachtung wächst jedes Mal dort in gefährlichen Proportionen, sobald ich mit „Gebildeten“ in Berührung komme. Besonders nachtheilig das Leben an den deutschen Universitäten, dem ich wieder einmal zugeschaut habe. Wirklich lieber Freund, wenn Du auch keineswegs zu beneiden bist, so bist Du doch zum Mindesten mit Deiner Lage nicht zu bejammern: sie hat etwas Feines und Vorsichtiges an sich. — —
Seit ich fort bin, habe ich eine lange Gedulds-Probe durchgemacht, die ich sobald nicht wiederholen darf. Abgesehen vom Verkehr mit meiner Mutter, die ich heiter und selbstgewisser als je in ihrem hübschen Neste wiederfand (es giebt lauter gute und glänzende Nachrichten von Südamerika) gab es kein Erlebniß und Entgegenkommen, das mich nicht gedemüthigt hätte — oder vielmehr, das mich nicht hätte demüthigen müssen, wenn ich jetzt noch leicht umzuwerfen wäre.
In einem falschen Milieu leben, seiner Lebensaufgabe ausweichen (was ich that so lange ich Philologe und Universitätslehrer war) richtet mich physisch unfehlbar zu Grunde; und jeder Fortschritt auf meinem Wege hat mich der Gesundheit auch im leiblichsten Sinne näher geführt. Jede Reise nach D<eutschland> war bisher aus dem angeführten Grunde ein Rückfall, eine Schwächung meiner Kräfte: leider waren solche Reisen aus diesem und jenem Grunde immer nöthig. Mit meiner letzten (deren schlimme Nachwirkung ich noch nicht überwunden habe) bin ich andrerseits zufrieden, weil mehreres durch dieselbe, wenn nicht in Ordnung, so doch in Klarheit gebracht worden ist — und weil von nun an solche Reisen mir erspart bleiben dürfen. Zwar hat Fr<itzsch> sich noch nicht mit Schm<eitzner> verständigen können: aber vielleicht kommt es noch dazu da F<ritzsch> großen Werth darauf zu legen scheint, den ganzen N<ietzsche> so wie den ganzen W<agner> in seinem Verlag zu haben (eine Nachbarschaft, die auch mir von Grund aus wohl thut; denn Alles in Allem gerechnet, war W<agner> der Einzige, mindestens der Erste, der ein Gefühl davon gehabt hat, worum es sich bei mir handelt. (Wovon z. B. Rohde zu meinem Bedauern nicht die blasseste Vorstellung hat, geschweige denn ein Gefühl von Pflicht gegen mich) In dieser Universitäts-Luft entarten die Besten: ich fühle fortwährend als Hintergrund und letzte Instanz selbst bei solchen Naturen wie R<ohde> die allgemeine verfluchte Wurschtigkeit und den vollkommnen Mangel an Glauben. Davon daß Einer wie ich diu noctuque incubando von Kindesbeinen an zwischen Problemen lebt, über die man schweigt und denen man gern entlaufen möchte, wer hätte dafür ein Mitgefühl? Wagner hatte es; und deshalb war Tr<ibschen> eine solche Erholung für mich; während ich jetzt keinen Ort und keinen Menschen habe, die zu einer Erholung taugten.
721. An Franz Overbeck in Basel
<Sils-Maria, 14. Juli 1886>
Lieber Freund,
auch ich hätte dieses Jahr sehr gern Dich wiedergesehn: aber ich sehe schon, daß es nichts wird. Mein Wille, den Sommer über im Thüringer Wald, den Herbst in München zu verleben, scheitert an der force majeure (oder mineure) meiner Gesundheit. Das Leben im jetzigen Deutschland ist mir gänzlich unzuträglich, es wirkt vergiftend und lähmend auf mich; und meine Menschenverachtung wächst jedes Mal dort in gefährlichen Proportionen. Mit Deinem guten Willen zum „Außerhalb“ und „a parte“, wie er deutlich aus Deinem Plane der Wohnungsveränderung hervorgeht, bin ich deshalb gründlich einverstanden: Deine Lage in Basel, wahrlich nicht zu beneiden, aber mindestens auch nicht zu bejammern, hat etwas Vorsichtiges und Feines, das Du nicht leicht wo anders wieder finden könntest. Schade, daß dieser Ort mir klimatisch so unmöglich ist: denn mit wem redete ich jetzt lieber meine Dinge als mit Dir und Burckhardt? Auch bin ich wirklich den Baslern gewogen: und es freut mich immer, einem Basler zu begegnen (wie es dieser Tage wieder der Fall war: und jedes Mal fällt mir auf, wie imprägnirt mit dem Burckhardtschen Geiste und Geschmacke alles ist, was von dorther kommt: natürlich vorausgesetzt, daß etc. etc.) Zuletzt aber danke ich Gott (richtiger: meiner Krankheit, und, zu einem sehr guten Theile, Dir, lieber Freund!) daß ich nicht mehr dort bin. In einem falschen Milieu leben und seiner Lebensaufgabe ausweichen, wie ich es that, solange ich Philologe und Universitätslehrer war, richtet mich physisch unfehlbar zu Grunde; und jeder Fortschritt auf meinem Wege hat mich bisher auch der Gesundheit im leiblichsten Sinne näher gebracht. Jede Reise nach Deutschland war deshalb bisher immer ein Rückfall, eine Schwächung meiner Kräfte: leider waren solche Reisen aus diesem oder jenem Grunde immer nöthig. Mit meiner letzten (deren schlimme Nachwirkungen ich bis jetzt noch nicht überwunden habe) bin ich andererseits zufrieden, weil Mehreres durch dieselbe, wenn nicht in Ordnung, so doch in Klarheit gebracht worden ist (und weil, hoffentlich, solche Reisen nunmehr immer seltner werden dürfen —) Meine Mutter fand ich, zu meiner großen Beruhigung, heiterer, thätiger und selbstgewisser als je in ihrem hübschen Neste: wir wollen uns kleine Rendezvous’ vereinbaren, etwa in der Schweiz, da gegen Naumburg leider sich das Gleiche einwenden läßt, wie gegen Basel — es ist mir nachtheilig, von Kindesbeinen an) Beiläufig: mein Zukunftsort wird wahrscheinlich, für Frühling und Sommer, Göschenen sein.
Fritzsch hat sich bisher noch nicht mit Schm<eitzner> verständigen können, aber vielleicht kommt es doch noch dazu, da F<ritzsch> großen Werth darauf zu legen scheint, den „ganzen Nietzsche“, so wie den ganzen Wagner in seinem Verlag zu haben: eine Nachbarschaft, die auch mir von Grund aus wohlthut. Denn, Alles in Allem gerechnet, war R<ichard> W<agner> der Einzige bisher, mindestens der Erste, der ein Gefühl davon gehabt hat, was es mit mir auf sich habe. (Wovon z. B. Rohde, zu meinem Bedauern, auch nicht die blasseste Vorstellung zu haben scheint, geschweige denn ein Gefühl von Pflicht gegen mich.) In dieser Universitäts-Luft entarten die Besten: ich spüre fortwährend als Hintergrund und letzte Instanz, selbst bei solchen Naturen wie R<ohde> eine verfluchte allgemeine Wurschtigkeit und den vollkommnen Mangel an Glauben zu ihrer Sache. Dafür, daß Einer (wie ich) diu noctuque incubando von frühester Jugend an zwischen Problemen lebt und da allein seine Noth und Glück hat, wer hätte dafür ein Mitgefühl! R. Wagner, wie gesagt, hatte es: und deshalb war mir Triebschen eine solche Erholung, während ich jetzt keinen Ort und keine Menschen mehr habe, die zu meiner Erholung taugten. — Meine Verhandlungen mit allen möglichen Verlegern haben mir schließlich einen einzigen Ausweg gezeigt, den ich jetzt gehe. Ich mache den Versuch, etwas auf meine Unkosten erscheinen zu lassen: gesetzt, es werden 300 Exemplare verkauft, so habe ich die Kosten heraus und kann das Experiment eventuell wiederholen. Die Firma C. G. Naumann giebt ihren sehr achtungswerthen Namen dazu her. Dies unter uns. Die Vernachlässigung durch Schm<eitzner> war ungeheuer: seit 10 Jahren keine Exemplare an Sortimenter vertheilt, ebensowenig Redaktionsexemplare; nicht einmal ein Commissionslager in Leipzig; keine Anzeigen, — kurz, meine Schriften von „Menschliches Allzumenschliches“ an, sind „anecdota“. Von „Zarathustra“ sind je 60—70 Exemplare verkauft etc. etc. Schm<eitzner>’s Entschuldigung ist immer: daß seit 10 Jahren keiner meiner Freunde mehr den Muth habe, für mich einzutreten. Er will 12500 Mark für meine Schriften. Die Deinigen hofft er in Dresden zu verkaufen, wie Fritzsch erzählt. — Geld glücklich angelangt.
In Treue Dein Freund
N.
Köselitz kündigt mir eben, als sehr wahrscheinlich, für Herbst seine Übersiedelung nach Nizza an; dasselbe that, vor ein paar Wochen, Herr Lanzky. Bis Mitte September bleibe ich hier, wo es nicht an alten Bekannten fehlt, die Mansouroff, die 2 Fynn’s, Miss Helen Zimmern u.s.w. u.s.w. Aus München die 2 Gräfinnen Bothmer. Bitte, laß Schm<eitzner> nichts davon merken, daß ich von seinen Verhandlungen mit Fritzsch weiß, ebenso vom schlechten Rufe des Ehrlecke: er benutzt dergleichen als Pressionsmittel gegen mich. Er will nämlich, daß ich selbst ihm die Bücher abkaufe (Brief letzter Woche)
722. An Franziska Nietzsche in Naumburg
<Sils-Maria, 17. Juli 1886> Mittwoch
Hier, meine liebe Mutter, ist der Brief vom Lama. Beachte die angestrichnen Stellen. — Eben kam Deine Karte, schönsten Dank! Inzwischen war ich immer noch krank, unzufrieden und geistig gehemmt, auch schlecht genährt: doch habe ich jetzt etwas, das mir gut zu thun scheint — ich esse Ziegenkäse und trinke Milch dazu (Was meinst Du? ist 50 Pfennige für ein Pfund Käse theuer?) Dann habe ich 5 Pfd. Malto-Leguminose von der Fabrik bestellt: was heute ankommen wird. Lassen wir also jetzt den Schinken (denn nach der bisherigen Erfahrung hier oben bekommt er mir nicht zum Besten; auch möchte ich nicht gern noch mehr Fleisch essen) Ebenso laß die Suppentafeln: alles Kochen ist mir zu mühvoll, und, wie gesagt, ich habe Malto-Leguminose bestellt: Aber trotzdem, bitte, ein kleines Freßkistchen mit etwas Hübschem, zur Abwechslung.
Mit Fritzsch und Schmeitzner ist die Sache stecken geblieben. Es ist ein Jammer. —
Gestern haben mir meine Damen einen delikaten mit saurer Sahne angemachten Quark geschickt, nach russischer Manier, nebst 2 schönen Grahambroden. —
Köselitz schreibt, er hoffe es durchzusetzen, daß er im Frühherbst nach Nizza übersiedele: was mich sehr erbaut hat. Ich möchte dort gerne ein kleines Heim haben. Wer weiß, vielleicht versorgt mich meine alte Mutter noch mit ihrer angenehmen Russin.
Auch Hr. Lanzky schreibt, er habe ein Paar hundert Francs gespart, um mit mir den Winter in Nizza leben zu können. Wirklich, ich freue mich zum ersten Male auf Nizza. — Ich glaube nicht, daß es mit Sils-Maria so fortgeht. Andere Jahre muß ich etwas probiren, dies Jahr will ich mich noch nach der Decke strecken. —
Dankbar und herzlich eingedenk
Dein alter Philosoph und Sohn.
723. An Constantin Georg Naumann in Leipzig
Montag. Sils-Maria, den 19. Juli 1886.
Sehr geehrter Herr,
für die Rückseite des Umschlags soll beiliegendes Manuskript gelten: ich bedaure, ein kleines Mißverständniß des Herrn K<öselitz> nicht rechtzeitig erledigt zu haben. Es liegt mir augenblicklich etwas daran, daß der Name Schmeitzner’s auf diesem Umschlage nicht vorkommt: wahrscheinlich ist er auch jetzt bereits nicht mehr der Besitzer jener älteren Bücher, sondern hat sie verkauft. Könnte der neue Besitzer (ein Leipziger Verleger) bereits genannt werden, so wäre es mir nicht unerwünscht* (etwa in dritter Zeile); nothwendig ist es nicht. —
Diese Umschlag-Seite soll nicht den Eindruck eines Angebots und einer Aufforderung zum Kaufen machen; vielmehr den einer Mittheilung meinerseits. Ich ersuche also um kleinere und bescheidenere Lettern. (Doch würde ich gern auch eine Probe mit den bisherigen Lettern sehn —)
Was das Titelblatt betrifft: so würde mir es mehr gefallen, wenn die schwarze Randlinie ganz wegbliebe, und die Worte Jenseits von Gut und Böse dadurch mehr Raum bekämen (Die Lettern, mit denen fröhliche Wissenschaft auf dem Titelblatt des gleichlautenden Werks gedruckt ist, könnten vielleicht auch hier am Platze sein?) Die Lettern und Spatien der anderen Worte („Vorspiel einer Philosophie der Zukunft. Von Friedrich Nietzsche usw) scheinen mir sehr passend gewählt: doch würde man erst noch zuzusehn haben, wie sie sich unter dem veränderten Jenseits von Gut und Böse ausnehmen. Dies Alles sei Ihrer Sorgfalt anempfohlen! —
Schließlich bitte ich, unter die Vorrede nicht nur zu setzen „Sils-Maria, im Juni 1885“, wie im Manuskript steht, sondern, deutlicher:
Sils-Maria, Oberengadin
im Juni 1885 (Letzteres ganz klein!)
Ihnen und Ihrem Herrn Bruder mich angelegentlich empfehlend
Ihr ergebenster
Prof. Dr. Nietzsche
NB.
— Sie senden mir gefälligst eine Probe des Titelblatts und Umschlags nach den hier gemachten Vorschlägen? — Oder ein Paar verschiedene Proben?
724. An Heinrich Köselitz in Annaberg
Dienstag 20. Juli 1886 Sils-Maria.
Lieber Freund,
es macht mir große Freude, daß Sie auch meinem neuesten Buche Geschmack abzugewinnen wissen: freilich werden Sie damit sehr vereinzelt bleiben — aber ich habe doch den Trost, gelegentlich einmal sagen zu können „wenn Ihr Anderen nichts an meinen Schriften habt, so liegt es wahrscheinlich daran, weil Ihr nicht genug für dieselben gethan habt!“ Was für Noth haben Sie dagegen schon durch mich gehabt, mein werther Verbesserer, Orthograph und Mitarbeiter! Es ist mehr als billig, daß Sie meine Dinge besser zugänglich finden als irgend jemand: dafür sind Sie ihnen auch mehr entgegengekommen als alle meine Herrn Freunde!
Die Schwierigkeit, die es dies Mal für mich hatte, zu reden (noch mehr: den Ort zu finden, von wo aus ich reden konnte), nämlich unmittelbar nach dem „Zarathustra“, werden Sie mir reichlich nachgefühlt haben: aber jetzt, wo das Buch ziemlich deutlich vor mir steht, scheint es mir, daß ich die Schwierigkeit ebenso schlau als tapfer überwunden habe. Um von einem „Ideal“ reden zu können, muß man eine Distanz und einen niedrigeren Ort schaffen: hier kam mir der früher vorbereitete Typus „freier Geist“ trefflich zu Hülfe. —
So viel von mir. Nun aber Ihre Andeutung in Betreff einer Zukunft „da unten“: nein, was mich dieser Gedanke froh macht! — und mindestens ebenso sehr per se als etwa per me (was Sie mir glauben müssen!). Mitte September gehe ich von hier aus nach Genua, um, zusammen mit dem braven und herzensguten, aber ein wenig melancholischen Lanzky, erst Rapallo und Santa Margherita, dann die Umgebung Genua’s, dann Alassio und andre kleine Riviera-Orte sorgfältig zu besichtigen und, je nach dem, an einem derselben hängen zu bleiben oder in Nizza zu landen. Für den Fall, daß Sie Ihrerseits den gleichen Gang machen, stehen wir natürlich zur Disposition; aber vorausgesetzt, daß Ihnen eine einsame Besichtigung der genannten Orte räthlicher scheint, würde ich mir erlauben, Ihnen ein Paar Adressen für billige Standquartiere zu senden. In Rapallo zb. (von wo aus Sie Santa Margherita und Portofino studiren können) das billige kleine Albergo della posta, ganz am Meere, in dem der erste Theil Zarathustra niedergeschrieben wurde. Ah, welche Freude wäre es für mich, den Cicerone dort und in Genua machen zu dürfen — und alle meine modesten Trattorien müßten Sie probiren! Und auf den düsteren Bastionen stiegen wir herum, und tränken, auf meinem Belvedere in Sampierdarena, ein Glas Monteferrato! Wirklich, ich weiß nichts, worauf ich mich so sehr freuen könnte. Es ist ein Stück meiner Vergangenheit, dies Genueser Stück, vor dem ich Respekt habe… es war furchtbar einsam und streng. —
Lanzky schreibt, am Schluß des letzten Briefs: „ach, was ich durstig bin nach Licht und Meer und tiefer Stille zu Zweien und kindlicher Freude am Einfachen!“ — ein sehr frommer Wunsch bei einem älteren Menschen. —
Hier, in Sils, bin ich noch nicht recht in Ordnung: die Gesundheit verträgt diese kolossalen Sprünge nicht. Auch occupirt der Druck des Buchs mich bis ins Lästige; eine wirkliche Freiheit (und die Erlaubniß, etwas Neues zu denken) giebt es erst mit dem ersten fertigen Exemplare. Also vielleicht in drei Wochen. Für die 4te Umschlag-Seite habe ich eine andre Disposition treffen müssen (— die Verständigung zwischen Schm<eitzner> und Fritzsch ist hoffentlich sehr bald erreicht: vorausgesetzt, daß Schm<eitzner> nichts davon erfährt, inwiefern ich bereits über Fritzschens Absichten unterrichtet bin).
— Komisch! Man hat gut sich wehren gegen Frauen-Emancipation: schon ist wieder ein Musterexemplar eines Litteratur-Weibchens bei mir angelangt, Miss Helen Zimmern (als welche die Engländer mit Schopenhauer bekannt gemacht hat), — ich glaube sogar, sie hat „Schopenhauer als Erzieher“ übersetzt. Natürlich Jüdin: — es ist toll, wie sehr diese Rasse jetzt die „Geistigkeit“ in Europa in den Händen hat (— sie hat mich heute des Längeren schon über ihre Rasse unterhalten). —
— Seien Sie nicht böse, aber Ihr herrliches Adagio hat sich bei mir inzwischen umgetauft: nicht mehr solenne, sondern adagio amoroso. Ich will schwören, daß dies Epitheton nicht nur ornans ist. —
— Die beiden Engländerinnen, die alte Mansouroff, und 2/3 der vorigen Sommer-Gesellschaft von Sils ist wieder da. Inzwischen habe ich aber Göschenen in’s Auge gefaßt, für andere Jahre. Sie werden daran vorbei müssen: Station des Gotthardtunnels. Vielleicht sehen Sie sich’s an? —
In herzlicher Gesinnung
Ihr Freund N.
725. An Franziska Nietzsche in Naumburg
<Sils-Maria,> Donnerstag. <22. Juli 1886>
Meine liebe Mutter,
wenn es mir nur etwas besser gienge! Da würde ich mich auch viel hübscher für Deine allerliebste Hutschachtel bedanken, die des Guten so viel enthielt! Aber ich weiß nicht was machen: beständig magenkrank beständig indisponirt und nervös, schlecht schlafend, augenleidend, geistig müde, — ob schon bei alledem von gutem Aussehen. Es fehlt mir hier die rechte Ernährung, die ich in Nizza habe, ebenfalls das rechte Zimmer mit gutem Lichte, ebenfalls die rechte Gesellschaft: wiewohl in letzterer Hinsicht ich es eigentlich überall ungenügend habe. Man behandelt mich hier recht artig, voran meine Hausleute, welche im Namen der kleinen Adrienne sich schönstens bedanken. Dann die guten Fynns und die alte dies Mal sehr leidende und schwache Russin; dann ist auch ein sehr gescheutes Litteratur-Weibchen da, aus London, Miss Helen Zimmern, welche das Verdienst hat, Schopenhauern in England eingeführt zu haben; dann aus München 2 Gräfinnen Bothmer, dann aus Basel die Schwester von Prof. Andreas Heusler; aus Leipzig wird Prof. Leskien erwartet, mit Dr. Brockhaus — und noch eine Menge Menschen, die alle zum zweiten, dritten oder zehnten Male hier sind. Auch hat mich der alte General Simon mit Tochter besucht; während ich noch keinen Schritt weit von Sils weggekommen bin, von wegen der blendenden und staubigen Landstraße, die von hier nach St. Moritz führt: meine Augen habens mir bisher absolut verboten, dorthin zu gehn, obschon ich gerne Frau Wehmann (der Schwester Claire’s) meinen Besuch machen möchte, insgleichen meiner Tischnachbarin vom letztjährigen Nizzaer Winter. Deine Torte ist wunderschön gerathen, ich trinke Milch dazu, auch der Honig labt mich; und mit dem Halsbande hast Du sehr meinen Geschmack getroffen — nimm meinen besten Dank, meine alte gute Mutter! Neulich habe ich nicht genug mein Erstaunen ausgedrückt über Deinen kühnen Angriff auf die Wartburg: es war eine ganz große Haupt- und Staatsaktion. In Betreff der Reise nach Paraguay denke ich wie Du: die Einladung hätte mehr Sinn, wenn sie auf Grund des dortigen Sommers gemacht wäre —, zuletzt ist der Winter in Nizza wahrscheinlich doch noch schöner als der dortige, und ein Bischen unterhaltender, wie mir scheint. Zwischen Fritzsch und Schmeitzner schweigt es, zu meinem großen Leidwesen. Wahrscheinlich hat Schm<eitzner> durch Hrn. Widemann erfahren, wie sehr ich mich über die Möglichkeit, in Erleckes Hände zu fallen, entsetzt habe, — und Schm<eitzner> erwartet nun, daß ich ihm Anerbietungen mache. Darum geht er nicht auf Fr<itzsch>s Vorschläge ein. — Der Druck ist nahezu beendet, er hielt mich bisher etwas aufrecht. — Wir haben’s auch hier sehr warm gehabt; glücklicherweise fand ich 2 weiße Hosen hier im Schranke vor. Ich denke Deiner immer in großer Dankbarkeit: was hast Du Alles schon in diesem Jahre für mich gethan! —
Dein alter Sohn, nicht sehr Philosoph.
