1886, Briefe 655–784
711. An Franz Overbeck in Basel
Leipzig 20. Juni 1886.
Lieber Freund,
ein paar Worte aus Leipzig, als späten Dank für Deinen Brief, der mich in Venedig erreichte. Es war gut, daß ich diesem Cholera-Neste entschlüpft bin, so unangenehm die Veranlassungen dazu waren. Es gäbe Viel zu erzählen, — aber schreiben? Nein! Es steht gar zu schlecht mit den Augen. Schmeitzner, wie ich gerade zur rechten Zeit erfuhr, gedachte mir einen schlimmen Streich zu spielen, nämlich meine ganze Litteratur an eine der schmutzigsten und anstößigsten Figuren des sächsischen Buchhandels zu verkaufen (der Betreffende ist mehrfach wegen Vertriebs obscöner Schriften bestraft, auch Socialdemokrat, anerkannt käuflich usw.) Mein Versuch, hier dazwischen zu treten, hat zum Mindesten die Sache etwas verschoben und hinausgeschoben. Ein Leipziger Verleger (nicht der völlig unzuverlässige und launenhafte Credner) verhandelt jetzt mit Schm<eitzner> über den Ankauf meiner Schriften (d. h. der Rest-Exemplare) — aber der unverschämte Schm<eitzner>, (der einen Begriff von meiner Nothlage hat und sie zu seinen Gunsten ausnützt) verlangt den unverschämten Preis von 12 000 Mark. —
Einen neuen Verleger für etwas Neues habe ich nicht aufzufinden vermocht: eine Menge peinlicher Erfahrungen in diesem Capitel hat mich zur Resignation gebracht. Im Grunde hat es mich fast ein halbes Jahr gekostet, dies Suchen, Warten und Enttäuschtwerden. Meine Schriften, sagte man mir in Leipzig, seien „Zukunftsmusik:“ was ich mir ad notam genommen habe. —
Sodann wurde nöthig, für Herrn Köselitz etwas zu thun, da, seitdem er selbst für sein Werk sich bemüht hat, Alles stecken geblieben ist. Hier in Leipzig habe ich wenigstens Eins erreicht — eine Privataufführung im Gewandhause vom letzten Werke K<öselitzen>’s (dem Septett) mit lauter ausgezeichneten Künstlern, den ersten Kräften des Gewandhaus-Orchesters. Der Erfolg war belehrend, wenn auch nicht angenehm — die Musik klang nicht gut, viel zu dick; ich meine, es ist die höchste Zeit, daß K<öselitz> in einer eigentlichen Musikstadt zu leben sich entschließt, um in Betreff der Orchestration zu hören und zu lernen. In Betreff der Oper verhandle ich eben mit Nikisch (ohne viel Hoffnung zu haben.) K<öselitz> brachte mir den fertigen Text der korsischen Oper mit („Marianna“ heißt sie) den er in Annaberg gedichtet hat. Doch war ich nicht im Stande, denselben zu billigen; so sehr der Muth anzuerkennen ist, mit dem er die Aufgabe gefaßt hat. Ein Jahr später wird er’s besser machen. —
Herr Widemann hat mich hier besucht: das ist ein tüchtiger achtbarer und feiner Mensch, obschon mir seine Philosophie einstweilen noch gründlich anfängerhaft vorkommt. Aber es ist etwas, so anzufangen. —
Aber Rohde! Ich fand ihn in der wunderlichsten Klemme, außer sich über die Dummheit, Tübingen verlassen zu haben und tief im Widerspruch mit Leipzig: so daß sein Entschluß, sich nach Heidelberg berufen zu lassen (was inzwischen formaliter geschehn ist) schließlich räsonabel war, faute de plus raisonable. Dies unter uns: obwohl ich glaube, daß heute das Definitivum der Sache da ist (die Rückantwort des sächsischen Ministers). — Die baierische Tragödie hat mich tief erschüttert, ich weiß etwas zu viel von ihren Voraussetzungen. —
In München gab es ein paar prächtige Stunden bei Deinen Verwandten. Der Sommer wahrscheinlich in Sils-Maria. In Kürze eine Karte darüber.
In alter Liebe Dein
Nietzsche.