1886, Briefe 655–784
757. An Emily Fynn in St. Moritz
Ruta Ligure 2 Octob. 1886
Verehrteste Frau,
erster Versuch, ein Paar Worte aus einer neuen Welt heraus zu schreiben: Verzeihung, wenn die Feder es nur bis zu Klecksen bringt!
Links der Golf von Genua bis zum Leuchtthurm; unter dem Fenster und nach den Bergen zu Alles grün, dunkel, erquicklich für das Auge. Das Albergo Italia reinlich und gefällig eingerichtet: die Küche abscheulich; noch keinen ordentlichen Bissen Fleisch zu sehen bekommen. Um so preiswürdiger ist die reine und nicht erschlaffende Luft, die Gänge hoch zwischen zwei Meeren, ein Pinienwald mit fast tropischer Üppigkeit. Wir haben schon drei Mal grosse Feuer angezündet; es giebt nichts Schöneres als die Flammen gegen den reinen Himmel lodern zu sehn. —
Einsamkeit wie auf einer Insel des griechischen Archipelagus; rings zahllose Bergketten. Mein Freund aus Florenz seit vorgestern einlogirt. —
Unten, in Portofino, weilen gerade der deutsche Kronprinz, zusammen mit dem Grafen von Paris, — und Herr von Keudell: ein Zusammentreffen, das zu denken giebt. —
— Es ist kein Zweifel, dass Portofino es verdient, in Musik gesetzt zu werden. Im Vergleich zur Riviera ist es stiller, heimlicher, auch anständiger, und weniger africanisch.
— Ich danke von Herzen für den telegraphischen Reise-Glückwunsch, der ganz im rechten und letzten Augenblicke an den Einsiedler von Sils-Maria eintraf. Eine Stunde später: und der letzte Vogel flog davon. —
„Nun geht der Winter los“, sagte mein Wirth als ich abreiste.
Hoffentlich ein guter, sonniger, stärkender Winter! Ein deutscher Herr aus Genua sagte mir gestern, wenn er freie Verfügung über sich hätte, so würde er den Winter nie in Genua, sondern in St. Moritz zubringen.
So geht es! Er wünschte sich eben dorthinauf, von wo ich eben herabgeflogen war!
— Vielleicht haben Sie also „das bessere Theil“ erwählt? … Zum Mindesten ist dies mein herzlicher Wunsch, wenn ich an Sie und Ihre verehrte Freundin denke, der ich meine ergebensten Grüsse auszurichten bitte.
In dankbarer Erinnerung
Ihr Prof. Dr. Nietzsche