726. An Constantin Georg Naumann in Leipzig
<Sils-Maria, 2. August 1886>
Einzelne Exemplare sind an folgende Personen
zu versenden:
Professor Dr. Erwin Rohde, Leipzig
Hofrath Prof. Dr. Heinze, Leipzig
Paul Widemann, Dresden, Blochmannstr.
Baron Seydlitz, München, Heßstraße 3
Prof. Dr. Jakob Burkhardt, Basel, Schweiz
Prof. Dr. Franz Overbeck, Basel, Schweiz
Gottfried Keller, Zürich (Schweiz)
Baronin Meysenbug, Roma, via polveriera 6 (Italia)
Monsieur Henri Taine
Talloire, lac d’Annecy
Haute-Savoie (France)
Monsieur Paul Bourget
Paris, Lemerre éditeur
Passage Choiseul 27—31
Dr. Paul Deussen, Berlin, N. W. Paulsstrasse 31
Baron Hans von Bülow, z. Z. in Hamburg
Genauere Adresse weiß ich nicht. Oder soll man’s nach Meiningen senden?
In jedes Exemplar bitte ich meine Visitenkarte zu legen. Bitte, lassen Sie 100 Stück in Ihrer Offizin herstellen: den Rest behalten Sie zurück für spätere Gelegenheiten. Das feinste und stärkste Papier dazu, nichts darauf als: (Sehr elegant, großes Format.) Professor Dr. Friedrich Nietzsche
Exemplare an Redactionen usw.
6 Exemplare an
Signore Paolo Lanzky
Vallombrosa
per Pontassieve (Italia)
2 Ex. an
Miss Helen Zimmern
z. Z. in
Sils-Maria (Alpenrose)
Oberengadin, Schweiz
1 Ex. an Dr. Georg Brandes, Kopenhagen, St. Anneplatz 24
1 Ex. an
Prof. Dr. F. Zarncke
Redaktion des litterarischen Zentralblatts
Leipzig Goethestr. 7.
1 Ex. an Rich. Fleischer
Redaktion der deutschen Revue.
Dresden Reichsstr. 2
1 Ex. an Dr. J. Rodenberg, Redaktion der deutschen Rundschau,
Berlin W. Lützowstraße 7.
O. Braun
Redaktion der Allgemeinen Zeitung
München, Schwanthalerstr. 73
L. von Sacher-Masoch
Redaktion von Auf der Höhe
Leipzig, Arndtstraße 40
Oskar Blumenthal
Redaktion des Berliner Tageblatts
Berlin, Jerusalemerstr. 48
Rudolf von Gottschall,
Red. der Blätter für litter. Unterhaltung
Leipzig
J. V. Widmann
Red. des Bund, Bern (Schweiz)
Dr. Arthur Levysohn, Redaktion des
deutschen Montagsblatts, Berlin,
Steglitzerstr. 2
Dr. Hans Herrig, Redaktion des deutschen
Tageblatts, Berlin, Körnerstr. 4
O. Hopp, Redaktion des Echo
Berlin SW Dessauerstr. 12
Joh. Proelß, Redaktion der Frankfurter Zeitung
Frankfurt a. M. Eschenheimergasse 37
Dr. Zolling, Redaktion der Gegenwart
Berlin, Kön. Augustastr. 12
Dr. G. Conrad, Redaktion der Gesellschaft
München Quaistraße 3
Redaktion der Hamburger Nachrichten
Hamburg
Redaktion der Kölnischen Zeitung
Köln
Dr. Hülskamp, Redaktion des litter. Handweisers
für das kathol. Deutschland
Münster i. W.
Dr. F. Hirsch, Red. des Magazins für die
Litterat. des In- u. Auslandes
Leipzig, Friedrich
Dr. K. Frenzel, Red. der Nationalzeitung
Berlin W. Köthenerstr. 33
Dr. M. Bauer, Red. der Neuen deutschen Warte
Berlin Belle-Allianceplatz 6a
Dr. Hugo Wittmann, Redaktion der
neuen freien Presse
Wien
Freiherrn von Hammerstein, Red. der
Kreuzzeitung
Berlin W. Königgrätzer Str. 15
Dr. Paul Lindau, Red. von Nord und Süd
Berlin W. Von der Heydstr. 1.
F. C. Pindter, Red. der Norddeutschen
Allg. Zeitung
Berlin
J. K. Becher, Red. der Presse
Wien, Berggasse 31.
Dr. H. Kletke, Red. der Vossischen Zeitung
Berlin, Breitestr. 8
Nationalrath Dr. Curti, Red. der Zürcher Post
Zürich (Schweiz)
J. Singer, Redaktion der Allg. Oestereich.
Litteraturzeitung
Wien, VIII Laudongasse 1.
NB. Ich ersuche diese Blätter auch nach der Benutzung aufzuheben, vielleicht zu späterem Gebrauche.
F. N.
— Daß an Herrn Köselitz 2 Ex. und an mich selbst 4 Ex. abzusenden sind (und zwar sofort, wenn der Buchbinder seine erste Arbeit gethan hat) habe ich schon im letzten Briefe mir erbeten.
Hochachtungsvoll Ihr
ergebenster Prof. Nietzsche.
N. Mac Coll. Esq.
„Athenaeum“ Office.
20. Wellington Street.
Strand. W. C.
London.
—. Cotton, Esq.
„The Academy“ Office.
26. Chancery Lane. W. C.
London.
Editor.
„Westminster Review“.
Messrs Trubner & Co.
Ludgate Hill. E. C.
London.
727. An Paul Lanzky in Vallombrosa (Entwurf)
<Sils-Maria, Anfang August 1886>
Ihr Vorschlag Corte betreffend verdient sehr erwogen zu werden: nur sind Sie, werther Freund, kein M<ensch>, mit dem ich eigentlich reisen möchte. Ja wenn Sie die Augen eines Malers im Kopf hätten! Und dann noch die pittoreske Redekraft, um einem Halbblinden die Distraktion des Sehens wenigstens indirekt zu schaffen! <Ich> suche lange schon einen mir befreundeten Münchner Aquarellisten zu einer Reise nach Corsica zu bewegen. — Zuletzt steht es nicht mehr ganz in meiner Hand, über diesen Herbst zu verfügen: denn ich will, wenn es irgend möglich ist, meinem Musiker den Anfang und Eintritt in den westlichen Süden erleichtern. Ihn dazu verführt zu haben, habe ich nun einmal auf dem Gewissen: mir liegt sehr viel daran, zu erproben was dort, unter dem einzig afrikanischen Stück Europas, aus einem deutschen Musiker wird, nachdem der außerordentliche Erfolg Venedigs (und seines feuchten Orients) bewiesen ist. — Was mich selbst betrifft, so ist Nizza eine bewiesene, ja die bewiesene Sache (— Sie dürfen nicht nach dem vorletzten Winter urtheilen, der leider der mißrathenste all meiner südlichen Winter war!) Noch fehlt mir viel dort, um wirklich mich daselbst heimisch zu fühlen: vor allem eine heitere und geistreiche Geselligkeit, wie ich sie im Grunde mein ganzes Leben um mich gehabt habe, die Krankheits-jahre abgerechnet. Doch findet sich dort allerlei, vorausgesetzt, daß man erst den guten Willen zum Suchen hat: und Angelhacken zB. für die dortige russische Gesellschaft habe ich genug. — Im Übrigen wissen Sie, daß Nizza mein Arbeits- und Einsamkeits-Ort ist, wie Sils-Maria und daß ich mich der Gesellschaft nur bediene, um auf meine Weise arbeiten und einsam sein zu können (nämlich von mir auf Stunden loszukommen, zur Erholung). Mein Musiker, gesetzt daß er dort leben würde, ist einer jener selbstgenugsamen M<enschen> welche man Wochenlang nicht zu sehen bekommt: aber seine Musik gehört zu den wenigen Dingen, welche ich zu meiner Gesundheit schlecht entbehren kann; und er ist mir gründlich genug zugethan, um mir sie nicht vorzuenthalten. — Über Aj<accio> bin ich sehr gut unterrichtet: Luftfeuchtigkeit wie Pisa und Corfu. — Was Algier betrifft, so sagte mir ein alter Schweizer in Nizza, die Riviera habe alles Gute von dort, und alles Schlimme nicht; auch empfehle ich Daudets Charakteristik der Riviera in einem der letzten Capitel des Nabab darauf hin anzusehen. —
Mit herzlichen Grüßen
Ihr Philosoph
(kopfleidend augenleidend magenleidend)
Von den 6 Exemplaren die an Sie abgehen werden, müssen Sie 2 an die 2 Zeitschriften abgeben. —
728. An Constantin Georg Naumann in Leipzig (Postkarte)
<Sils-Maria, 4. August 1886>
Geehrtester Herr, die Exemplare sind eingetroffen und machen mir Freude: Alles sieht gut aus, auch habe ich bisher keine wesentlichen Fehler auffinden können (nur in den „Berichtigungen“ selbst muß es Seite 68 statt 58 heißen) Ein Verzeichniß Adressen für Freiexemplare und Redaktionsexemplare ist vorgestern an Sie abgesandt worden: ich füge hinzu, daß ein Exemplar Herrn E. W. Fritzsch, Leipzig zu übermitteln ist (dem Musikverleger in der Königsstr, wenn ich nicht irre); ebenfalls ein Exemplar an Dr. Fuchs, Lehrer der Musik in Danzig; auch daß das für Hans von Bülow bestimmte Exemplar am besten ihn erreichen wird, wenn es an die Adresse seiner Mutter abgeht, also
per adr. Frau Baronin von Bülow
Berlin W.
34 Kurfürstenstrasse
Ich möchte gern sehn, in welcher Weise das Buch im Buchhändler-Börsenblatt angekündigt ist. — Ein Paar Adressen für englische und französische Zeitschriften folgen später; die italiänischen Exemplare besorgt Herr Lanzky. — Mit ergebenstem Gruß und Dank
Dr. Nietzsche
729. An Franz Overbeck in Basel
Sils-Maria den 5. August 1886.
Lieber Freund,
eine Mittheilung und eine Bitte! — Eben telegraphirt mir Fritzsch aus Leipzig „Endlich im Besitz!“ — Worte, die mir große Freude machen. Ein verhängnißvolles Versehn aus meiner Basler Zeit (etwas „zu viel Vertrauen“, wie so oft in meinem Leben) ist damit ad acta gelegt. Wie gut, daß ich diesen Frühling nach Deutschland gieng! Dasselbe habe ich noch ein Mal zu sagen, in Hinsicht darauf, daß ich meine Lage gegenüber Verleger-Möglichkeit und Publikum mir ad oculos demonstrirte; auch daß ich persönlich mit dem ausgezeichneten Brüder-Paar Naumann verhandelte. Das neue Buch, ein Resultat, welches aus der Ferne gar nicht hätte erreicht werden können, ist eben fertig geworden; der Auftrag, ein Exemplar an Dich nach Basel abzusenden, ist bereits seit einigen Tagen ergangen. Nun kommt die Bitte, alter Freund: lies es, von vorne nach hinten, und laß Dich nicht erbittern und entfremden — „nimm alle Kraft zusammen“, alle Kraft Deines Wohlwollens für mich, Deines geduldigen und hundertfach bewährten Wohlwollens, — ist Dir das Buch unerträglich, so doch vielleicht hundert Einzelheiten nicht! Vielleicht auch, daß es dazu beiträgt, ein paar erhellende Lichter auf meinen Zarathustra zu werfen: der deshalb ein unverständliches Buch ist, weil er auf lauter Erlebnisse zurückgeht, die ich mit Niemandem theile. Wenn ich Dir einen Begriff meines Gefühls von Einsamkeit geben könnte! Unter den Lebenden so wenig als unter den Todten habe ich Jemanden, mit dem ich mich verwandt fühlte. Dies ist unbeschreiblich schauerlich; und nur die Übung im Ertragen dieses Gefühls und eine schrittweise Entwicklung desselben von Kindesbeinen an macht mir’s begreiflich, daß ich daran noch nicht zu Grunde gegangen bin. — Im Übrigen liegt die Aufgabe, um deren willen ich lebe, klar vor mir — als ein factum von unbeschreiblicher Traurigkeit, aber verklärt durch das Bewußtsein, daß Größe darin ist, wenn je der Aufgabe eines Sterblichen Größe eingewohnt hat. —
— Ich bleibe hier bis Anfang September.
Treulich Dein F. N.
730. An Ernst Wilhelm Fritzsch in Leipzig
Sils-Maria, Oberengadin den 7. August 1886.
Lieber und werther Herr Verleger,
es macht mir große Freude, Sie wieder so anreden zu dürfen! — Eben als ich Herrn C. G. Naumann den Auftrag gegeben hatte, Ihnen ein Exemplar meines neuen Werks zu übermitteln, kam Ihr Telegramm: ich nahm dies Zusammentreffen als ein günstiges und gütiges Omen meines Schicksals. —
Schmeitzner ist mir jetzt nichts mehr schuldig; wie es sich von selbst versteht, habe ich das Recht zu eventuellen neuen Auflagen mir vorbehalten. —
Diesen Herbst und Winter sollten Sie dem Vertrieb des noch gar nicht „herausgegebenen“ Zarathustra widmen, der neben meinem eben erscheinenden Buche Jenseits von Gut und Böse außerordentlich anziehend, zum Theil contrastirend wirken wird; andrerseits ist das eben genannte Werk eine Art Einführung in die Hintergründe des Zarathustra, — man wird schon dahinterkommen, daß es sich bei ihm nicht um Phantastereien und unwirkliche Dinge handelt. — Vielleicht könnten die drei Theile zusammengeheftet werden? denn die Vorrede im ersten Theile gilt für das ganze Werk. Und die Verkäuflichkeit scheint mir leichter, wenn auf dem Gesammt-Titelblatt steht
Also sprach Zarathustra.
Ein Buch für Alle und Keinen.
Von
Friedrich Nietzsche.
In drei Theilen.
Es ist schade, daß ich Ihnen meine Gedanken über das, was in Bezug auf die andren Bücher mir räthlich scheint, nicht mündlich auseinander setzen kann. Die Zahl der Exemplare ist so groß, daß es scheinen möchte, als ob es sich um eine ganz neue Ausgabe handle. Dies hat mir einen Gedanken eingegeben. Wenn nun einmal die Titel- und Umschlagblätter durch neue zu ersetzen sind und jedenfalls einige Buchbinder-Arbeit nöthig wird, was meinen Sie? wäre es nicht vernünftig, jenen Anschein zu benutzen d. h. auf den Titel drucken zu lassen
Neue Ausgabe
vermehrt durch eine Vorrede. (oder
Einleitung etc?)
Sie werden bemerken, daß Menschl<iches> Allzum<enschliches> die Morgenröthe, die fröhliche Wissenschaft einer Vorrede ermangeln: es hatte gute Gründe, daß ich damals als diese Werke entstanden, mir ein Stillschweigen auferlegte — ich stand noch zu nahe, noch zu sehr „drin“ und wußte kaum, was mit mir geschehn war. Jetzt, wo ich selber am besten und genauesten sagen kann, was das Eigene und Unvergleichliche an diesen Werken ist und inwiefern sie eine für Deutschland neue Litteratur inauguriren (das Vorspiel einer moralistischen Selbst-Erziehung und Cultur, die bisher den Deutschen gefehlt hat) würde ich mich zu solchen zurückblickenden und nachträglichen Vorreden gerne entschließen. Meine Schriften stellen eine fortlaufende Entwicklung dar, welche nicht nur mein persönliches Erlebniß und Schicksal sein wird: — ich bin nur der Erste, eine heraufkommende Generation wird das, was ich erlebt habe, von sich aus verstehn und eine feine Zunge für meine Bücher haben. Die Vorreden könnten das Nothwendige im Gange einer solchen Entwicklung deutlich machen: woraus sich nebenbei der Nutzen ergeben würde, daß, wer einmal auf eine meiner Schriften angebissen hat, es mit allen aufnehmen muß.
Ich würde, im Falle daß mein Gedanke Ihnen gefiele und einleuchtete, diesen Winter darauf verwenden, mir solche Vorreden auszudenken: mein Bemühen würde sein, jeder dieser Vorreden einen so selbständigen Werth zu geben, daß um ihretwillen allein schon die Werke gelesen werden müßten. — Anzufangen mit „Menschliches, Allzumenschliches“, von dem 511 Exemplare noch da sind, gerade genug, um eine neue Ausgabe zu repräsentiren? Was meinen Sie? Die beiden Anhänge dazu (Vermischte Meinungen und Sprüche und der Wanderer) könnten dann vielleicht das Jahr darauf erscheinen? Als zweiter Band? —
Ich denke, Sie fühlen mir nach, hochgeehrter und lieber Herr Fritzsch, daß ich bei diesen Vorschlägen sammt und sonders Ihr Interesse im Auge habe; ich möchte durchaus nicht, daß Sie jemals den großen Vertrauens-Beweis, den Sie mir durch den Ankauf meiner ganzen bisherigen Litteratur gegeben haben, zu bereuen hätten.
Auf der Rückseite vom Umschlag des letzterschienenen Buchs finden Sie eine Art Überblick und Programm über meine bisherige und zukünftige Thätigkeit. Es sollen 10 Werke und nicht mehr sein, mit denen ich „übrig“ bleiben will; 6 davon sind nunmehr in Ihren Händen. Vereinfachung der Titel (damit sie leicht zu citiren sind z. B. bloß „die Geburt der Tragödie“), andrerseits eine kleine Erläuterung wo ich das Mißverständliche eines Titels erprobt habe (z. B. zu „die fröhliche Wissenschaft“ der Zusatz in Parenthese „gai saber“, damit man an den provençalischen Ursprung meines Titels und an jene Dichter-Ritter, die Troubadours erinnert wird, die mit jener Formel all ihr Können und Wollen zusammenfaßten) — dergleichen scheint mir nützlich. Genaueres erst, wenn ich Ihre Antwort auf meine hier angedeuteten Vorschläge habe.
Ihr ergebenster
Prof. Dr. Nietzsche
NB. Einen so langen Brief bekommen Sie niemals wieder: das verbieten die Herrn Augen.
731. An Erwin Rohde in Dänemark (Entwurf)
<Sils-Maria, etwa Mitte August 1886>
Es hat mir von Herzen wehe gethan, Dich dieses Frühjahr in solcher Tribulation zu finden, daß eigentlich zwischen uns kein gescheutes Wort gesprochen werden konnte, noch weniger ein ungescheutes lustiges, festliches: denn ich hatte mich auf unser Wiedersehn wie auf ein Fest gefreut. Inzwischen wird hoffentlich Alles glätter und glücklicher gegangen sein. Hier in Sils, wo Ende Sommers eine Art Professoren-Rendezvous stattfindet (mit einem Uebergewicht von Leipzig) sprach man viel von Deinem Fall, und immer mit dem aufrichtigsten Bedauern, Dich verloren zu haben. Auch Pflugk-Harttung hat sich mir vorgestellt, als ein Dir sehr ergebener Mensch. — — Ich habe letzthin den Auftrag an C. G. Naumann gegeben, Dir mein neustes Werk zuzusenden: nicht eigentlich damit Du es lesen sollst (denn sein Problem liegt glücklicherweise außerhalb Deiner Sorgen und Verantwortlichkeiten), sondern nur um es Dir nicht nicht zu senden. Ich weiß, alter Freund, Du verstehst die Nuance dieser doppelten Negation. — Empfiehl mich Deiner Frau (sie hat mir sehr gefallen); ich sehe daß das Bild Deines Mädchens auf meinem Tische liegt: daneben das Bild eines Knaben, das Abschiedsgeschenk eines Holländers aus Java, der mir sehr zugethan ist und seine Sommer-Erholung hier in Sils und bei mir sucht. Er hat seine Frau verloren: sein einziges Kind ist nunmehr ihm das Liebste auf Erden.
732. An Ernst Wilhelm Fritzsch in Leipzig
Sils-Maria Oberengadin (Schweiz) 16. August 1886.
Werthester Herr Verleger,
anbei folgt ein Stück Manuscript (Vorrede und Schlußgedicht) womit ich meinerseits dazu beitragen möchte, die noch übrigen 500 Exemplare von Menschl<iches> Allzumenschl<iches> flott zu machen. Ich bemerke ausdrücklich, daß dafür meinerseits durchaus kein Honorar verlangt wird; mein Wunsch ist, Ihnen zu erkennen zu geben, daß ich Ihnen für das muthige mir bewiesene Vertrauen dankbar bin. —
Das Stück Psychologie, welches in dieser Vorrede enthalten ist, dürfte an sich schon interessant genug sein, um das Buch flügge zu machen; es ist ein wesentlicher Beitrag zum Verständniß meiner Bücher und der ihnen zu Grunde liegenden schwerverständlichen Selbstentwicklung. Ich schrieb es in meinem letzten Monate des Nizzaer Winteraufenthaltes nieder, ein paar Wendungen abgerechnet, die der Engadin dazu erfunden hat. —
Mein Gedanke ist, daß Sie dies Buch (mein leichtverständlichstes und vorbereitendes) zuerst und zunächst in Umlauf setzen möchten. Es hat seine Freunde in den vereinigten Staaten, in Holland, in Italien und namentlich in Frankreich. —
Vielleicht ist es, entgegen dem, was ich in meinem letzten Briefe vorschlug, rathsamer, den Zarathustra einstweilen noch zurückzuhalten. Er wird am stärksten wirken und gekauft werden, wenn erst eine gewisse Sättigung mit meinen Gedanken und Perspektiven bei dem Publikum erreicht ist. Das eben ausgegebne Buch „Jenseits von Gut und Böse“ wird ihm nicht übel den Weg bereiten.
Im Falle Ihnen mein Vorschlag annehmbar scheint, so würde ich bitten, den Correkturbogen für Vorrede und Schlußgedicht umgehend in Angriff nehmen zu lassen (vielleicht bei C. G. Naumann, der alle meine Gewohnheiten etc. kennt?) denn ich bleibe nur noch bis Ende August hier oben und würde mich für Monat September schwerlich bestimmen können (ich habe eine Fußreise nöthig).
Meine einzige Bedingung wäre, daß die Vorrede in Lettern und Raumverhältnissen genau nach dem Muster der Vorrede zu „Jenseits von Gut und Böse“ gedruckt wird. Man muß sie accentuiren.
Herzlich grüßend Ihr ergebenster
Dr. Nietzsche Prof.
Es fällt mir ein, daß Schmeitzner (wider meinen Rath) eine Anzahl Exemplare hat binden lassen, noch dazu geschmacklos. Weg mit diesen Einbänden! Es verkauft sich kein einziges derartiges Exemplar! —
733. An Ernst Wilhelm Fritzsch in Leipzig
Sils-Maria, 16. August 1886.
Werthester Herr Verleger,
so eben kommt Ihr geehrter Brief, während bereits eine Sendung an Sie meinerseits abgegangen ist. Erwägen Sie bestens meinen Vorschlag, Menschliches Allzumenschliches zunächst in Umlauf zu setzen: dies Buch ist eine gute und leicht zugängliche Pforte zu meinem eigenen Gedankenkreise. —
Andererseits ist es in der That zu erwägen, ob nicht auch die Geburt der Tragödie neu versandt werden könnte. Nur möchte ich es nicht gerade jetzt, damit nicht „das Publikum“ gar zu disparate Werke von mir auf Ein Mal vorgesetzt bekommt. —
Wollen Sie den Zarathustra jetzt in Umlauf bringen, so würde ich proponiren, auf dem Gesammt-Umschlage zu drucken
Also
sprach Zarathustra
Ein Buch
für Alle und Keinen.
Von
Friedrich Nietzsche.
Leipzig
Verlag von E. W. Fritzsch.
Entsprechend auch das Titelblatt. Dann aber, zum Beginn des zweiten Theils eine Seite, auf der nichts weiter steht als
Also
sprach Zarathustra.
Zweiter Theil.
und entsprechend beim Beginn des dritten Theils
Also
sprach Zarathustra.
Dritter Theil.
So wird es sich am besten ausnehmen. —
— Zuletzt eine Bemerkung über „Jenseits von Gut und Böse“, aber ganz unter uns. Thatsächlich giebt C. G. Naumann seinen guten Namen dazu her, weil ein eingeständlicher „Commissions-Verlag“ für meine gegenwärtige Stellung etwas Ungeziemendes und Beschämendes hätte. Die Kosten der ganzen Herausgabe und ihr Risico trage ich allein. —
Mit ergebenstem Gruße
Ihr
Dr. Nietzsche
734. An Heinrich Köselitz in München
Sils-Maria, den 16. August 1886.
Lieber Freund,
ein paar Worte schleuniger Entgegnung auf Ihren eben empfangenen Liebens- und dankenswerthen Brief. Man theilt mir bei Tische mit, daß es jetzt in München den ganzen Nibelungen-Cyklus zu hören giebt, insgleichen noch einmal im September.
Da Sie davon nichts schreiben, muthmaße ich, es möchte Ihnen unbekannt sein; vielleicht daß Sie diese ausgezeichnete Gelegenheit am Schopfe nehmen. —
Es freut mich, daß Ihre Parsifal-Erfahrungen meinen aus der Ferne her gemachten und gewagten Urtheilen und Vorurtheilen nicht gänzlich Unrecht gegeben haben. —
— Daß Sie mir nur nicht eines Tags nach Venedig davonsausen! Vergebung! — Herr Lanzky hat mir einen Ausflug nach Corte auf Corsika für Oktober proponirt; ich habe bisher mich nicht entschließen wollen. Gienge ich dorthin (es ist zuletzt ein kleiner Umweg über Nizza), so thäte ichs ebenso sehr um Ihretwillen als um meiner jetzt entworfenen Zukunfts-Aufgabe willen.
Corte ist die Stadt der Empfängniß Napoleon’s: wie ich ausgerechnet habe. Scheint es nicht, daß eine Wallfahrt dorthin eine geziemende Vorbereitung für den „Willen zur Macht. Versuch einer Umkehrung aller Werthe“ ist? —
Seltsam! Ich war diese Zeit über unbeschreiblich traurig und vor Sorgen schlaflos. —
Besuchen Sie Seydlitzens, bitte, und bringen Sie meine allerschönsten Grüße. Seydlitz hat mir einen Brief geschrieben, worin viele guten und schlauen Dinge vorkamen: er hat Geist. —
Mit der herzlichsten Theilnahme an Ihrer Reise
Ihr Freund N.
Das zweite Exemplar war eigentlich Frau Röder-Wiederhold zugedacht, deren Adresse ich nicht habe. Herrn Widemann habe ich natürlich eins zugesandt. —
735. An Friedrich Hegar in Zürich
Sils-Maria, Oberengadin 17. August 1886
Verehrter Herr Capellmeister,
hiermit ruft sich Jemand Ihnen ins Gedächtniß, der seit zwei Jahren durch alle möglichen Zufälle und Kreuzungen verhindert war, nach Zürich zu kommen, — nach jenem Zürich, das bei ihm in einem sehr guten Geruche und, Dank Ihnen, in einem noch besseren Klange steht.
Diese beifolgende Composition würde ich gerne jetzt herausgeben: vorausgesetzt, daß sie Ihre Billigung fände. Namentlich die Instrumentation (die nicht von mir stammt, aber doch auf meine Angaben hin gemacht ist): hätten Sie die Güte, mir Ihr Urtheil über dieselbe ohne Schonung zu sagen? Wie stark müßte der Chor sein, der sich mit dem Blechklange der gewählten Instrumente vertrüge?
Es ist ein Stück Musik, das vielleicht einmal „zu meinem Gedächtniß“ gesungen werden könnte: dafür wenigstens habe ich’s ausgedacht.
Gegen Ende des Liedes ist ein tragischer Accent, der aus meinen innersten „Eingeweiden“ stammt. —
— Wie geht es bei Ihnen? Meine Schwester (Frau Dr. Förster nunmehr) hat bis jetzt recht erfreulich aus ihrer neuen Heimat Paraguay geschrieben. Jene Tage damals in Zürich waren unser heiterstes und wohlgerathenstes Zusammensein, für das wir Beide eine dankbare Erinnerung haben. Sagen Sie dies, bitte, auch Ihrer verehrten Frau Gemahlin.
Mit herzlichstem Gruß und Wunsch
Ihr ergebenster
Prof. Dr. Nietzsche
736. An Franziska Nietzsche in Naumburg
Sils-Maria Oberengadin Schweiz 17. August 1886.
Meine liebe gute Mutter,
ein Regentag: da soll gleich ein Briefchen an Dich absausen! Besten Dank für das, was Du mir geschrieben! Es gieng inzwischen etwas besser: das Recept, das ich mir verordnete, war sehr sonderbar: nämlich ins Hôtel zu gehn und mitzuessen, was Alle essen. Das hat mich wieder auf die Beine gebracht (ich brauche starke Mahlzeiten, um mich wohl zu fühlen: leider, leider bin ich nicht reich genug zu dieser mir angemessenen „Kur“ —).
Augenblicklich sind hier in Sils an die 10 Professoren der Universität; in meinem kleinen Hause 4, mich eingerechnet.
Der Handel mit Schmeitzner ist zu Ende: „endlich im Besitz“ telegraphirte mir Fritzsch — und seitdem ist viel Briefverkehr zwischen uns, weil Vielerlei meinerseits neu anzuordnen ist.
Herr Köselitz schreibt über München und Bayreuth: er ist also schon unterwegs.
So wie der gute alte Wenkel über Philosophie denkt, denken viele alte Philologen auch über Philologie: es sei gar nichts mehr Neues zu sagen. Ich halte beide Urtheile für irrthümlich und habe es (was mehr ist) durch Wort und That bewiesen. Freilich gehören dazu auch neue Ohren: wie man sie sich beim besten Willen in einem gewissen Alter nicht mehr anschaffen kann.
Die Geschichte mit Sonnemann (oder wie der Antisemit heißt, von dem Du schriebst) hat mich besorgt gemacht. Siehst Du, dieser Gattung Menschen wegen könnte ich schon nicht nach Paraguay gehn: ich bin so glücklich darüber, daß sie sich freiwillig aus Europa verbannen. Denn, wenn ich auch ein schlechter Deutscher sein sollte — jedenfalls bin ich ein sehr guter Europäer.
Sils als Landschaft und Menschheit gefällt mir nach wie vor. Nur — ist es zu theuer, wenn ich hier so leben will, daß ich nicht melancholisch werde. Für den September ist ein Zusammentreffen mit dem braven Herrn Lanzky in Aussicht; und, hoffentlich, eine tüchtige Fußreise, die mir sehr nöthig scheint. — Der Winter in Nizza: ich werde schwerlich darum herum kommen.
In alter Liebe und steter Dankbarkeit
Dein Fritz
737. An Reinhart von Seydlitz in München
Sils-Maria Oberengadin (Schweiz), 17. August 1886.
Lieber alter Freund,
es gäbe Gründe, sich bei Dir für einen sehr guten Brief zu bedanken, in dem feine kluge Sachen standen, wie sie gerne in meine Art Ohren schlüpfen.
Hast Du bemerkt, daß ich die „kleinsten aller möglichen“ Ohren habe? Vielleicht auch die schläuesten ...
Ein Dir im Frühjahr zugedachter Besuch mißrieth mir: ich fand das artige Nest ausgeflogen. Daß ich in diesem Herbste nach München komme (wozu mich Mancherlei locken könnte —) ist inzwischen wieder unwahrscheinlich geworden. Aus meinem letzten deutschen Aufenthalte habe ich ein ressentiment noch nicht überwunden. Die „moralische Luft“ daselbst bläst gegen mich, das ist kein Zweifel. Wahrscheinlich mache ich eine Wallfahrt nach Corte auf Corsica (woselbst Napoleon zwar nicht geboren, aber — was vielleicht sehr viel mehr ist, concipirt worden ist).
Es handelt sich jetzt auch bei mir um eine conceptio: Du wirst es aus dem Umschlage meines letzterschienenen Werks errathen, welches ich Dir (wie sich von selbst versteht) zugesandt habe. Meine ganze frühere Litteratur (von „Geburt der Tragödie“ bis zum „Zarathustra“) ist jetzt in den Besitz von E. W. Fritzsch übergegangen. Derselbe hat bereits, wie Du weißt, den „ganzen Wagner“; es scheint, daß er Werth darauf legt, auch einmal den „ganzen Nietzsche“ zu haben.
Was macht die Reise nach Bologna? Und überhaupt der Japonisme? —
Es bittet Dich und Deine liebe Frau um ein herzliches und freundschaftliches Angedenken
Friedrich Nietzsche.
738. An Constantin Georg Naumann in Leipzig (Visitenkarte)
Sils-Maria 24. August 1886.
Geehrtester Herr Verleger, so eben empfieng ich Ihre sehr willkommen<en> Mittheilungen und zögere nicht, Ihnen in allen Punkten, um welche Sie bei mir anfragen, meine zustimmende Antwort zu übermitteln. Berücksichtigen Sie, bitte, von den 5 Zeitschriften, die das Buch verlangt haben, die 3 letztgenannten (philosophische Monatshefte, deutsche Litteraturzeitung und auch die deutsche akademische Zeitung) Ebenfalls Herrn Dr. M. Bauer mit Inserat. — Hr. Widemann ist bereits im Besitz eines Exemplars. — Inzwischen ist meine ganze frühere Litteratur aus den Händen des Chemnitzer Verlegers in die mir viel zusagenderen und zutrauenswürdigeren Hände des Hrn. E. W. Fritzsch in Leipzig übergegangen. Ich nehme dies als gutes omen, ebenso wie Ihre heutige Meldung.
Mit ergebenstem Danke der Obige.
739. An Ernst Wilhelm Fritzsch in Leipzig (Postkarte)
<Sils-Maria, 29. August 1886>
Werthester Herr Verleger, so eben ist noch ein Stück Manuscript (zur übersandten Vorrede gehörig) an Sie abgegangen. Ich bitte Sie angelegentlich, den Druck zu beschleunigen: ich will so lange hier bleiben, bis diese Sache in Ordnung ist. —
Ein eigenes Blatt mit Also sprach Zarathustra. Erster Theil scheint mir nicht nöthig. —
Inzwischen hat sich Herr Köselitz bei mir schmerzlich darüber beklagt, daß Sie ihm auf seine Zusendungen nicht geantwortet haben. Sagen Sie, wenn es irgend möglich ist, Ja zu dem wunderschönen Adagio für Clavier (für welches ich den Titel „Nachsommer-Musik“ in Vorschlag bringen möchte.)
Von C. G. Naumann habe ich gute Nachrichten über die Wirkung von „Jenseits v. G. u. B.“. —
Ihr ergebenster Nietzsche
740. An Ernst Wilhelm Fritzsch in Leipzig
Sils-Maria, Oberengadin Schweiz. 29 Aug. <bis 1. September> 86.
Lieber und werther Herr Fritzsch,
hier folgt die Vorrede zur neuen Ausgabe der „Geburt der Tragödie“: Sie können auf diese sehr inhaltreiche und gründlich orientirende Vorrede hin das Buch noch einmal von Stapel laufen lassen, — es scheint mir sogar von größtem Werthe, daß dies geschieht. Alle Anzeichen sprechen dafür, daß man sich in den nächsten Jahren viel mit meinen Büchern beschäftigen wird (— insofern ich, mit Verlaub gesagt, bei weitem der unabhängigste und im großen Stile denkendste Denker dieser Zeit bin —); man wird mich nöthig haben, und alle möglichen Versuche, mir beizukommen, mich zu verstehen, zu „erklären“ usw. machen. Um den gröbsten Fehlgriffen vorzubeugen, scheint mir (abgesehn von dem eben erschienenen „Jenseits von Gut und Böse“) nichts nützlicher als die beiden Vorreden, welche ich mir erlaubte, Ihnen zu übersenden: sie deuten den Weg an, den ich gegangen bin — und, ernsthaft geredet, wenn ich selber nicht ein Paar Winke gebe, wie man mich zu verstehn hat, so müssen die größten Dummheiten passiren. —
Ich kann nicht beurtheilen, in wie fern es geschäftlich und buchhändlerisch rathsam oder unrathsam ist, Bücher desselben Autors zugleich auf den Markt zu bringen. Das Wesentliche ist, daß, um die Voraussetzungen für das Verständniß des Zarathustra zu haben (— ein Ereigniß ohne Gleichen in der Litteratur und Philosophie und Poesie und Moral usw. usw. Sie dürfen mir’s glauben, Sie glücklicher Besitzer dieses Wunderthiers! —) alle meine früheren Schriften ernstlich und tief verstanden sein müssen; insgleichen die Nothwendigkeit der Aufeinanderfolge dieser Schriften und der in ihnen sich ausdrückenden Entwicklung. Vielleicht ist es ebenso nützlich, sogleich jetzt auch die neue Ausgabe der „Geburt“ (mit dem „Versuche einer Selbstkritik“) auszusenden. Dieser „Versuch“, zusammengehalten mit der „Vorrede von Menschl. Allzumenschliches“, ergiebt eine wahre Aufklärung über mich — und die allerbeste Vorbereitung für meinen verwegenen Sohn Zarathustra.
Im Dezember hoffe ich mit den „Vorreden“ fortfahren zu können: nämlich in Nizza, wo es mir bis jetzt niemals um die bezeichnete Zeit an Muth und Inspiration gefehlt hat. Nämlich 1) Menschl. Allzum. Zweiter Band (enthaltend „Verm. M. u. Spr.“ und den „Wanderer“) 2) Morgenröthe 3 fröhl. Wissenschaft.
Ich denke, Sie wissen, lieber Herr Verleger, wie viel Muth und Inspiration gerade zu solchen „Vorreden“ noth thut? und außerdem noch mehr „guter Wille“ —
Nehmen wir an, daß bis zum Frühjahr meine ganze Litteratur, so weit sie in Ihren Händen ist, zum neuen Fluge fertig und neu „beflügelt“ ist. Denn diese „Vorreden“ sollen Flügel sein! (Nur die 4 unzeitgem. Betrachtungen will ich lassen, wie sie sind: deshalb habe ich, in dem letztens übersandten Nachtrag zur Vorrede für Menschl. Allzum., sehr bestimmt auf sie aufmerksam zu machen für nöthig befunden.) — Eine Zeile Antwort hierher erbittend Ihr
ergebenster Dr. Nietzsche Prof.
Theilen Sie mir gefälligst etwas über die Preise der zunächst auszugebenden Bücher mit! Hermann Credner sagte oder schrieb mir einmal, daß die Schmeitzner’schen Preise das größte Hinderniß gewesen sei, das mir bis jetzt im Wege gestanden.
Ein eignes Bändchen mit lauter „Vorreden“ würde gegen den Geschmack sündigen. Man verträgt das schreckliche Vorrede-Wörtchen „ich“ eben nur unter der Bedingung, daß es in dem drauf folgenden Buche fehlt: es hat nur Recht in der Vorrede. —
1. Sept. Eben trifft Brief und Bogen ein. Ist der Nachtrag („eingeschrieben“ an Sie adressirt) noch nicht in Ihren Händen? Um nicht Alles zu verzögern, bitte ich ihn zu lassen (also nicht zu drucken). Um so mehr aber diese Selbstkritik!
741. An Bernhard und Elisabeth Förster in Asuncion
Sils-Maria den 2. September 1886
Meine Lieben in der Ferne,
Vergebung für dies Papier, aber ich weiß gerade keinen Briefbogen zu erwischen, und möchte Sils-Maria doch nicht verlassen, ohne Euch gesagt zu haben, was für schöne Überraschungen und Erquickungen mir in diesem Sommer Eure zwei Briefe gewesen sind. Deiner, mein liebes Lama, kam präcis zur Feier Deines Geburtstags an. Im Ganzen scheint es bei Euch anders zu stehn als bei mir, wo eine Art Ruhe und rückwärts blickende Sammlung eingetreten ist: während Ihr vor dem „Werke“, oder „dem Berge“ steht und vorwärts blickt. Daß ich kurz erzähle, was sich bei mir erledigt hat, so mag zuerst genannt sein, daß die Schmeitzner-Misère, nach zwanzig intermezzi, doch zu Ende gekommen ist: Fritzsch hat Alles an sich gekauft und auch bereits die 62 Centner in seinem Hause, — hoffentlich nicht als „Klumpfuß“! Eben erscheint eine neue Ausgabe von „Menschliches, Allzumenschliches“, mit einer langen Vorrede (ein Druckbogen); vorbereitet wird zu gleichem Zwecke die „Geburt der Tragödie“, bereichert durch einen „Versuch einer Selbstkritik“, worin ich meiner Wagnerei und Romantik von Ehedem gründlich die Wahrheit gesagt habe. Bei C. G. Naumann habe ich vor wenig Wochen etwas Neues von Stapel laufen lassen: „Jenseits von Gut und Böse. Vorspiel einer Philosophie der Zukunft.“ Bis jetzt ist schon die Hälfte der Auflage abgesetzt; Naumann schrieb sehr vergnügt, — es ist als ob ein Bann von meinen Büchern genommen wäre, seit der lähmende und compromittirende Schmeitzner abgeschafft ist. Zuletzt freilich liegt mir nicht genug daran, von diesen gegenwärtigen Deutschen gelesen zu werden: sie haben Andres im Kopfe und in den Händen. Ich will nur, daß sie meine Bücher kaufen, nicht um mich zu bereichern, sondern exakt, daß ich, vollkommen unabhängig von Verlegern, etwas drucken kann und wieder zu meinen Druckkosten komme. So probire ich’s eben. Verzeihung, daß ich das neue Buch noch nicht geschickt habe: aber, eben im Begriff, die Ordre dazu zu geben, sah ich’s mir erst darauf an, ob es Euch Vergnügen machen werde, — und siehe, da schien mir’s gar nicht so! — Mein Aufenthalt in Deutschland hat sich dies Mal so gut gelohnt, wie noch nie; denn Alles war nur persönlich abzumachen. Das Wetter war sehr entgegen, schändlich heiß, schon im Mai (jeden Tag eine ganze Woche lang bis zu 30 Celsius im Schatten!) Freund Rohde in Leipzig saß wie auf einem Marterbett daselbst und nahm nach 6 Wochen Vorlesungen einen Ruf nach Heidelberg an (wo man äußerst glücklich über einen solchen Fang war und ihn umgehend zum Geheimen Hofrath und Mitglied des Badischen Oberschulraths gemacht hat) Ich habe mit ihm kein vernünftiges Wort geredet; mit Heinze habe ich im Rosenthal saure Milch (verzuckert und verzimmtet) gegessen, realiter und symbolice… „Alle Welt“ ist mir „gewogen“, was nicht hindert, daß mich „alle Welt“ seit 16 Jahren mit absoluter Unverständigkeit behandelt. In München liebenswürdiges Entgegenkommen, auch von Levi, der mir für den Fall eines Herbst-Aufenthaltes die schönsten Versprechungen machte: übrigens war er fast noch mehr Bizet-Enthusiast als ich. Er versprach mir, als Finesse ersten Ranges, eine kleine komische Oper von Cornelius: sonderbar! Hier im Engadin entdeckte ich, daß meine Tischnachbarin, ein Mädchen von 17 Jahren, die Schwester des „Barbiers von Bagdad“ — so heißt jene Oper — war, nämlich die Tochter jenes Cornelius (leider sans sa finesse —) Sonst habe ich wieder meine Engländerinnen, die alte Russin, den Holländer aus Java, der sich sehr mir angenähert hat und mir zum Abschied das Bild seines Kindes schenkte (— er hat seine junge Frau verloren und reist nun wieder aus der Sommerfrische im Engadin nach seinem Java zurück: wie rund die Erde wird, meine lieben Südamerikaner, nicht wahr? —) Dann sind c. 10 Universitätsprofessoren hier (in meinem Hause 4), mit denen ein artiger Verkehr stattfindet, ohne daß er mir die Einsamkeit nimmt. Sils, eine Sache ersten Rangs: unsere Halbinsel hat weder in der Schweiz, noch in dem mir bekannten Europa seines Gleichen. Lauter neue Wege: die Stelle, wo ich den Zarathustra ausgedacht habe und einst begraben sein wollte, ist jetzt zugänglich gemacht und als schönste Stelle des Engadin in Ruf gebracht. Was den Winter betrifft, so bleibt es bei Nizza: nur muß ich Jemanden schaffen, der meine Existenz daselbst „wördiger“ gestaltet (denn ich nähere mich dem unheimlichen Zeitpunkte, wo ich ein „berühmtes Thier“ bin und mich gegen Entrée sehen lasse…) Meine Gesundheit hat sich, nach dem Urtheile Aller, die mich wieder gesehn haben, entscheidend verbessert: Anzeichen davon — ich werde grob. Nur die Augen sind zurückgegangen, — weil ich zu viel geguckelt habe. Für die nächsten 4 Jahre ist die Ausarbeitung eines vierbändigen Hauptwerks angekündigt; der Titel ist schon zum Fürchten-Machen: „Der Wille zur Macht. Versuch einer Umwerthung aller Werthe“. Dafür habe ich Alles nöthig, Gesundheit, Einsamkeit, gute Laune, vielleicht eine Frau.
So! Meine Lieben, nun habe ich entsetzlich lang von mir geschwätzt: aber das gehört wohl zu einem Briefe? — Aus der Stimmung, in der das Lama schrieb, dachte ich mir aus, wie Euer Klima ungefähr den Eindruck machen müsse, wie das von Nizza. Schade, daß Ihr so weit davon gelaufen seid! Und ich — professionell ein „guter Europäer“, habe es nicht so leicht, wie Ihr, Europa zu verlassen! Eigentlich darf ich’s nicht einmal. Auch hat mir jeder Capitän gesagt, mit dem ich ein Stückchen von 2—3 Tagen gefahren bin, daß ich zu denen gehöre, die an der Seekrankheit zu Grunde giengen, wenn ich’s weiter triebe, wie ich’s jedes Mal getrieben habe. —
Behaltet mich lieb, behaltet Euch lieb: es grüßt und umarmt Euch
brüderlich-schwägerlich
Euer Fritz.
— rings überall große Gemsenjagd, seit gestern —
742. An Heinrich Köselitz in München
Sils-Maria, am 2. September. Gemsenjagd. 1886.
Lieber Freund,
hier kommt noch Etwas zum Durchlesen: bitte, lassen Sie Ihre kritischen Augen durch diese „Vorrede“ wandern und helfen Sie meiner Orthographie nach — und nicht nur der Orthographie! Sie haben zum Verändern unumschränkte Vollmacht! —
Senden Sie dann den Bogen an E. W. Fritzsch, Leipzig, Königsstrasse 6. — Es könnte vielleicht noch ein Nachtrag zu dieser Vorrede bei Ihnen eintreffen, den ich kürzlich an Fritzsch gesandt habe: doch scheint es mir, nach meiner Erinnerung, daß er etwas zu „persönlich“ gerathen ist, — mag er wegbleiben! Die Vorrede, so wie sie hier vorliegt, hat hoffentlich eine erträgliche Mitte zwischen dem Allzusubjektiven und Allzuobjektiven — jene Mitte, die den guten Geschmack einer Vorrede ausmacht? Oder was meinen Sie? — —
Auch eine neue Ausgabe von der „Geburt der Tragödie“ soll erscheinen, mit einem langen „Versuch einer Selbstkritik“, deren Manuscript schon an F<ritzsch> abgegangen ist. Im Winter will ich noch drei Vorreden machen 1) zum zweiten Bande von Menschl<iches>, Allzumenschliches: derselbe enthält die Vermischten Meinungen und den Wanderer;
-
zur „Morgenröthe“;
-
zur „Fröhlichen Wissenschaft“. Hier auch der angekündigte Lieder-Anhang „Lieder des Prinzen Vogelfrei“.
Auf diese Weise hoffe ich den Büchern ein neues Interesse und, buchhändlerisch betrachtet, auch Flügel zu geben. —
An Fritzsch habe ich kürzlich auch meinerseits den Wunsch ausgedrückt, daß er sich Ihr herrliches Adagio nicht entgehen lassen möge. Würden Sie damit übereinstimmen können, daß es vielleicht den Titel „Nachsommer-Musik“ erhielte? —
Dieses Jahr hat bisher bei mir etwas Aufräumendes und in-Ordnung-Bringendes gehabt. Auf das „Jenseits“ hat nach Naumann’s Bericht das „Publikum“ (oder wer?) tüchtig angebissen. Die ganze Schmeitzner-Misère ist zu Ende. Einzig Sie, lieber lieber Freund, sind noch im Zwischenreiche und purgatorio: oh was erfinden wir zusammen, damit auch Sie „in Ordnung gebracht“, vor Allem wieder „aufgeräumt“ werden? —
Die Cholera in Italien schließt mich auch von Corsika ab: die Inseln sind wie toll vor Angst. —
Seydlitzens sind jetzt wieder zurück und haben mir geschrieben. Bitte, sehen Sie sich seine Japonismen an — und, vielleicht, spielen Sie ihm etwas von Ihren Südlichkeiten und Süßigkeiten (frutta, aber bei Leibe nicht secca!) Was habe ich bedauert, Ihren „Löwen“ nicht in Sils zu haben! Es gab eine eminente Spielerin aus Wien, insgleichen eine Theater-Sängerin aus München, und ein sehr gewähltes „Publikum“ von 7—10 Personen, die von Musik etwas verstehen. Sonderbar! auch die Schwester des „Barbiers von Bagdad“, als meine Tischnachbarin (auf Deutsch: die Tochter des Prof. Cornelius). Übrigens merkte ich, daß Alles, was Artist ist, eigentlich nur für mich sang und spielte: was mich verwöhnen würde, wenn es so fortgienge.
Es scheint mir beinahe, daß Sie in München bleiben wollen? —
Grüßen Sie bestens Frau Rothpletz: Sie haben sie gut gezeichnet; ich glaube, ihr Wunsch zu helfen ist mitunter größer als ihr Zartsinn, aber was macht das! Vor allem ist sie tapfer in ihren Sympathien und Antipathien.
Erfreuen Sie mich recht bald, lieber Freund, mit ein paar Worten über Pläne, Möglichkeiten, Unmöglichkeiten: und ob es etwas giebt, wo ich in’s Spiel komme, wo ich ein Brückchen bauen darf, Ihnen zur Ehre oder zum Nutzen.
Treulich Ihr Freund
N.
NB. Ich sehe, daß ich oben etwas Unklares geschrieben habe: ich wollte sagen, daß Ihre Musik süß, südlich, eine sublime Südfrucht, aber ganz und gar nicht trocken sei.
743. An Franziska Nietzsche in Naumburg (Fragment)
Sils-Maria den 8. Sept. 1886.
[+ + +]
— Du hast mir noch nicht geschrieben, daß Du die 75 Pfennige welche ich Dir für den Naumburger Zahnarzt gegeben habe, demselben eingehändigt hast. Es war für Zahnpulver. —
— Wenn die Druckerei gut von Statten geht, denke ich kurz nach der Mitte des Monats mich auf den Weg zu machen, hinunter ans Meer, bei Genua. Nur soll es noch sehr heiß dort sein. Herr Lanzky will mich empfangen: hätte ich nur etwas Vergnügen und Unterhaltung von diesem braven Menschen, da er mir keine Belehrung giebt! Ich fürchte mich auch vor Nizza in dieser Hinsicht: Himmel, was mich bisher die Menschen gelangweilt haben, und welche gute Miene habe ich dabei noch gemacht! — —
— Unsre Briefe haben sich gekreuzt. Meinen herzlichsten Dank, meine alte gute Mutter: Ein Brieflein hierher wird mich gerade noch erreichen.
In Liebe Dein Fritz
— Könntest Du nicht im Herbst (vielleicht zur Feier meines Geburtstags?) ein schönes Weintrauben-Kistchen an Herrn und Frau E. W. Fritzsch in Leipzig schicken? Königsstrasse 6. Sie sind aus Lützen; und F<ritzsch> hat doch ein großes Vertrauen zu mir bewiesen. —
744. An General Simon in Celerina (Visitenkarte)
Sils-Maria den 8. Sept. 1886.
Verehrter Herr General, meinen ergebensten Dank für Ihre und Ihrer Fräulein Tochter sehr gefällige Vermittlung (aus der sich vielleicht, ganz so wie in Nizza, eine wirkliche Verbesserung meines Lebens ergeben könnte) Es ist wahrscheinlich, daß ich von dieser neuen Möglichkeit Gebrauch machen werde: obschon ich bekennen muß, daß die Entschließung dazu dem „Einsiedler von Sils-Maria“ schwer genug wird, — namentlich seit dieser Ort sich in ein Professoren-Rendezvous zu verwandeln beginnt. Für Ihre Reise meine besten Wünsche; bisher muß, nach Briefen zu urtheilen, die Hitze überall noch groß sein. Mit der Bitte, mir auch fernerhin ein gutes Andenken zu bewahren, bleibe ich, der ich immer war,
Ihr dankbar-ergebener
F. N.
745. An Ernst Wilhelm Fritzsch in Leipzig
<Sils-Maria, um den 8. September 1886>
NB. Ich bleibe bis zum 15ten September noch in Sils-Maria. Bitte dringend bis zum 13ten Alles, was noch zu corrigiren ist, mir in
die Hände zu geben.
F. N.
Geehrtester Herr Verleger, Sie sehen, daß ich Ernst mache, um den Büchern zu einer neuen Reise Flügel zu schaffen. Hier ist die Lösung eines Problems: Sie senden Menschliches, Allzumenschliches in zwei Bänden zusammen in die Welt (nicht etwa zusammengebunden, sondern zu gleicher Zeit!) Ich sehe kein besseres Mittel, um die „Verm<ischten> Mein<ungen>“ und den „Wanderer“ flügge zu machen (Letzteres ist auf der Rückseite des Titelblattes als zweiter Anhang bezeichnet: bitte, sehen Sie nach!) — Die Vorrede zum ersten Band bleibt, wie sie in der ersten Fassung war; der nachträglich übersandte Anfang ist jetzt als Anfang der Vorrede zum zweiten Band verwendet.
Ihr F. N.
746. An Ernst Wilhelm Fritzsch in Leipzig
Sils-Maria Montag <13. September 1886>
Soeben, werthester Herr Verleger, kommt die Vorrede zur „Geburt der Tragödie“. Aber nein! das dürfen Sie mir nicht anthun, — und ich selbst werde es nie zulassen, daß ein Wort von mir von solcher Wichtigkeit, wie es diese Vorrede ist, dermaßen unaesthetisch und unwürdig vor die Welt gebracht wird. Mein Vorschlag war, sie solle genau nach dem Muster der Vorrede in „Jenseits von Gut und Böse“ gedruckt werden; ich wiederhole diesen Vorschlag und bitte überzeugt zu sein, daß ich viel lieber die Kosten eines Drucks gemäß meinem Geschmacke tragen will als in Ewigkeit mich ärgern, wenn ich das Buch später aufschlage. Geben Sie das Ms. an C. G. Naumann’s (die ja auch das Buch selbst gedruckt haben) und, wie gesagt, auf meine Rechnung.
Nichts für ungut!
Ihr ergebenster
Dr. Friedrich Nietzsche.
Abreise in Folge anhaltend schönen Wetters verschoben.
747. An Heinrich Köselitz in München
Sils-Maria, 13 Sept. 1886.
Lieber Freund,
meinen besten Gruß und Dank voran! — Anbei die Bitte, noch die allerletzte (zweite) Revision der Vorrede zum zweiten Bande zu übernehmen. Es sind drei Stücke Manuscript zum Einschieben an Fritzsch abgesandt; ebenfalls die Aufforderung, Ihnen nunmehr Alles zu überlassen. Sie lesen ja meine Schrift so gut wie ich vielleicht nicht. — Schreiben Sie darüber: druckfertig H. K.
Es liegt mir etwas an dieser zweiten Vorrede. Um den ewigen Mißverständnissen in Bezug auf meinen Bruch mit R. W<agner> ein Ende zu machen, habe ich mich entschlossen, die Hauptsache deutlich zu sagen. Es ist freilich damit etwas gewagt. — Übrigens bin ich heil-froh, auf diese schreckliche und lebensgefährliche Wendung als auf ein „Hinter-mir“ blicken zu können. Im Handumdrehen hätte ich daran zu Grunde gehn können; ich bin nicht grob genug dazu, um mich von Menschen trennen zu können, die ich geliebt habe. Aber es ist geschehn: und ich lebe noch. —
Ein Wort hierher, wenn Alles fertig ist: gesetzt, ich reise ab, so folgt mir Alles unverzüglich nach. Wohin? —
Treulich Ihr Freund N.
— Ist es nicht ein Meisterstück und Kunstgriff, wie ich den Fritzsch zur Herausgabe der 2 Bände Menschl<iches> AIlzu<menschliches> gebracht habe? Ich meine, es wird sein Vortheil sein. (Mir scheint es eine Erlösung.)
748. An Heinrich Köselitz in München (Postkarte)
<Sils-Maria, 14. September 1886>
Bitte, lieber Freund, stellen Sie auf Seite V der zweiten Vorrede den Text dergestalt fest:
gegen ein Stück Vergangenheit, gegen die
schönste, auch gefährlichste Meeresstille
meiner Fahrt… und thatsächlich eine
Loslösung, ein Abschiednehmen.
Das letzte Wort also nicht gesperrt! — Ich denke, daß spätestens in 5 Tagen die allerletzten Revisions-Abzüge in Ihren Händen sind. —
Mit der Ausstattung vom „Versuch einer Selbstkritik“ (Einleitungs-Ersatz von „Geburt der Tragödie“) war ich so unzufrieden, daß ich sie sofort an E. W. Fr<itzsch> zurückgesandt habe: mit der Aufforderung, sie C. G. Naumann zu übergeben: der soll sie nach meinem Geschmack und auch auf meine Kosten herstellen. — Hoffentlich erwächst Ihnen, lieber Freund, daraus keine doppelte Arbeit! —
Allerschönstes, mildestes, klarstes September-Wetter! —
Herzlich grüßend F. N.
749. An Constantin Georg Naumann in Leipzig
Sils-Maria, den 19. Sept. 1886.
Geehrtester Herr,
so eben habe ich dem Banquier Kürbitz in Naumburg den Auftrag gegeben, an Ihre werthe Adresse die Summe von 881 Mark abgehen zu lassen: was, wie ich voraussetzen darf, unverzüglich geschehn wird. Für alle Ihre Mittheilungen meinen ergebensten Dank; wenn nicht Alles trügt, so wird dies Buch sich gut verkaufen. Eben fand ich, im Berner Bund, einen Aufsatz über dasselbe, mit dem Titel „Nietzsches gefährliches Buch“, man kann sich keine stärkere Verlockung zum Kaufen denken als sie dieser Artikel giebt. — Jener Herr Dr. Welti, dessen Brief Sie beilegten, ist, wie man mir hier mitgetheilt hat, der Sohn des alten Bundespräsidenten der Schweiz; er gilt als sehr gescheut. —
Ihnen und Ihrem Herrn Bruder sich dankbar empfehlend
Ihr ergebenster
Prof. Dr. Nietzsche
750. An Franziska Nietzsche in Naumburg (Fragment)
<Sils-Maria> 19 Sept 1886.
[+ + +] diese „Vorkämpferin für Frauenrechte“ mit einer andren „Vorkämpferin“ bekannt zu machen, die meine Tischnachbarin ist, Miss Helen Zimmern, etwas sehr Gescheutes, (sie hat die Engländer mit Schopenhauer bekannt gemacht) übrigens nicht Engländerin, sondern — Jüdin. Der Himmel erbarme sich des europäischen Verstandes, wenn man den jüdischen Verstand davon abziehen wollte! Man erzählte mir von einem jungen Mathematiker in Pontresina, der vor Aufregung und Entzücken über mein letztes Buch ganz die Nachtruhe verloren habe; als ich genauer nachfragte, siehe, da war es auch wieder ein Jude (ein Deutscher läßt sich nicht so leicht im Schlafe stören —) Verzeihung für diese Scherze, meine gute Mutter! — Übrigens habe ich die Zusammenkunft mit Herrn Lanzky hintertrieben, ich bekam Angst, er möchte mich wieder so langweilen wie vor zwei Jahren. Vor Nizza fürchte ich mich, von wegen der eifersüchtigen alten Frauen, aber es wird doch nichts Anderes herauskommen. Nur daß ich vielleicht eine Zwischenstation in der Nähe von Genua mache. Hier geht der Rest der Gesellschaft in dieser Woche fort, ich also auch: da es nachher mit der Ernährung hapert. —
Ich bedarf sehr der Erholung: es ist schlimm, daß ich gar keine Menschen habe, die es verstünden, mich zu erholen.
Für Deine schöne Versprechung in Betreff eines Kistchens danke ich Dir herzlich: aber, wie gesagt, ich bin auf der Abreise. — Fritzschens Adresse ist: Leipzig, Königsstr. 6
Deine Nachrichten über unsre Südamerikaner haben etwas Beunruhigendes: es läuft auch da drüben, wie es scheint, auf die alte Nervenaufregung und Hetzerei hinaus? — Das Lama als Landwirthin, welche Butter und Milch verkauft! Nein, welche Komödie! —
Dein alter Sohn.
Adresse: Genova (Italia) poste restante.
751. An Heinrich Köselitz in München (Postkarte)
<Sils-Maria, 20. September 1886>
Lieber Freund, ich entschließe mich schwer, fort zu gehn, weiß auch noch nicht, wohin. Nach Corsika nicht; auch Nizza ist mir verleidet, seit ich Sie nicht mehr daselbst erwarten darf. Wo giebt es Menschen, die mich etwas zu erholen vermöchten!
Bitte, geben Sie mir noch hierher Auskunft, ob die Schluß-Redaktion der 2ten Vorrede in Ihren Händen ist: ebenfalls ob Fritzsch sich entschlossen hat, die Selbstkritik genau so wie die Vorreden auszustatten. Ich lege großen Werth darauf. Der „Bund“ hat, aus der Feder des Redakteurs V. Widmann, einen starken Aufsatz über mein Buch, unter dem Titel Nietzsche’s gefährliches Buch. Gesammt-Urtheil „das ist Dynamit“.
Schließliche Anfrage: wo giebt es jetzt Carmen zu hören? Ist es in München vorbereitet? — Daß Sie wieder componiren, erbaut mich sehr: oh daß Sie über Portofino säßen, in Ruta, bei der Pinie, wo man das Promontorio für sich hat! Bleiben Sie südlich, und sei es auch nur dem Glauben nach!
N.
Abreise Ende der Woche.
752. An Paul Deussen in Berlin
<Sils-Maria, um den 20. September 1886>
Lieber alter Freund,
es giebt, wie man mir mittheilt, den schönsten Anlaß, Dir Glück zu wünschen — oder vielmehr nicht einmal erst zu wünschen. Halte fest, was Du jetzt hast, mein alter Freund und Kamerad, sonderlich wenn das „Glück“, wie in Deinem Falle, ein gutes Weib ist; denn das Glück läuft gar zu gerne von Unsereinem davon (nämlich von uns Philosophen und Unthieren der Erkenntniß…)
Zum Zeichen, wie gern ich einmal mich wieder in Deiner Nähe wissen würde, habe ich mir erlaubt, Dir mein jüngstes und bösartigstes Kind zuzusenden: hoffentlich lernt es in Deiner Nähe etwas „Moralität“ und Vedanteske Würde, da es an Beidem von seinem Vater her Mangel leidet. „Jenseits von Gut und Böse“ heißt es; eben las ich bereits einen furchtbar ernsten Aufsatz darüber unter dem Titel „Nietzsches gefährliches Buch“ — es wird das Thema durchfigurirt „das ist Dynamit“…
Was liegt darin! War jemals ein Mensch verwegener zu den Dingen gestellt, als ich? Man muß es aushalten können: das ist die Probe; was man dazu „sagt“, davon „denkt“, ist mir gleichgültig. Schließlich — ich will nicht für heute und morgen, sondern für Jahrtausende Recht behalten.
Diesen Sommer sprach ich öfter über Dich mit Leskien (Sils Maria ist nämlich in der zweiten Hälfte des Sommers ein wahres Professoren-Rendezvous: so daß der alte „Einsiedler von Sils-Maria auf dem Laufenden erhalten wird — — ja, ja, auf dem Laufenden, aber zum Davonlaufen, was die heutigen deutschen Universitäts-Bildungs-Zustände anbetrifft). Leskien erzählte von der außerordentlichen Schätzung, welche Böthlingk für Dein Werk habe; er meinte, es würde leichter sein, Dir eine Sanskrit-Professur als einen Lehrstuhl (Lehnstuhl) für Philosophie zu schaffen. Im Grunde hättest Du Dich mit Deiner Doppel-Begabung zwischen zwei Stühle gesetzt: — man läßt ja nach alter Gelehrten-Gewöhnung nur die „Spezialität“ gelten, man darf nicht zweien Herrn dienen, zumal wenn es zwei Weiber sind, wie Philologie und Philosophie…
Mir selbst hat Dein Buch immer von Neuem wieder tiefes Interesse und Belehrung gegeben: ich wünschte, es gäbe etwas ähnlich Klares, Dialektisch-Durchgearbeitetes auch für die Sankhya-Philosophie. —
Behalte in gutem Gedächtnisse Deinen
Freund Friedrich Nietzsche.
753. An Hippolyte Taine in Meuthon St. Bernard (Entwürfe)
<Sils-Maria, etwa um den 20. September 1886>
Verehrter Herr
mein Buchhändler hat von mir den Auftrag erhalten, Ihnen ein Exemplar meines letzten Buchs zu übersenden; ich denke, daß er seine Schuldigkeit thun wird und halte meinerseits ein paar Worte für nöthig, die
der Auftrag, den ich m<einem> V<erleger> gab, Ihnen <ein Exemplar meines letzten Buches zu übersenden,> wird hoffentlich erfüllt sein: gestatten Sie mir ein paar Worte, um die
Freiheit, welche ich mir hiermit gegen Sie nehme, zu rechtfertigen.
Das übersandte Werk ist schwer verständlich, voller Hintergedanken, eine fremde Denkweise vielleicht mehr noch verbergend als verrathend: welchen Lesern kann ein solches Buch billigerweise zugemuthet werden? Den Allerwenigsten jedenfalls, den wirklichen Räthselrathern, den historischen „Zeichendeutern“. Dabei dachte ich zum Beispiel an meinen verehrten alten Freund Jakob Burckhardt in Basel; nehmen Sie es wohlwollend auf, hochverehrter Herr, daß ich dabei auch an Sie gedacht habe, dessen Muth, Feinheit, Ausdauer und geistige Umfänglichkeit innerhalb unsres zweifelsüchtigen Europas zu den bestbewiesenen Thatsachen gehört.
Überdies
sind Sie einer der Entdecker Henri Beyles auch ich bin Einer
gäbe es zwischen uns etwas Gemeinsames: Ihre Liebe zu
dem letzten großen Psychol<ogen> H<enri> B<eyle>
Es giebt Wahrheiten, die nur „ins Ohr gesagt“ werden dürfen: laut ausgesprochen, würden sie nicht gehört. Versuchen Sie es, ob mein Buch dergleichen Wahrheiten enthält.
Darf ich Einem der tapfersten und unabhängigsten meiner Zeitgenossen ein Buch in die Hände legen, in dem etwas gewagt wird, das bisher nicht seines Gleichen hatte? Ein großes Geheimniß drückt wie eine große Verantwortlichkeit, — und verlangt Ohren in denen es — — —
754. An Jacob Burckhardt in Basel
Sils-Maria, Oberengadin, 22. Sept. 1886
Hochverehrter Herr Professor,
es thut mir wehe, so lange Sie nicht gesehn und gesprochen zu haben! Mit wem möchte ich eigentlich noch sprechen, wenn ich nicht mehr zu Ihnen sprechen darf? Das „silentium“ um mich nimmt überhand. —
Hoffentlich hat inzwischen C. G. Naumann seine Schuldigkeit gethan und mein letzthin erschienenes „Jenseits“ in Ihre verehrten Hände gelegt. Bitte, lesen Sie dies Buch, (ob es schon dieselben Dinge sagt, wie mein Zarathustra, aber anders, sehr anders —). Ich kenne Niemanden, der mit mir eine solche Menge Voraussetzungen gemein hätte wie Sie: es scheint mir, daß Sie dieselben Probleme in Sicht bekommen haben, — daß Sie an den gleichen Problemen in ähnlicher Weise laboriren, vielleicht sogar stärker und tiefer noch als ich, da Sie schweigsamer sind. Dafür bin ich jünger… Die unheimlichen Bedingungen für jedes Wachsthum der Cultur, jenes äußerst bedenkliche Verhältniß zwischen dem, was „Verbesserung“ des Menschen (oder geradezu „Vermenschlichung“) genannt wird, und der Vergrößerung des Typus Mensch, vor Allem der Widerspruch jedes Moralbegriffs mit jedem wissenschaftlichen Begriff des Lebens — genug, genug, hier ist ein Problem, das wir glücklicher Weise, wie mir scheint, mit nicht gar Vielen unter den Lebenden und Todten gemein haben dürften. Es aussprechen ist vielleicht das gefährlichste Wagniß, das es giebt, nicht in Hinsicht auf den, der es wagt, sondern in Hinsicht auf die, zu denen er davon redet. Mein Trost ist, daß zunächst die Ohren für meine großen Neuigkeiten fehlen, — Ihre Ohren ausgenommen, lieber und hochverehrter Mann: und für Sie wiederum werden es keine „Neuigkeiten“ sein! — —
Treulich
der Ihre
Dr. Friedrich Nietzsche.
Adresse: Genova, ferma in posta.
755. An Ernst Wilhelm Fritzsch in Leipzig
Sils-Maria 24. Sept. 1886.
Werthester Herr Verleger,
inzwischen wird der durchcorrigirte Bogen (mit dem Vermerk „Vorausgesetzt“) Ihnen gezeigt haben, daß ich von selbst auf die Vermuthung gekommen bin, es möchte sich hier nur um ein Mißverständniß zwischen Verleger und Drucker handeln. Also Versöhnung mit der Officin Röder, vorausgesetzt, wie gesagt, daß diese Vorrede genau nach dem Maaßstabe der 2 anderen hergestellt wird. —
Ich bin auf der Abreise. Meine Adresse ist für die nächste Zeit:
Genova (Italia) poste restante. Um Verwechselungen zu verhüten, empfehle ich auf allen Adressen den Namen Nietzsche zu unterstreichen (die italiänischen Postbeamten wissen bei deutschen Adressen oft nicht, was Hauptname und Vorname ist, da die Italiäner die Gewohnheit haben, den Vornamen nachzusetzen)
In Betreff der von Ihnen vorgelegten Alternative würde ich sehr befürworten, die drei Werke als nova für Rechnung auf 1887 zu versenden — also erst im Dezember! Inzwischen nämlich wird mein letzthin herausgegebenes „Jenseits“ die Aufmerksamkeit hinreichend auf meinen Namen lenken und dient insofern als „Appetitmacher“ und Stomachicum für meine Art von Litteratur (— die nicht zur „leichten“ gehört! —)
— Der „Bund“ hatte zwei Artikel über das genannte Werk unter dem Titel: Nietzsches gefährliches Buch. Der Anfang lautete: „Jene Wagen, welche den zum Bau der Gotthardbahn nöthigen Dynamit an Ort und Stelle zu bringen hatten, trugen eine schwarze, auf Todesgefahr deutende Flagge...“ Der ganze Aufsatz war ein Muster von unfreiwilliger Reklame. —
Haben Sie die Gefälligkeit, mir von jedem der drei Werke ein fertiges Exemplar zu senden, sobald es fertige Exemplare giebt. Und, wie gesagt, nach Genova, poste restante.
Ihr ergebenster
Prof. Dr. Nietzsche
756. An Malwida von Meysenbug in Rom
<Sils-Maria,> 24. Sept. 1886.
Verehrte Freundin.
letzter Tag in Sils-Maria; alle Vögel bereits fortgeflogen; der Himmel herbstlich-düster; die Kälte wachsend, — also muß der „Einsiedler von Sils-Maria“ sich auf den Weg machen.
Nach allen Seiten habe ich noch Grüße ausgeschickt, wie Jemand, der auch mit seinen Freunden die Jahres-Abrechnung macht. Dabei ist mir eingefallen, daß Sie seit lange keinen Brief von mir haben. Eine Bitte um Ihre Adresse in Versailles, welche ich brieflich an Fräulein B. Rohr in Basel ausgesprochen habe, ist mir leider nicht erfüllt worden. So sende ich denn diese Zeilen nach Rom: wohin ich auch vor Kurzem ein Buch adressirt habe. Sein Titel ist „Jenseits von Gut und Böse, Vorspiel einer Philosophie der Zukunft“. (Verzeihung! Sie sollen es nicht etwa lesen, noch weniger mir Ihre Empfindungen darüber ausdrücken. Nehmen wir an, daß es gegen das Jahr 2000 gelesen werden darf…)
Für Ihre gütige Erkundigung bei meiner Mutter, von der ich dieses Frühjahr hörte, danke ich Ihnen von Herzen. Ich war gerade in übler Verfassung: die Wärme, an die ich Gletscher-Nachbar nicht mehr gewöhnt bin, erdrückte mich beinahe. Dazu fühle ich mich in Deutschland wie von lauter feindlichen Winden angeblasen, ohne irgend welche Lust oder Verpflichtung zu spüren, meinerseits dagegen zu blasen. Es ist einfach ein falsches Milieu für mich, was die Deutschen von heute angeht, geht mich nichts an, — was natürlich kein Grund ist, ihnen gram zu sein. —
So hat sich denn der alte Liszt, der sich auf’s Leben und Sterben verstand, nun doch noch gleichsam in die Wagner’sche Sache und Welt hinein begraben lassen: wie als ob er ganz unvermeidlich und unabtrennlich hinzugehörte. Dies hat mir in die Seele Cosima’s hinein weh gethan: es ist eine Falschheit mehr um Wagner herum, eins jener fast unüberwindlichen Mißverständnisse, unter denen heute der Ruhm Wagner’s wächst und ins Kraut schießt. Nach dem zu urtheilen, was ich bisher von Wagnerianern kennen gelernt habe, scheint mir die heutige Wagnerei eine unbewußte Annäherung an Rom, welche von innen her dasselbe thut, was Bismarck von außen thut.
Selbst meine alte Freundin Malvida — ah, Sie kennen sie nicht! — ist in allen ihren Instinkten grundkatholisch: wozu sogar noch die Gleichgültigkeit gegen Formeln und Dogmen gehört. Nur eine ecclesia militans hat die Intoleranz nöthig; jede tiefe Ruhe und Sicherheit des Glaubens erlaubt die Skepsis, die Milde gegen Andere und Anderes…
Zum Schluß schreibe ich Ihnen ein paar Worte über mich ab, die im „Bund“ (16. und 17. Sept.) zu lesen sind. Überschrift: Nietzsches gefährliches Buch.
„Jene Dynamitvorräthe, die beim Bau der Gotthardbahn verwendet wurden, führten die schwarze, auf Todesgefahr deutende Warnungsflagge. — Ganz nur in diesem Sinne sprechen wir von dem neuen Buche des Philosophen Nietzsche als von einem gefährlichen Buche. Wir legen in diese Bezeichnung keine Spur von Tadel gegen den Autor und sein Werk, so wenig als jene schwarze Flagge jenen Sprengstoff tadeln sollte. Noch weniger könnte es uns einfallen, den einsamen Denker durch den Hinweis auf die Gefährlichkeit seines Buchs den Kanzelraben und den Altarkrähen auszuliefern. Der geistige Sprengstoff, wie der materielle, kann einem sehr nützlichen Werke dienen; es ist nicht nothwendig, daß er zu verbrecherischen Zwecken mißbraucht werde. Nur thut man gut, wo solcher Stoff lagert, es deutlich zu sagen „Hier liegt Dynamit!“
Seien Sie mir also, verehrte Freundin, dafür hübsch dankbar, daß ich mich von Ihnen ein wenig ferne halte!... Und daß ich mich nicht darum bemühe, Sie auf meine Wege und „Auswege“ zu locken. Denn, um nochmals den „Bund“ zu citiren:
„Nietzsche ist der Erste, der einen neuen Ausweg weiß, aber einen so furchtbaren, daß man ordentlich erschrickt, wenn man ihn den einsamen, bisher unbetretenen Pfad wandeln sieht!“...
Kurz und gut, es grüßt Sie von Herzen
Der Einsiedler von Sils-Maria.
Adresse zunächst: Genova: ferma in posta.
757. An Emily Fynn in St. Moritz
Ruta Ligure 2 Octob. 1886
Verehrteste Frau,
erster Versuch, ein Paar Worte aus einer neuen Welt heraus zu schreiben: Verzeihung, wenn die Feder es nur bis zu Klecksen bringt!
Links der Golf von Genua bis zum Leuchtthurm; unter dem Fenster und nach den Bergen zu Alles grün, dunkel, erquicklich für das Auge. Das Albergo Italia reinlich und gefällig eingerichtet: die Küche abscheulich; noch keinen ordentlichen Bissen Fleisch zu sehen bekommen. Um so preiswürdiger ist die reine und nicht erschlaffende Luft, die Gänge hoch zwischen zwei Meeren, ein Pinienwald mit fast tropischer Üppigkeit. Wir haben schon drei Mal grosse Feuer angezündet; es giebt nichts Schöneres als die Flammen gegen den reinen Himmel lodern zu sehn. —
Einsamkeit wie auf einer Insel des griechischen Archipelagus; rings zahllose Bergketten. Mein Freund aus Florenz seit vorgestern einlogirt. —
Unten, in Portofino, weilen gerade der deutsche Kronprinz, zusammen mit dem Grafen von Paris, — und Herr von Keudell: ein Zusammentreffen, das zu denken giebt. —
— Es ist kein Zweifel, dass Portofino es verdient, in Musik gesetzt zu werden. Im Vergleich zur Riviera ist es stiller, heimlicher, auch anständiger, und weniger africanisch.
— Ich danke von Herzen für den telegraphischen Reise-Glückwunsch, der ganz im rechten und letzten Augenblicke an den Einsiedler von Sils-Maria eintraf. Eine Stunde später: und der letzte Vogel flog davon. —
„Nun geht der Winter los“, sagte mein Wirth als ich abreiste.
Hoffentlich ein guter, sonniger, stärkender Winter! Ein deutscher Herr aus Genua sagte mir gestern, wenn er freie Verfügung über sich hätte, so würde er den Winter nie in Genua, sondern in St. Moritz zubringen.
So geht es! Er wünschte sich eben dorthinauf, von wo ich eben herabgeflogen war!
— Vielleicht haben Sie also „das bessere Theil“ erwählt? … Zum Mindesten ist dies mein herzlicher Wunsch, wenn ich an Sie und Ihre verehrte Freundin denke, der ich meine ergebensten Grüsse auszurichten bitte.
In dankbarer Erinnerung
Ihr Prof. Dr. Nietzsche
758. An Constantin Georg Naumann in Leipzig
Ruta Ligure (Italia) 4. October 1886.
Werthester Herr Verleger,
in Erwiderung Ihres gefälligen Briefes will ich dies Mal nur meine Ungeneigtheit ausdrücken, auf den Wunsch des Herrn Conradi einzugehn. Solche vierundzwanzigjährige Dichterlinge sind die letzten Leser, die ich mir wünsche; noch weniger möchte ich von ihnen gelobt und öffentlich ausposaunt sein. —
Die Adresse des Herrn Köselitz ist: München, Türkenstrasse 33 III r. Meine eigene Adresse: Nizza (France) poste restante.
Mit den besten Wünschen
Ihr ergebenster Dr. F. Nietzsche
759. An Heinrich Köselitz in München
c. 400 Meter überm Meer, an der Straße, über das Joch von Portofino führend. Ruta Ligure, 10. Octob. 1886
Lieber Freund,
ein Wort aus diesem wunderlichen Welt-Winkel, wo ich Sie selbst lieber wüßte als in München. Denken Sie sich eine Insel des griechischen Archipelagos, mit Wald und Berg willkürlich überworfen, welche durch einen Zufall eines Tags an das Festland herangeschwommen ist und nicht wieder zurück kann. Es ist etwas Griechisches daran, ohne Zweifel: andrerseits etwas Piratenhaftes, Plötzliches, Verstecktes, Gefährliches; endlich, an einer einsamen Wendung, ein Stück tropischen Pinienwaldes, mit dem man aus Europa weg ist, etwas Brasilianisches, wie mir mein Tischgenosse sagt, der die Erde mehrmals umreist hat. Ich lag nie so viel herum, in wahrer Robinson-Insularität und -Vergessenheit; mehrfach auch lasse ich große Feuer vor mir empor lodern. Die reine unruhige Flamme mit ihrem weißgrauen Bauche sich gegen den wolkenlosen Himmel aufrichten zu sehn — Haidekraut rings herum, und jene October-Seligkeit, welche sich auf hundert Arten Gelb versteht — oh lieber Freund, ein solches Nachsommer-Glück wäre etwas für Sie, ebensosehr und vielleicht noch mehr als für mich! Im Albergo d’Italia (das vorzüglich reinliche Zimmer hat, leider eine italiänische Küche alla Veneziana) wohne ich für 5 frs. den Tag, tutto compreso, auch der Wein. Der Hr. Altsmann, der jetzt mit im Hôtel wohnt (Lehrer an dem Istituto technico in Genova) sagt mir, daß man viel billiger leben könne, wenn man sich ein einzelnes Zimmer in einem der hübschen ringsum zerstreuten Häuser miethe; seine zwei Mahlzeiten im Hôtel werde man für 2 1/2 frs. (vino compreso) arrangiren können.
Hierher habe ich Sie mir gedacht, mein lieber Freund, daß Sie den Muth und die Inspiration finden möchten, Ihren Lebensweg weiter zu gehn und Ihr Lebenslied immer schöner zu singen. Man kann hier das ganze Jahr sein und arbeiten, nach Urtheil und Erfahrung des Professor Altsmann; es giebt einen venticello, eine leichte spielende Vorgebirgs-Luft, welche auch den Sommer hier zu leben anräth: darauf hin giebt es viele Villen alter Seekapitäne oder Genueser, auch die eines englischen Zahnarztes (der z. B. eine kleine Wohnung von 3 Räumen, möblirt, das Jahr für 300 frs. anbietet). Gesetzt, Sie fänden aus meinen Worten etwas heraus, worauf hin Sie selbst Pläne zu machen anfiengen, so will ich Ihnen einen ausgezeichneten ernsten Deutschen in Genua nennen, der um meinetwillen Ihnen gewiß mit Rath und That entgegenkommen wird. Schreiben Sie, bitte, an mich mit dieser Adresse: Nizza (France) poste restante. —
Treulich Ihr Freund
Nietzsche.
Jener erwähnte Deutsche heißt Zilliken (Genova, Vico di Negri 4); ich will ihn morgen besuchen und ihm von Ihnen erzählen. (Er ist Kaufmann oder Banquier)
Gehen Sie, bitte, zu Maler Hans Bartels (der auch Ruta und diese Küste kennt), bringen Sie meine Grüße und vielleicht auch jene 2 Nummern des „Bund“ zum Lesen, welche Naumann Ihnen gesendet hat.
Anbei ein Brief Hegar’s über den „Hymnus an das Leben“. Ihre Mitbetheiligung habe ich absolut verschwiegen.
Lieber Freund, wäre es Ihnen möglich (vorausgesetzt, daß Sie mir eine große Weihnachts-Freude machen wollen —) jenem „Hymnus an das Leben“ ein Klavier-Arrangement angedeihn zu lassen (vierhändig, mit jenem Raffinement der Vierhändigkeit, auf welches man sich jetzt versteht und von dem ich, als ich jung war, gar nichts wußte). In diesem Falle würde ich mir erlauben, das Manuscript an Ihre Münchner Adresse zu senden.
F. N.
760. An Franziska Nietzsche in Naumburg (Postkarte)
<Ruta, 10. Oktober 1886>
Meine liebe Mutter, mit herzlichem Danke Deinen Brief endlich erhalten; er war in Genua auf der Post, also von Sils mir nachgeschickt. Willst Du mir jetzt schreiben, so adressire: Nizza (France) poste restante. Aber nichts senden! Für die gütige Intention der Sandtorte bedanke ich mich schönstens, ebenfalls über die Nachricht von jenem theologischen Gedichte. Inzwischen gieng es nicht zum Besten; ich war der letzte Vogel, der aus Sils davonflog. Hier an der Küste war es freilich sehr warm; aber auf Bergrücken zwischen 2 Meeren wandelnd, viel im Schatten liegend, auch große Feuer zum Vergnügen anzündend, habe ich’s ausgehalten. Das Schlimmste war die abscheuliche Ernährung — und, daß ich nicht allein war! Herr L<anzky> (der mir die Einsamkeit nimmt, ohne mir die Gesellschaft zu geben), geht aber glücklicher Weise nicht mit nach Nizza. So viel ist erreicht. — Herrlicher Brief des Prof. Jakob Burckhardt über mein „gefährliches Buch“ wie es die Zeitungen nennen. In Liebe Dein alter Sohn.
F.
761. An Franz Overbeck in Basel
Ruta Ligure 12 Oct. 1886
Lieber Freund,
gestern kam Dein Brief (mit dem Gelde) in meine Hände, der mich über Deine Basler Wohnungsnoth unterrichtete. Nein, welche Tribulation! Welche Koboldigkeit des Zufalls! Ich drücke Dir und Deiner lieben Frau mein herzlichstes Bedauern aus. —
Schöner, erquicklicher Herbst, nach einem Jahre, das für mich mancherlei Spannung, aber noch mehr Lösung und Abthun mit sich brachte. Das Letzte ist, daß zwei meiner früheren Bücher in neuen Ausgaben erscheinen, die „Geburt der Tragödie“, bereichert durch einen als Vorrede vorauslaufenden „Versuch einer Selbstkritik“, den ich Deiner Aufmerksamkeit empfehle; insgleichen Menschliches Allzumenschliches in 2 Bänden, mit langen Vorreden, in denen einige Winke für solche gegeben sind, welche sich ernsthaft auf mein „Verständniß“ vorbereiten wollen. Übrigens hat es mit dem „Verstandenwerden“ etwas auf sich; und ich hoffe und wünsche, es möge noch eine gute Zeit dauern, bis es dazu kommt. Am besten wäre es wohl erst nach meinem Tode. Es hat mich ordentlich beruhigt, daß auch ein so feiner und wohlwollender Leser, wie Du es bist, immer noch zweifelhaft darüber bleibt, was ich eigentlich will: meine Angst war groß geworden gerade in der umgekehrten Richtung, nämlich, daß ich dies Mal etwas zu deutlich gewesen sei und „mich“ zu früh schon verrathen habe. Es liegt auf der Hand: ich muß erst noch eine Menge erzieherischer Prämissen geben, bis ich mir endlich meine eignen Leser gezüchtet habe, ich meine Leser, die meine Probleme sehn dürfen, ohne an ihnen zu zerbrechen. Ein Aufsatz des Dr. Widmann im Bund (vom 16. und 17. Sept., lies ihn!) gab mir die Besorgniß, daß das Auge aller Art Polizei auf mich vorzeitig gelenkt werde; der Titel des Aufsatzes war „Nietzsches gefährliches Buch“, der erste Satz lautete ungefähr: „jene Dynamitvorräthe, die beim Bau der Gotthardbahn verwendet wurden, führten die schwarze, auf Todesgefahr deutende Warnungsflagge.“ —
Meine Adresse ist von nun an wieder: Nizza (France) poste restante. — Über meine „Stimmung“ darfst Du unbesorgt sein; ich sollte denken, die aggressive und militärische Laune meines letzten Buchs sei ein gutes Symptom? —
J. Burckhardt’s Brief, der kürzlich anlangte, betrübte mich, trotzdem er voll von der höchsten Auszeichnung für mich war. Aber was liegt mir jetzt daran! Ich wünschte zu hören „das ist meine Noth! Das hat mich stumm gemacht!“ — In diesem Sinne allein, mein alter Freund Overbeck, leide ich an meiner „Einsamkeit“. An Menschen fehlt mir’s nirgends, aber an solchen, mit denen ich meine Sorgen, meine Sorgen gemein habe! — Aber das ist eine alte Geschichte; und ich habe es hübsch bewiesen, daß ich es trotzdem aushalte. —
In Sils (welches ein Professoren-Rendezvous wird —) hatte ich Verkehr mit Deinem Collegen Brieger, welcher wünschte, Dir durch mich empfohlen zu sein. Er sagte, ernsthaft und ohne Koketterie, die Leipziger hätten sich vergriffen bei seiner Wahl, sie hätten Harnack nehmen müssen. — Maurenbrecher brachte Heinze’s Grüße; insgleichen hat sich Pflugk-Hartung mir vorgestellt. Auch mein Holländer war da u.s.w. u.s.w.
Treulich Dein
Nietzsche
762. An Ernst Wilhelm Fritzsch in Leipzig (Postkarte).
<Nervi, 13. Oktober 1886>
Werthester Herr Verleger, beim Rückblick auf das letztvergangene Jahr — denn der 15. October ist mein Geburtstag — erinnere ich mich mit Dankbarkeit daran, daß mir in demselben von Niemandem ein größeres Zeichen von Vertrauen gegeben worden ist als von Ihnen. Möge Ihnen dasselbe vergolten werden, wie sich’s gebührt, in jedem Sinne! — Meine Adresse ist von nun an (und für den ganzen Winter): Nizza (France) poste restante; dahin bitte ich vor Allem die fertigen Exemplare, um welche ich im letzten Briefe bat, zu senden. — Ihnen und Ihrer Frau Gemahlin sich angelegentlich empfehlend
Ihr Prof. Dr. Nietzsche
763. An Gottfried Keller in Zürich
Ruta Ligure 14. Octob. 1886.
Hochverehrter Herr,
inzwischen habe ich mir die Freiheit genommen, einer alten Liebe und Gewohnheit gemäß, Ihnen mein letztes Buch zu übersenden; mindestens bekam mein Verleger C. G. Naumann den Auftrag dazu. Vielleicht geht dies Buch mit seinem Fragezeichen-Inhalte wider Ihren Geschmack: vielleicht nicht seine Form. Wer sich ernsthaft und mit herzlicher Neigung um die deutsche Sprache bemüht hat, wird mir schon einige Gerechtigkeit widerfahren lassen müssen: es ist Etwas, so sphinxartige und stummgeborne Probleme, wie die meinen sind, zum Reden zu bringen. —
Im letzten Frühling bat ich meine alte Mutter, mir Ihr Sinngedicht vorzulesen, — und wir Beide haben Sie dafür aus vollem Herzen gesegnet (auch aus vollem Halse: denn wir haben viel gelacht): so rein, frisch und körnig schmeckte uns dieser Honig. —
Mit dem Ausdruck treuer Anhänglichkeit und Verehrung
Ihr Prof. Dr. Friedrich Nietzsche.
764. An General Simon in Siena (Entwurf)
<Nizza, um den 20. Oktober 1886>
Ein Gruß aus Nizza — denn ich habe es gemacht, wie dies Mal es alle Welt zu machen scheint und bin zeitiger als sonst nach Nizza gegangen. In der That hat die saison hier gut begonnen: in der Stadt verspricht man sich dies Mal sogar etwas Glänzendes. In unsrer Pension de Genève ist bereits die halbe Tafel voll geworden, Alles ist täglich im Gange, die benachbarte Villa Speranza gehört jetzt mit zum Hôtel, so daß es gegen 40 Zimmer mehr giebt als sonst; ich selber wohne in diesem Nebenhause, aus Gründen der Ruhe, und weil ich ein großes hohes Zimmer brauche, um arbeiten zu können. Vorhin sagte mir Mad. Savornin (welche großen Werth darauf legen würde, Sie und Ihre Frl Tochter wieder unter ihren Gästen zu haben) sie werde Alles thun, damit Sie es bequemer hätten, als das letzte Jahr Ihres Hierseins und zb. nicht so hoch zu steigen hätten: kurz, sie offerirt Ihnen ein anderes tiefer gelegenes Zimmer. Es sind auch die alten Gesichter wieder unter der Bedienung, die fleißige Rosalie, dann der Kellner vom Winter 1884—5, als Kassirerin Frau OKonnor; neu ist die jüngste Schwester von Mad. Savornin. Ungefähr 6 Gäste vom vorigen Winter habe ich wiedererkannt. — Bei Tisch erzählte mir ein Italiäner, der in Verbindung mit den offiziellen Kreisen Roms ist, daß daselbst die Cholera in weit höherem Grade hause als man das in der Presse eingestehen dürfe: c. 50 Fälle den Tag. In der That scheint die Begünstigung, welche die Riviera dies Mal seitens der Fremden erfährt, zu einem guten Theil von dem Mißtrauen abzuhängen, welches das durchseuchte Italien macht.
765. An Franziska Nietzsche in Naumburg (Entwurf)
<Nizza, um den 26. Oktober 1886>
Dem religiösen Gedicht solltest Du keine solche Ehre anthun, meine gute liebe Mutter: dergleichen drechselt man als Gymnasiast auf Bestellung. Genau gesprochen, mit einem thüringischen Charakter im Leibe kommt es Unser Einem auf eine Handvoll Lügen nicht an, sofern es sich nämlich um eine Gefälligkeit handelt; und eine Gefälligkeit gegen den alten Niese war es, daß ich damals dies offizielle Gedicht machte, während alle meine Kameraden Nein sagten. —
Bis jetzt ist wenig Gutes zu melden; kein Mensch in der Welt sorgt mehr für mich, die lästigsten Zufälle, denen ich nicht gewachsen bin, fallen über mich her
766. An Franziska Nietzsche in Naumburg (Fragment).
<Nizza, um den 26. Oktober 1886>
[+ + +] hier in Nizza. —
Dein guter Brief war mein Empfang in Nizza. Dem Gedicht, welches Du für mich abgeschrieben hast, möchte ich nicht so viel Ehre geben, wie Du thust: es ist aus Gefälligkeit gegen den alten Niese gemacht. Wir Thüringer mit unsrem nachgiebigen Charakter thun manche Dinge, die wir eigentlich nicht thun sollten. —
Heinze’s sind gut gegen mich: aber, da sie nichts davon halten, auch vielleicht nichts davon verstehen, wer ich eigentlich bin, was ich eigentlich will, so darf man kein Haus auf sie bauen. Dasselbe gilt leider von fast allen meinen noch übrigen menschlichen Beziehungen. Ich habe kein Amt, folglich auch keine „Autorität“: wer mir jetzt noch gewogen ist, macht sich privatim ein wenig über mich lustig, das versteht sich von selbst, und — es thut mir nicht weh.
Einer der bedeutendsten Franzosen, nach Geist, Charakter und Einfluß, Henri Taine, ein Mensch von der hohen Qualität wie Jakob Burckhardt in Basel, hat mir hierher, zum Dank für mein letztes Buch, einen herrlichen Brief geschickt. Solche Ehren, wie Dein Sohn, erfahren Wenige; ich habe immer die Theilnahme der alten unabhängigen und weitblickenden Denker für mich gehabt.
Mit herzlichen Wünschen für Dich und unsre Südamerikaner
Dein Fr.
Nice (France) Pension de Genève — dies ist meine Adresse!
767. An Reinhart von Seydlitz (Entwurf)
<Nizza, kurz vor dem 26. Oktober 1886>
Ganz nüchtern erwogen: so werden es nur ganz wenige M<enschen> in Europa sein, deren Bildung umfänglich und tief genug ist, daß sie das Neue, Unerwartete, Grundsätzlich-Radikale an meinen Schriften herausfühlen könnten und gar dafür, daß es Jemanden geben könnte der den Zustand, die Passion erriethe und mitfühlte, aus denen eine solche Denkweise entspringt, dafür fehlt mir bis heute noch jeder Beweis und beinahe auch schon der Glaube. — Dies ist meine Einsamkeit, nochmals gesagt: etwas, das ich nicht los würde, wenn ich meinen Wohnsitz wechselte. Gieb mir doch eine Gegenprobe: wer wäre dankbarer dafür als ich? —
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Von der deutschen „Bildung“ besser zu denken: dazu hat sie mir in den letzten 16 Jahren keinen Anlaß gegeben:
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Meine Bücher, als die bei weitem unabhängigsten und radikalsten Erzeugnisse dieses Zeitraums, sind fast spurlos vorübergegangen. Im Grunde habe ich drei Leser, nämlich Bruno Bauer, J. Burckhardt, Henri Taine, und von denen ist der Erste todt.
<H. Taine> Das ist endlich ein Leser, dessen Cultur umfänglich genug ist, um mich zu verstehn
768. An Reinhart von Seydlitz in München
Nizza, pension de Genève, pet. rue St. Etienne. 26. Oktober 1886.
Lieber Freund,
schönsten Dank! — Aber ich will nicht nach Paraguay, wohin man mich einladet. Viel eher noch nach München: vorausgesetzt, daß ich wieder heiterer und „menschenfreundlicher“ werde, als ich jetzt gerade bin.
Was für ein schwermüthiger Herbst! Bleigewichte überall, Niemand, der mich etwas aufhellt, — und nichts um mich als meine alten Probleme, die alten rabenschwarzen Probleme! — Hast Du Dich in meinem „Jenseits“ umgethan? (Es ist eine Art von Commentar zu meinem „Zarathustra“. Aber wie gut müßte man mich verstehn, um zu verstehn, in wie fern es zu ihm ein Commentar ist!) Ein Buch für die Menschen umfänglichster Bildung, z. B. Jacob Burckhardt und Henri Taine, die ich einstweilen für meine einzigen Leser halte: und zuletzt nicht einmal ein Buch für sie —, sie haben weder die gleiche Noth noch den gleichen Willen mit mir gemein. — Dies ist Einsamkeit: — ich habe Niemanden, der mit mir mein Nein und mein Ja gemein hätte!
Die Reise nach Corsica gab ich auf, weil mir der Mensch, der mich dahin begleiten sollte, gänzlich bei näherer Besichtigung zuwider wurde. Meine Drei-Viertels-Blindheit zwang mich, alles eigne Experimentiren zu lassen und schnellstens nach Nizza zu flüchten, das meine Augen „auswendig gelernt“ haben. Ja, gewiß! Es hat mehr Licht, als München! Bis jetzt weiß ich außer Nizza und dem Engadin keine Gegend, wo ich es noch aushalte, täglich ein paar Stunden mit den Augen thätig zu sein. Aber auch damit geht es vielleicht mit diesem Winter zu Ende. — Habe nur Geduld: ich komme schon noch nach München.
Vielleicht giebt es daselbst ein sehr lustiges weibliches Geschöpf, mit dem ich lachen kann? Ich muß das Lachen nachholen.
Von Paraguay aus die herzlichsten Grüße an Dich und Deine liebe Frau, der ich wünsche bestens empfohlen zu sein.
Treulich
Dein Nietzsche.
Den Wagnerianern (namentlich Levi) in München allesammt meine besten compliments, sincères et tendres!
769. An Franz Overbeck in Basel
Nice (France) pension de Genève pet. rue St. Etienne. <27. Oktober 1886>
Lieber Freund,
in Nizza seit einer Woche ungefähr angelangt, bis jetzt bei sehr schlechter Gesundheit, und mannichfachen Geduldproben und Widerlichkeiten ausgesetzt: ich habe Niemanden, der für mich sorgt — und bin jetzt fast blind! Trotzdem: es soll schon noch eine Zeitlang gehn!… Meine Bitte heute ist, die noch restirenden 500 frs nicht zu schicken, sondern anzulegen, so wie es Dir gut scheint: ich will den Versuch machen, bis Dezember-Schluß mit dem bereits Übersandten auszukommen. Meine andre Bitte ist: hast Du nicht ein Exemplar der „Idyllen aus Messina“? Ich brauche sie umgehend (wegen der Herstellung einer kleinen lyrischen Sammlung „Lieder des Prinzen Vogelfrei“) aber besitze sie nicht. An Schmeitzner darf ich mich nicht wenden.
Meine Angehörigen in Paraguay haben mir einen gezeichneten Plan ihrer colonialen Unternehmung geschickt und wollen mein Geld, das in Naumburg liegt, dazu. Was denkst Du eigentlich über meine Baseler Perspektiven? Mir ist zu Muthe, als ob ich mir das wenige Geld, das ich habe, für alle Fälle bereit halten sollte: ich meine so, daß es jeden Augenblick flüssig zu machen wäre? — Andrerseits verstehe ich mich nicht darauf, in einer solchen dummen Geldsache Nein zu sagen. —
Herrlicher Brief Henri Taine’s, der mich so ernst nimmt als ich nur wünschen kann; er ist so universal gebildet, die Stellen, die er heraushebt, geben mir den Beweis, wie gut er versteht. Übrigens bin ich ihm „infiniment suggestif“ und was meine Gesamtabschätzung der europäischen Völker und Kräfte betrifft, ist er ganz bezaubert und verspricht Satz für Satz wieder durchzunehmen. Er gehört zu meinen drei Lesern, die zwischen den Zeilen lesen.
An Deine Frau Schwiegermutter in München habe ich neuerlich auch geschrieben und mich herzlich für die Güte bedankt, mit der sie den armen Köselitz zu ermuthigen sucht. Übrigens hat mich alle Welt diesen Herbst in München erwartet, „fieberhaft“, wie Seydlitz schreibt. Es ist wunderbar, wie treu alle diese Anhänger Wagners an mir hängen bleiben; ich glaube, sie wissen, daß ich heute noch so gut als ehemals an das Ideal glaube, an welches Wagner glaubte, — was liegt daran, daß ich an dem vielen Menschlich-Allzumenschlichen gestolpert bin, das R<ichard> W<agner> selbst seinem Ideal in den Weg gelegt hat? U.s.w. U.s.w. Verzeihung, alter Freund Overbeck!
Dein F. N.
770. An Heinrich Köselitz in München
Nizza (France) 31. Oct. 1886. pension de Genève, pet. rue St. Etienne
Sonderbar, lieber Freund, daß Sie in München sind, und daß ich wieder in Nizza bin! Die Welt ist ersichtlich mit wenig Vernunft eingerichtet, das merkt man, wenn man seinen sogenannten „Lebenslauf“ studirt: es „läuft“, ja! das Leben läuft, und kommt bald hier, bald da an. Zum Beispiel, in Ihrem Falle, bei der „süddeutschen Presse“: es ist schön, daß Sie dazu eine gute Miene machen. Im Grunde steckt in Freund Köselitz — auch — ein guter Schriftsteller, mindestens ein guter Berichterstatter über Gut-Erlebtes; und wenn es Ihnen gelegentlich gefiele, das aesthetische Problem, das zu unserer Lebensgeschichte gehört, als ein Erlebniß darzustellen, vielleicht, daß damit erst der Zugang gewonnen wäre zur Musik des Venetianischen Meisters Pietro Gasti: wenigstens für Deutsche, welche sich für einen Künstler ernsthaft nur interessiren, wenn sie den „Ernst“ der Principien bei ihm entdecken. — Dies, wie so Vieles, „verstand“ R. Wagner. —
Eben sendet Fritzsch die alten Bücher in ihren neuen sauberen Kleidern, und den „Vorreden“, welche sich wunderlich genug ausnehmen. Es scheint mir nachträglich ein Glück, daß ich weder Menschliches, Allzumenschliches noch die Geburt der Tragödie zu Händen hatte, als ich diese Vorreden schrieb: denn, unter uns gesagt, ich halte alles dies Zeug nicht mehr aus. Hoffentlich wachse ich mit meinem Geschmacke noch über den „Schriftsteller und Denker“ Nietzsche hinweg; und vielleicht bin ich dann ein Bischen würdiger zu dem anmaaßlichen Vorsatz, der im Worte „freier Geist“ steckt. — Wissen Sie mir ein Exemplar der „Idyllen aus Messina“ aufzutreiben? Ich brauche sie umgehend, weil sie mit einigen Liederchen zusammen den Schluß der „fröhlichen Wissenschaft“ abgeben sollen: nämlich in der neuen Ausgabe. Der Artikel im „Bund“ war zum Fürchten; Überschrift „Nietzsches gefährliches Buch“. Anfang: „Jene Dynamitvorräthe, welche zum Bau der Gotthardbahn verwendet wurden, trugen die schwarze auf Todesgefahr deutende Warnungsflagge. In diesem Sinne usw. usw.“ Ich fand zu meinem Bedauern, daß der Artikel in Sils unter den braven Einwohnern stark gelesen und interpretirt wurde. Vielleicht war ich zum letzten Mal in Sils. —
Von Portofino hat, wie nun auch die Zeitungen melden, der Kronprinz Beschlag genommen: er will jeden Herbst hinkommen und behauptet, nirgends auf Erden sich bisher so wohl gefühlt zu haben. Auch der Comte de Paris geht damit um, sich dort anzukaufen: kurz, es ist zu spät. Mein Aufenthalt in Ruta hatte etwas unbeschreiblich Peinliches durch die drückende Nähe zweier Deutschen, mit denen man Tisch und Spaziergang theilen mußte. — Bei der Reise nach Nizza empfand und sah ich ganz deutlich, daß hinter Alassio etwas Neues beginnt, in Luft und Licht und Farbe: nämlich das Afrikanische. Der Ausdruck ist ganz exakt: ich habe die Urtheile vorzüglicher Kenner Afrika’s eingezogen. (Lesen Sie, bitte, den Nabab von Daudet: in einem der letzten Capitel dieses Romans giebt es eine scharfe Bezeichnung des Afrikanischen an dieser Küste.) Alles hundert Mal feiner, delikater, weißgelber, undeutscher, indifferenter als selbst Genua und seine Umgebung. — Es fehlt für die Kurkapelle der Kapellmeister. Ein Jammer, daß Sie nicht einspringen können!
Hat Fritzsch Ihnen auch die Bücher mit den Vorreden geschickt? Ich hoffe.
Treulich Ihr dankbarer
F. Nietzsche.
771. An Unbekannt (Entwurf)
<Nizza, vermutlich gegen Ende Oktober 1886>
Hochverehrter Mann
ich bin wie Jemand, der von einem Tage zum Andern von der Hand in den Mund lebt, eine Hundeexistenz, aber immer des Glaubens, irgend wer werde mich eines Tages aus diesem unwürdigen und jämmerlichen Dasein herausziehn
Ich brauche fünf, sechs Bedingungen, um zu jener tiefen Herbstes-Ruhe zu kommen, die meiner Philosophie Reife und Süße — — —
Die entscheidenden Wendungen meines Lebens: ach, wer hat etwas davon verstanden! Die jämmerliche unwürdige Existenz hier im Süden, aus der mich Niemand herauszieht
Im Grunde habe ichs bisher zu drei Lesern gebracht, die mir Ehre machen und mich zu „verstehen“ wissen: das ist Bruno Bauer, J<acob> B<urckhardt> und H<ippolyte> Taine; von denen ist der Erste nun auch schon todt.
Es hat sich noch nicht einmal eine vorläufige Form des Anstands herausgebildet, mit der man mir zu begegnen hat, ich bin immer noch den allerdümmsten Verwechslungen ausgesetzt (wohin zB des braven Widemanns Lobspruch gehörte) Hat bis heute Jemand meine „Geburt der Trag.“ (verstanden)? (ich habe nichts gemerkt als daß sie auf das unverschämteste ausgenützt wird zB. von dem Dramat. Linden)
Es ist Ehren-Sache meiner Freunde, für meinen Namen, Ruf und weltliche Sicherheit thätig zu sein und mir eine Burg zu bauen, wo ich gegen die grobe Verkennung bewahrt bin: ich selbst will keinen Finger mehr dafür rühren.
772. An Ernst Wilhelm Fritzsch in Leipzig
Nizza (France) pension de Genève pet. rue St. Etienne Anfang November 1886
Geehrtester Herr Verleger,
inzwischen sind die Bücher eingetroffen: sie sehen gut aus, insbesondre die Vorreden. An der beiliegenden Arbeit erkennen Sie, daß ich hier mich sofort über die Fortsetzung hergemacht habe (damit ich den Winter für mich frei bekomme: es ist entsetzlich, was dies Zurückblicken-müssen, dies Vergangenheit-Wiederkäuen mich tyrannisirt) Ich denke, es ist eine Vorrede zum Anbeißen-Machen. Bitte, kommandiren Sie Ihrer Druckerei, daß sie den Druck umgehend in Angriff nimmt und erledigt. Natürlich vollkommne Gleichheit der Herstellung, wie bei den bisherigen Vorreden.
Ein Abzug mit dem Manuscript an Herrn Heinrich Köselitz (München, Türkenstraße 33 III r.), zu gleicher Zeit ein Abzug an mich, mit der Adresse, die an der Spitze des Briefs steht.
Ihnen und Ihrer Frau Gemahlin
mich bestens empfehlend
Ihr ergebenster
ProfDr Nietzsche
773. An Elisabeth Förster in Paraguay
Nizza (France) 3 Nov. 1886. pension de Genève, petite rue St. Etienne.
Mein liebes liebes Lama,
Deine letzten Briefe — der nach Sils, auf den ich geantwortet habe, und der über München hierselbst angelangte — gaben mir einen so guten Begriff von Eurem Zutrauen und Unternehmungs-Geiste, daß Unsereiner in der Ferne sich beruhigen lernt und seine Sorgen einstweilen hübsch schlafen schickt. Ich gestehe, daß mir der Gedanke, meine Schwester in einem unangebauten Welt-Winkel der Viehzucht ergeben zu wissen, eingerechnet Milchwirthschaft und Küchlein, noch immer sehr fremd ist, fast wie eine reine Träumerei, die man eines Morgens sich aus den Augen wischt. Noch weniger verstehe ich, warum Ihr Eure bescheidenere, aber bewiesenere Landhaus-Existenz so geschwind gegen den unbewiesenen gran chaco eintauschen wollt. Weshalb sich doch so große Ländereien und folglich so große Sorgen auf den Hals laden? Oder wollt Ihr geschwind reich werden? — mich brächte man nicht mit zehn Pferden dahin, wo, wenn ich recht berichtet bin, nicht einmal eine gute Bibliothek zu finden ist. Unter uns gesagt, meine liebe Schwester, wie ich nun einmal zum Leben und zur Aufgabe gestellt bin, die ich zu erfüllen habe, so habe ich Europa nothwendig, weil es der Sitz der Wissenschaft auf Erden ist; auch fand ich bisher keine Gründe, welche es mir verleideten; und gerade jene großen Bewegungen und Umstürze, welchen es wahrscheinlich in den nächsten 20 Jahren entgegengeht, finden in mir einen gut vorbereiteten und gründlichst betheiligten Zuschauer. Ich unterschätze die idyllische Absonderung und das Voltairische cultiver son jardin ganz und gar nicht, sonderlich für einen Philosophen: aber ich möchte es nicht in Eurer Weise thun, welche mir zu sehr „Rückkehr zur Natur“ zu sein scheint, Philosophie „für’s liebe Vieh“, im Scherz gesagt. Selbst, wenn ich gezwungen sein sollte, Europa zu verlassen (was nicht ganz unmöglich ist, da man anfängt, auf meine Litteratur als auf gefährliche und unmoralische Litteratur ein Augenmerk zu haben), so dürfte ich aus Gesundheitsgründen keine warmen Länder wählen. Die Verbesserung meines Befindens gehört jedes Jahr meinen drei Wintermonaten in Nizza und meinen Quasi-Wintermonaten im Engadiner Sommer (beide mit einer Durchschnittstemperatur von 9—12 Grad Celsius); die Zwischenzeiten sind mir widerlich durch ein Gefühl von Schlaffheit und Entmuthigung (eingeschlossen, daß meine Augen den Dienst kündigen —) Was mein Geld betrifft: so räth mir mein Verstand, wie der meines Freundes Overbeck jetzt unbedingt davon ab, mich irgendwo damit zu binden und die vollkommen freie Verfügbarkeit und jederzeitige Flüssigmachbarkeit desselben aufzugeben. Wer weiß, was in den nächsten 4 Jahren gerade bei mir sich begiebt? Gewiß ist, daß es jetzt an kleinen Zufällen hängt, ob ich meine Basler Pension noch fortbeziehe; mein letztes Buch wurde z. B. in einer Schweizerischen Zeitung so begrüßt: „Jene Wagen, welche die zum Bau der Gotthardbahn nöthigen Dynamitvorräthe führten, trugen eine schwarze auf Todesgefahr deutende Warnungsflagge. In diesem Sinne nennen wir das Buch des Philosophen Nietzsche ein gefährliches Buch usw.“ Man wird es verbieten, ich sehe es kommen (und sein Druck hat mich c. 300 Thaler gekostet!) Übrigens habe ich einen neuen Leser ihm zu danken, vom Range Jakob Burckhardts, nämlich Henri Taine, der mir einen herrlichen Brief geschrieben hat — Aber wie fremd Euch das klingen muß, auch so ganz aus „weiter Ferne“! In der That, auch ich bin ein „Ausgewanderter“. — und, wer weiß? auch ich habe meinen gran chaco!
In alter Liebe
Euer F.
774. An Franziska Nietzsche in Naumburg
13. Nov. 1886 Nizza (France) pension de Genève pet. rue St. Etienne.
Meine liebe alte Mutter,
wirklich hatte ich auf ein Briefchen von Dir gewartet: nun, eben kam es, schönsten Dank! Es gieng nicht gut, es geht nicht gut, es ist auch nicht zu helfen. Doch habe ich Einiges wieder in Ordnung gebracht in Hinsicht auf meine früheren Schriften: die nun alle, in schönen neuen Kleiderchen, und von mir mit mächtig-langen Vorreden versehn, bei dem neuen Verleger sich Aussicht auf bessere Tage machen. Inzwischen habe ich in Betreff der andren Angelegenheit mit Overbeck Briefe gewechselt: und der räth mir unbedingt ab, mein Geld in der gewünschten Weise zu engagiren; es ist wirklich wider alle Vernunft, und Overbeck hat mir mit Recht die völlige Unsicherheit meiner Lage in<s> Gedächtniß zurückgerufen. Du hast ganz Recht, es wäre hundert Mal räthlicher und sicherer gewesen, das Geld Dir auf das Haus zu geben; aber es scheint mir doch besser, so wie es ist, daß ich jeder Zeit flüssig machen kann, was noth thut. Übrigens bin ich wirklich in praktischen Dingen dieser Art unbeschreiblich schwerfällig und ungeschickt; ich glaube, im Grunde würde ichs am liebsten machen wie ein Bauer und das Geld unter die Erde vergraben, bis ichs brauchte. Die ganze Idee, mich zum Grundbesitzer in Paraguay zu machen, hat übrigens auch das gegen sich, daß darauf hin man mir in Basel keine Pension mehr geben würde; ich dürfte es nicht einmal mehr beanspruchen. Eins — oder das Andre. „N<ietzsche> hat eine halbe Meile Land, und Vieh darauf“ — das wäre in dem sparsamen und vernünftigen Basel ein Argument, worauf hin man mir mit dem besten Gewissen von der Welt die Pension entziehn würde. — Sende mir doch so bald als möglich den guten Winterüberzieher, den ich im Frühjahr bei Dir gelassen habe (hübsch gereinigt und die Knöpfe recht fest!) Und, bitte, lege ein oder zwei Paar gestrickte Handschuhe hinein, weißt Du zum Waschen früh morgens, um den Körper damit abzureiben! Die Sendung muß als „getragene Kleider“ bezeichnet werden, aber französisch: frage Deinen Postbeamten, wie man das ausdrückt! — Für Deine Weihnachts-Absicht danke ich herzlichst: aber wir wollen es ja lassen, ich habe es verschworen, mit der Post und dem Zoll in solchen Sachen zu thun zu haben. — Womit könnte ich Dir für Weihnachten eine hübsche kleine Freude machen, meine gute Mutter? Aber Du mußt ganz ernsthaft darauf eingehn; ich habe eben die Summe von 500 frc. erspartes Geld, kann mir also einen kleinen Luxus erlauben. Zumal ich gar Niemanden habe als meine gute Mutter. — Man hat so wenig Menschen übrig, wenn man ein bischen genauer zusieht. Was mich jetzt besorgt macht, ist, daß ich vielleicht bald auch nichts mehr zu thun habe, von wegen der immer schlechteren Augen: nämlich nichts mehr thun kann. —
Nizza ist immer noch das Beste, aber auch nur für die kalte Jahreszeit. Selbst der Oktober ist hier zu mild für mich. Vielleicht bleibe ich einmal den Winter oben im Engadin; es sind auch dies Mal wieder gegen 300 Gäste in St. Moritz dazu entschlossen (darunter mein englisch-russisches Trio)
Haben denn Fritzschs und Janicauds sich schön bei Dir bedankt? Es ist mir eingefallen, daß ich mich noch gar nicht dafür bei Dir bedankt habe.
Wir haben trauriges Wetter, viel Regen; auch gab es eine große Sturmfluth, bei der viel beschädigt worden ist. Ich selbst wurde von einer Welle überrascht und flüchtete auf einen Baum.
Mit herzlichstem Gruß und Dank Dein
F.
775. An Franz Overbeck in Basel
Nice (France) pension de Genève 14. Nov. 1886
Lieber Freund,
das neue Jahr findet Dich hoffentlich bei guter Gesundheit, auch zufrieden mit der neuen Behausung; in allem Übrigen darf ich ja voraussetzen, daß Alles beim Alten bleibt, da es ja das gute Alte ist: vor Allem Du selbst, mein lieber Freund, den ich nicht erst darum zu bitten brauche, daß mir Dein altes bewährtes und vielfach auf die Probe gestelltes Vertrauen und Wohlwollen auch ins neue Jahr folgen möge. Deinem letzten Brief entnahm ich einige Zuversichtlichkeit mehr, in Hinsicht darauf, daß ich inzwischen in Betreff der Paraguayer Angelegenheit Nein gesagt habe (— ich ärgerte mich im Stillen darüber, daß man mir nicht erspart hat, Nein zu sagen…) Sonst hat sich Nichts zugetragen, eine Sturmfluth im großen Stile abgerechnet, und viel Krankheit und Melancholie meinerseits, letzteres im ganz kleinen Stile: der bei dergleichen der schlechteste Stil ist. Es gab allerlei noch zu verordnen und auszudenken, um die neue Herausgabe meiner Schriften bei Fritzsch für den Herausgeber so vortheilhaft als möglich zu machen. Jetzt sind die älteren Schriften (bis zur „Morgenröthe“) in neuen hübschen Kleidchen, und von mir mit mächtig-langen Vorreden bedacht, zur Versendung fertig und schon versandt. Gestern wurden auch die Vorreden zur „Morgenröthe“ und zur „fröhlichen Wissenschaft“ von mir druckfertig gemacht; den Schluß der fröhlichen Wissenschaft wird ein Anhang machen mit dem Titel „Lieder des Prinzen Vogelfrei“. — Diese 5 Vorreden sind vielleicht meine beste Prosa, die ich bisher geschrieben habe; leider steht mir auch gar* nichts von Freiexemplaren zur Verfügung. —
Die Antinomie meiner jetzigen Lage und Existenzform liegt jetzt darin, daß alles das, was ich als philosophus radicalis nöthig habe — Freiheit von Beruf, Weib, Kind, Gesellschaft, Vaterland, Glauben u.s.w. u.s.w. ich als ebensoviele Entbehrungen empfinde, insofern ich glücklicher Weise ein lebendiges Wesen und nicht bloß eine Analysirmaschine und ein Objektivations-Apparat bin. Ich muß hinzufügen, daß dieser Gegensatz von Nothwendigem und von Entbehrtem durch den abscheulichen Mangel einer auch nur mittelmäßig soliden Gesundheit auf die Spitze getrieben wird, — denn in Momenten der Gesundheit fühle ich jene Entbehrungen weniger hart. Auch weiß ich mir absolut nicht jene 5 Bedingungen zusammen zu bringen, auf denen eine erträgliche Mittlere meiner labilen Gesundheit herzustellen wäre; das Schlimmste aber wäre jedenfalls, wenn ich, um die 5 Bedingungen der Gesundheit zu schaffen, mich der 8 Freiheiten des philosophus radicalis beraubte. — Dies scheint mir der objektivste Ausdruck meiner complizirten Lage… Verzeihung! Oder vielmehr: Du darfst Dich darüber lustig machen! —
Dir und Deiner lieben Frau mich angelegentlich empfehlend
Dein Freund
Nietzsche.
776. An Heinrich Köselitz in München
Nizza (France) pension de Genève pet. rue St. Etienne. <19. November 1886>
Lieber Freund,
„die Maschine geht wieder“, Sie sollen dies Mal nicht wieder so betrübte und schwächliche Töne zu hören bekommen, wie in meinem letzten Briefe; wenigstens habe ich den Verdacht, daß Alles, was in diesem Herbst von mir geschrieben worden ist, ein wenig müde und muthlos klingt?… Im Grunde benehmen Sie sich viel resoluter als ich und sind nicht so leicht „umzuwerfen“; dafür haben Sie allerdings einen Gehülfen ersten Ranges, Ihre Gesundheit — oh wenn Sie wüßten, wie ich in dieser Beziehung Sie beneide! Ich habe wirklich Nizza nöthig: ich darf es nicht verkennen. Seit vorigem April habe ich’s zu keinem Wohlgefühle an Leib und Seele gebracht; aber seit einigen Tagen geht es wieder: weshalb ich Nizza festhalten werde, als ein Stück fatum. In der Sprache der Operette geredet und gesungen „oh Fati-Fati-Fati-Nizza!“ Was mir Ihre Worte über die Japanesen-Musik Sullivan’s wohlthaten! Ich gedachte an Recoaro, an die vielen Vormittage in Venedig: das, was Sie in der Musik lieben, liebe ich auch, es ist kein Zweifel, — vor Allem, was Sie selbst machen! Diese Tage giengen Sie mir sehr durch den Kopf: ich hätte Sie gerne da gehabt, um Aesthetica mit Ihnen zu reden. Die Wahrheit ist: mir fehlt augenblicklich in puncto musicae eine Aesthetik, ich will sagen: ich habe einen „Geschmack“ (zb. für Pietro Gasti) aber keine Gründe, keine Logik, keinen Imperativ für diesen Geschmack. Selbst psychologisch nachgerechnet, scheint mir das Problem „warum gefällt mir Ihre Musik?“ einstweilen unlösbar. Sie selbst — wurden mir dabei zum Räthsel: und, seltsam! bei einigem Nachdenken fand ich ein ganz verwandtes Problem in Bezug auf meine eigne Hervorbringung (den „Zarathustra“). Wir reden Beide mit aller Herzhaftigkeit und Lust die „Volkssprache“, ganz wie eine Muttersprache: — und dabei sind wir ironische Thiere, die den Genuß des Raffinements dabei haben, ihre eigne höchst moderne und problematische Art dergestalt in die „Naivetät“ zurückzuübersetzen. Oder? — — — —
Aber, Freund, gestern kam mir diese Erleuchtung: erstens muß Herr Köselitz seine Oper unverzüglich an den Grafen Hochberg nach Berlin abschicken, mit einem sehr bestimmten, künstlerhaft-unbescheidnen Briefe, der genau sagt, was die Oper ist und voraus hat. Zweitens muß Freund Köselitz sich ein litterarisches Manifest ausdenken, worin er seinem „Können“, seinem „Geschmacke“ eine Aesthetik, ein Programm unterschiebt. Bemerken Sie doch, wie deroutirt Alles heute in aestheticis ist: ein strenges Bekenntniß wird heute nicht nur gehört, sondern mit Begierde, mit Dankbarkeit gehört… Ein antiromantisches Bekenntniß über Musik thut Noth; nicht mehr „Moral“ und „Volks-Erhebung“ wollen, mit Musik, sondern Kunst, ars, Kunst für Künstler, etwas göttliche Indifferenz, etwas unerlaubte Heiterkeit auf Kosten aller „wichtigen“ Dinge, Kunst als Überlegenheitsgefühl und „Berg“, gegenüber der Niederung von Politik, Bismarck, Socialismus und Christenthum usw. usw.
Aber warum sind Sie nicht in Nizza, lieber Freund!!??
Ihr getreuer
N.
Vielleicht kommt noch eine „Vorrede“ zu Ihnen, um corrigirt zu werden. Bitte, senden Sie, nach alter Übung, den durchcorrigirten Bogen dann hierher, an mich! —
Ihrem Briefe aus München ist auch die Sendung der „Idyllen aus Messina“ nachgefolgt: schönsten Dank, für Sie und die treffliche Frau Röder! —
777. An Franziska Nietzsche in Naumburg
Nice, France pension de Genève. Montag <29. November 1886>
Eben, meine liebe liebe Mutter, kam das Paket, nachdem ich bereits rechte Sorge gehabt hatte; ich konnte mich nicht entschließen, an Dich darüber zu schreiben und beschloß von Tag zu Tag zu warten und Geduld zu haben. Es giebt jetzt gerade besondre Gründe, Verzögerungen der Post gelten zu lassen; zwischen Genua und hier ist (seit einem Monat ungefähr) eine Stelle für die Züge unfahrbar. Großes Vergnügen, meine liebe Mutter, daß nun der Überzieher da! Denn wir haben, etwa vom 15. Nov. an, frisches Wetter, die Nächte bis (1—2 Gr.) unter Null; und Dein Sohn hat ein sehr kaltes Nordzimmer für diesen Winter und muß sich hübsch einwickeln, um nicht gar zu sehr zu leiden. Die Wahrheit ist, daß der Sohn wieder guter Dinge ist, trotz Kälte und mancherlei Entbehrung und Nothstand; bei sehr gutem Aussehen, tüchtig bei der Arbeit, tüchtig jeden Tag 4 Stunden marschirend (was Beides immer bei mir zusammen trifft, die Lust und Kraft zum starken Gehen und die Lust und Kraft zum starken Arbeiten: kaltes Wetter Grundbedingung für Beides) Ich bin mehr als je vom Werthe Nizza’s für meine Gesundheit überzeugt und will an ihm festhalten, natürlich nur für die kalten Monate. Denn im Oktober war es zu mild für mich. Die Hauptsache ist, daß wir, seitdem es kalt ist, absolut helles Wetter haben, Tag und Nacht; kein Wölkchen. Und dies ist für mein Gefühl etwas Unbeschreiblich-Wohlthätiges, Belebendes, Ermuthigendes, Gesund-Machendes! Das eben habe ich nirgendswo. Oh, meine gute Mutter, wie kommt mir wieder die ganze Zeit vor zwischen April und jetzt, die ich nicht in Nizza war! Wie eine peinliche Strapatze, wie eine lange Erschöpfung, mit Muthlosigkeit, Mangel an Arbeitskraft, Mangel an Sehkraft verbunden; wie eine schändliche Geduldsprobe, bei der man Alles zusetzt und Nichts dafür bekommt. Aber Du erinnerst Dich, wie ich mich in Naumburg befand; weißt Du, ich war so weit herunter, daß ich schon wie die Katze miaute?..
Eben sehe ich die herrlichen Kravatten; vermuthlich hat in Betreff der Hemden es Schwierigkeiten gegeben. Die Wahrheit ist, daß ich die Kravatten zehn Mal nöthiger habe als Hemden; gestern dachte ich noch daran, mir eine Kravatte zu kaufen, während ich mit den vorhandnen Hemden gut noch den Winter auskomme. Also schönsten Dank! Es hat sich Alles so sehr gut gewendet! — Dagegen, meine liebe Mutter, habe ich ein wenig gelacht über Deine Bade-Marken-Wünsche. Nein, meine liebe Mutter, so haben wir nicht gewettet! Es versteht sich, daß Du sie haben sollst, aber nun noch eine hübsche Hauptsache dazu, ein Kleid, ein Möbel, — bitte, schreib mir!
Eben sehe ich, daß es fünf Kravatten sind — größter Kravattenluxus meines Lebens! Danke tausend Mal! —
Fritzsch hat sofort, am Tage der Ankunft des Traubenkistchens an mich geschrieben. — mein vorletzter Brief nach Paraguay, vom Engadin aus abgesandt, wird schwerlich dort anlangen: weil er über Genua adressirt war, und Südamerika sich gegen alle italiänischen Schiffe durch Quarantänen wehrt. —
Herzlich-dankbar
Dein F.
778. An Friedrich Hegar in Zürich
Nizza, pension de Genève 1 December 1886
Verehrtester Herr Kapellmeister,
inzwischen wird, wie ich von Herzen hoffe, es mit der Gesundheit besser und besser gegangen sein, — oh, Sie werden sie nöthig haben, denn der Winter rückt mit seinen großen Anforderungen heran. Ihren Zeilen entnehme ich, mit Dankbarkeit, wie viel Neigung Sie uns bewahrt haben, sogar bis auf meine „Musik“, ich sollte sagen, sogar trotz meiner Musik. Sie haben nur allzusehr Recht mit dem, was Sie über das Chorlied sagen; und es wird nicht nur der Oboen und andrer orchestralen Beihülfe bedürfen, um daraus etwas Vortragbares zu gestalten.
Meine Bitte geht dahin, daß Sie das Manuscript an diese Adresse abgehn lassen:
Herrn Heinrich Köselitz
München
Türkenstraße
33 III r
Von dem oben genannten Herrn wünschte ich Gutes melden zu können: aber er sitzt in München, eingezwängt in Beschäftigungen, die ihm peinlich sind und den Muth rauben, — und immer noch ohne Aussicht auf die Aufführung seiner Oper. Einen prachtvollen großen Orchestersatz ungarischen Gepräges, betitelt „Miska-Czardas“, den er noch in Venedig nein! in Zürich componirt hat, würde ich sehr zur Aufführung empfehlen. Die Stimmen dazu sind geschrieben. —
Ihnen und Ihrer verehrten Frau Gemahlin ein vergnügtes Weihnachten wünschend und mich selbst angelegentlich empfehlend bin und bleibe ich Ihr ergebenster
Prof. Dr. Nietzsche.
779. An Heinrich Köselitz in München
<Nizza> 9. Dezember 1886
Lieber Freund,
ich habe irgend etwas in Ihrem letzten Briefe zu gut verstanden: so daß ich es nicht mehr über das Herz bringe, Ihnen meinerseits Projekte vorzulegen, die die Aufführung Ihrer herrlichen Musik betreffen. Zuletzt scheint es mir mitunter, daß eine jetzt forcirte Aufführung nicht dasselbe ist, wie eine Aufführung etwa in 10 Jahren: nämlich in Anbetracht, daß der Geschmack sich ändert, daß der Geschmack an Wagner, jetzt in einer Art Hochfluth, in zehn Jahren vielleicht andren Bedürfnissen Platz gemacht haben wird, — und daß Ihre Musik ein wirkliches Verstehen und Genießen nur bei Solchen erwarten darf, die erst gründlich in der Wagnerschen Romantik sich ausgeschwelgt haben. Einstweilen thut wirklich Nichts noth als die Zeit laufen zu lassen, guter Laune zu sein — und Geld zu haben. Mit dem letztern nämlich, mit dem Gelde müßte man sich aus Deutschland wegbegeben, wo das Warten eine wirkliche Tortur abgiebt; ein Wartender kann nicht schaffen, das steht mir, wenigstens aus meinem Stück Erfahrung, fest. Ihr Wort über den eignen anti-tragischen Instinkt hat mich sehr erquickt, es ist viel erreicht, wenn man es in solchen Dingen bei sich zur Aufrichtigkeit bringt und „den Muth zu seinem Geschmacke“ hat. Letzte Wendung ist von Stendhal: er lobt es an dem jungen Sorel, daß er den Muth zu seinem schlechten Geschmacke habe: in Ihrem Falle, in unserm Falle — denn Sie müssen mir dieses „uns“ erlauben — wäre es schwer genug auszumachen, was schlechter und was guter Geschmack ist. Sie erinnern sich: Socrates und Aristophanes stritten sich eine ganze Nacht darüber, so erzählt es Plato am Schlusse des Symposion. — Was nun das Geld anbetrifft, würden Sie damit zufrieden sein, wenn ich meinem Naumburger Banquier eine Anweisung gebe, Ihnen 2000 Mark zu senden? Ausgestellt auf Ihre Zukunft, lieber Freund: Sie sollen nichts weiter darin sehn als ein Darlehn.
Und seien Sie mir zum Mindesten nicht böse, Ihnen von Geldsachen geschrieben zu haben: das griechische Sprüchwort mag zu meinen Gunsten sprechen κοινὰ τῶν φιλῶν.
Treulich Ihr
N.
780. An Malwida von Meysenbug in Rom
Nice (France) 13. Dez. 86 pension de Genève. pet. rue St. Etienne.
Verehrteste Freundin,
Ihre liebenswürdige Absicht, mir schreiben zu wollen, hat mich in Gestalt einer grünen Karte erreicht: sie hatte dazu den Sprung von Genua nach Nizza zu machen. Es ist mein vierter Winter an diesem Orte, mein siebenter an dieser Küste: so will es meine ebenso dumme als anspruchsvolle Gesundheit, auf die böse zu sein gerade jetzt wieder die Anlässe zu häufig sind. Nizza und Engadin: aus diesem Cirkeltanze darf ich altes Pferd immer noch nicht heraus. —
Zum Mindesten darf ich nicht in jene wärmeren Länder, wohin ich jetzt sehr gelockt werde: jeder Brief aus Paraguay enthält Künste der Verführung. Aber umsonst! — ich weiß zu gut, daß mich die Kälte verwöhnt hat (denn mein Kunststück, um die letzten 10 Jahre durchzubringen, bestand in dem Sich-auf-Eis-legen; ein kleiner milder Januar, ungefähr für das ganze Jahr durchgeführt, Nordzimmer, blaue Hände, nichts von Ofen, eiskalte Gedanken — ah, davon brauche ich Ihnen nicht zu schreiben?! —)
— Meine Tischnachbarin sagte neulich, in diesem Betrachte, meine Nähe verursache ihr Schnupfen. —
Hoffentlich finden Sie in Rom genug von Liebe und Freundschaft vor, um die Abreise von Versailles einigermaßen zu verwinden. Von Minghetti’s Tode habe sogar ich gehört. —
Hier ist die Saison sehr im Gange und Glanze, die letzte, wie man überall hört und fühlt, die letzte Saison vor „dem Kriege“. Man ist früher hier eingetroffen als je; ich selbst war unter den Frühesten. Auch die Kälte hat sich beeilt: vielleicht wird der Winter sehr kurz, und schon der Februar bringt den Frühling! Sicherlich kann es keine schönere Jahreszeit für Nizza geben als die jetzige: der Himmel blendend weiß, das Meer tropisch blau, des Nachts ein Mondlicht, daß die Gaslaternen sich schämen und roth werden: und darin laufe ich nun wieder herum, wie schon so viele Male und denke meine schwarze Art Gedanken aus…
Treulich Ihr alter sehr vereinsiedelter Freund
F. N.
781. An Heinrich Köselitz in München
<Nizza, 22. Dezember 1886>
Lieber Freund,
es ist eine Lösung, wenn es gleich nicht die ist, welche ich von Herzens Grunde gewünscht habe. Sie hätten mein Anerbieten annehmen können, es hätte mich reicher gemacht als ich bin — denn das ist augenblicklich meine Armuth, mich außer Stande zu fühlen, diesen ganzen greulichen Druck, der auf Ihnen lastet, von Ihnen zu nehmen. Diese Reisen nach Deutschland sind auch für mich jedes Mal zu einer Kette feinerer oder gröberer Demüthigungen geworden. Zuletzt wüßte ich Ihnen, wenn Sie jetzt nach Nizza kämen, nichts zu präsentiren, was den Vergleich mit der würdigen stillen Venediger Wohnung aushielte; und zb. in Ruta oder in Genua würden Sie die von Ihnen hervorgehobenen Übel, welche ein Wohnungswechsel mit sich bringt, in der bittersten Weise empfunden haben. Ich will nicht vergessen, daß Herr Zillicher in Genua mir seine Karte für Sie gegeben hat, mit der herzlich ernsten Erklärung, daß Jemand, der von mir empfohlen sei, ihm auf das Beste empfohlen sei. Gestern bekam ich den Bericht des Dr. Welti (Sohn des alten Schweizer Bundespräsidenten) aus Zürich zugeschickt — durch wen? Durch Frl. v. Salis. Es thut mir wohl, eine Zeit lang noch in diesem harmlosen clair-obscur fortzuleben. Das incognito ist eine wichtige Sache. Ich weiß nicht, wie es kommt, aber es gab neuerdings bei mir recht viel Düsterkeit und Härte: da dachte ich immer Ihrer Musik — wie sehr sie mir fehle und wie sehr sie meiner Seele und Gesundheit schon genützt hat. Vorigen Sonntag lief ich aus Melancholie in’s Theater: Boccaccio, eine Operette, die ich nun in drei Sprachen kenne. Aber um wie viel war die französische Interpretation die beste! Ich war erstaunt: diese Eleganz und Feinheit der Gebärde, diese tiefe Gutmüthigkeit in der Interpretation, dieser Mangel an der deutschen Gemeinheit (— nämlich die deutsche Gemeinheit ist die gemeinste, vielleicht weil der D<eutsche> sich ihrer leicht schämt). Die Musiker spielten mit Feuer und bester Laune; ein deutscher Orchestermensch würde glauben, daß er im Grunde hundert Mal zu gut für solche Musik sei — und deshalb spielt er dann gemein. Ich selbst — absurd genug — habe drei, vier Mal Thränen in den Augen gehabt. Die große Heiterkeit ist das, was mich jetzt am meisten rührt.
Anbei, lieber Freund, die Vorrede der „Morgenröthe“ zur letzten Revision und dann fort an Fritzsch! Es giebt noch Einiges zu corrigiren: wollen Sie helfen?
Treulich Ihr Freund
Nietzsche
782. An Franziska Nietzsche in Naumburg
Nizza (France) <22. December 1886> Pension de Genève pet. rue St. Etienne
Meine liebe Mutter,
schnell einen Gruß an Dich zum Weihnachtsfeste: obwohl es gerade schlimm mit den Augen steht und der Tag ihnen schon viel Arbeit gebracht hat. Herzlichen Dank für Deinen Brief; ich wiederhole, was ich im letzten Briefe an Dich ausdrückte — denke Dir Etwas für die Bescheerung aus, das Du gerne gerade von mir hättest. Inzwischen fand ich in den Taschen des Überziehers auch die Wasch-Handschuhe, für die ich mich noch nicht bedankt habe. Mit den schönen Cravatten hat es seinen Haken: bei dreien ist der Mechanismus caput, ich weiß mir da nicht zu helfen, da derselbe sich nicht repariren läßt. Neue Nachrichten aus Paraguay habe ich nicht; die Zeitungen haben viel von der Cholera in Rosario geredet, ebenso in Argentinien, doch soll es jetzt zurückgehn. Ich fürchtete, daß diese Krankheit den Unternehmungen Försters einen Stein in den Weg legt, mindestens Alles verlangsamt; denn die Einwanderung stockt natürlich, wenn die Cholera im Lande ist. Vielleicht ist aber eine Verlangsamung in diesem Falle das geringste Unglück; mir schien es, daß sie zu schnell und ohne rechte Lehrzeit sich auf so große Unternehmungen eingelassen haben. — Frl. v. Meysenbug schrieb auf das Liebenswürdigste aus Rom an mich; sie hatte bisher noch gar keine Nachricht von Lisbeth. Gestern langte auch ein Brief des Frl. v. Salis an, sie betrachtet es „als eine der segensvollsten Fügungen ihres Lebens, meine Philosophie und mich kennen gelernt zu haben“. Sie sandte einen Artikel über mich mit, der in der Zürcher Zeitung gestanden hat, von jenem Dr. Welti, dem Sohn des alten Bundespräsidenten der Schweiz. Sehr ehrfurchtsvoll. Der arme Freund Köselitz hat sich in München jämmerlich befunden und Nichts für seine Aufführung erreicht. Die Sache geht mir sehr nach. Jetzt wird er sich wieder nach Venedig zurückziehn, aber wie enttäuscht! wie verbittert! wie mißhandelt und gedemüthigt! Und das ist ein Mensch, der ein unsterbliches Werk geschaffen hat! Nun, ich selber habe diese ganze Geschichte auch erlebt und durchgemacht, im schönen Jahre 1882. Wenn man das Zeug dazu hat, geht man nicht dran zu Grunde, und zuletzt ist die Geschichte so alt wie die Welt steht. — Für das neue Jahr bin ich recht im Ungewissen, denn es giebt gar keinen Ort mehr, wo ich mich von mir selber etwas erholen kann. Mit Sils-Maria ist es zu Ende, von wegen des Zimmers und der Augen; Venedig hat mir jedes Mal schlecht gethan. Auch hier fehlt es mir eigentlich an Allem, ich habe gegen 30 Wohnungen angesehn, aber nichts gefunden, was recht wäre. Ich bin nicht reich genug für diese ganze Riviera, auch nicht für das Engadin: während meine Gesundheit mir gar keine Wahl läßt. Da bist Du, meine liebe gute Mutter besser dran! Du hast Dein gutes zufriedenes Nest, in dem der Vogel Ruhe hat. Mit den herzlichsten Wünschen, daß es so auch im neuen Jahre bleibe,
Dein alter
Sohn F.
783. An Franz Overbeck in Dresden
Nice, 25 Dezember 1886
Lieber Freund,
Dir ist dies Mal ein betrübtes Weihnachten bescheert worden: was ich von Herzen bedauere. Auch bei den Nachrichten über die ungewöhnlichen Schneefälle, die aus Deutschland kamen, dachte ich Deiner Reisen dorthin mit Besorgniß. Hoffentlich bist Du nirgendswo hängen geblieben; ich glaube, daß noch niemals zu gleicher Zeit eine so große Zahl von Eisenbahnzügen vom Schnee festgesetzt worden ist; auch in Frankreich, auch in der Schweiz. Wir Nizzarden genießen von dem Allen die gute Kehrseite: nämlich die inperturbable Heiterkeit des Himmels. Dabei ist es kalt, in meinem persönlichen Falle sogar sehr kalt. Ein Nordzimmer ohne Ofen: habituelle blaue Finger. Was habe ich in den 7 Wintern meiner Existenz im Süden schon gefroren! Im Grunde bin ich nicht bemittelt genug, um hier zu leben; die Pensionspreise mit Südzimmern sind viel zu hoch für mich, insgleichen die gut gelegenen Privatwohnungen. Rechne ich noch meine Engadiner Sommer dazu mit 10, 11 und 7 Grad Celsius im Monatsdurchschnitt (letzteres im September), so ergiebt sich die frostigste Existenz, die man sich in diesem Leben herstellen kann. Die üble Folge ist, daß ich vom Frühling und Herbst in einer Weise zu leiden habe, daß sie mir fast das ganze Jahr jetzt verleidet: nämlich an den erschlaffenden entmuthigenden entnervenden Consequenzen der wärmeren Jahreszeit. Der letzte Frühling in Naumburg war eine vollkommene Marter für mich. —
Geld, lieber Freund, ist dies Mal sehr erwünscht; ich habe meine letzten Hôtelrechnungen noch nicht bezahlt. — Was mich diese letzte Zeit sehr mitnimmt und mir fast immer gegenwärtig ist, das ist der Zustand des armen Köselitz in München: er ist besorgnißerregend. Ich kenne ungefähr die Resistenzkraft eines solchen Menschen und auch den Punkt, wenn die Schraube überspannt ist. Diese Demüthigungen seit drei Jahren, diese Schläge in’s Gesicht, dieses unerbittliche Nein, verwickelt mit der Nöthigung, sich Brod zu verdienen (er schreibt für Zeitungen 4 Pf. die Zeile) und andrerseits das Bewußtsein davon, ein unsterbliches Werk geschaffen zu haben, dem sich vom Heutigen Nichts an die Seite stellen läßt: das bringt eine Gefahr mit sich, gegen die ich nicht blind bin. Unter uns, man kann jeden Augenblick das Schlimmste hören. Sein Ehrgefühl ist so reizbar, daß ihm auch nicht materiell jetzt unter die Arme zu greifen ist, er weist Alles zurück. Die Geschichte ist so alt wie die Welt; deshalb nicht weniger schmerzhaft. —
Mit den besten Wünschen für das neue Jahr verbleibe ich in dankbarer Ergebenheit
Dein Freund
Nietzsche.
Anbei eine sehr gutmüthige Anzeige von J. v. G. u. B., die sich zu mir verirrt hat. Man sagt mir, dieser Dr. Welti sei der Sohn des Alt-Bundespräsidenten Welti. — Sonst überall die Tonart des Widmann. —
784. An Ernst Wilhelm Fritzsch in Leipzig
Nizza (France) pension de Genève petite rue St. Etienne Ende Dezember 1886
Werthester Herr Verleger,
so bin ich denn, noch vor Jahres Schluß, mit Allem fertig, was ich zum Besten meiner früheren Litteratur zu thun mir vorgesetzt hatte. Das Letzte — das was Ihnen hiermit als Manuscript zugeht — war ein Schlußtheil (fünfter Theil) der fröhlichen Wissenschaft, der von vornherein projektirt war und nur unter den Consequenzen fataler Gesundheits-Zwischenfälle damals nicht fertig wurde. Dieser fünfte Abschnitt des genannten Buchs wird ungefähr 50 Druckseiten ausmachen; die Kosten für die Herstellung will ich selbst bestreiten, aber Teubner (bei dem das Ganze gedruckt ist) muß der Drucker sein. Ich setze nämlich voraus, daß die genau entsprechenden Lettern sich schwerlich in der Röderschen Offizin finden werden; auch C. G. Naumann hatte sie nicht. Übrigens haben Sie vollkommen Recht in Betreff der Lettern, die zur Vorrede der „Geburt der Tragödie“ verwendet worden sind: sie sind vorzüglich scharf und sehn gut aus, — aber sie passen nicht, wie mir scheint, zu dem Eindruck, den jene viel fetteren Teubnerschen Lettern machen, sowohl in der Morgenröthe als in der fröhlichen Wissenschaft. —
Wenn die Vorreden zu letztgenannten Werken, insgleichen jener fünfte Abschnitt der fröhl<ichen> Wiss<enschaft> sammt den „Liedern des Prinzen Vogelfrei“ gedruckt sind, dann ist in der That etwas Wesentliches gethan, um das Verständniß meiner ganzen Litteratur (und Person) zu erleichtern. Und namentlich wird man begreifen, daß wer erst mit mir „angebunden“ hat, auch Schritt für Schritt mit mir weiter muß. —
Auf dem Titel der fröhlichen Wissensch<aft> soll es nunmehr heißen:
Neue erweiterte Ausgabe
mit einem Anhange:
Lieder des Prinzen Vogelfrei.
Geben Sie mir, bitte, umgehend Nachricht über das Eintreffen der drei Manuscripte, desgleichen darüber, daß den Druckern Ihrerseits jede mögliche Beschleunigung anempfohlen ist: denn, wie ich schon im letzten Briefe sagte, ich will schlechterdings das Alles los sein und nicht länger mehr von dem, was Vergangenheit ist, gestört werden. Das ganze Jahr ist damit draufgegangen: gut, salvavi animam, es war eine Gewissenssache, aber nunmehr ist’s genug!
— Ich brauche jetzt, für lange lange Jahre, tiefe Ruhe: denn es steht die Ausarbeitung meines ganzen Gedankensystems vor mir. —
Ihnen, geehrtester Herr Verleger, angenehmes Weihnachten und glückliches Neujahr wünschend
Ihr ergebenster
Prof Dr Nietzsche
NB. Packen Sie das Ms. mit Vorsicht aus, daß die einzelnen Blätter nicht durcheinander gerathen!
Den Correcturgang betreffend: Ein Abzug mit Ms. an Herrn Köselitz (München, Türkenstr. 33 III r.) zu gleicher Zeit ein Abzug an mich hierher (genaue Adresse, wie an der Spitze des Briefs)