1886, Briefe 655–784
775. An Franz Overbeck in Basel
Nice (France) pension de Genève 14. Nov. 1886
Lieber Freund,
das neue Jahr findet Dich hoffentlich bei guter Gesundheit, auch zufrieden mit der neuen Behausung; in allem Übrigen darf ich ja voraussetzen, daß Alles beim Alten bleibt, da es ja das gute Alte ist: vor Allem Du selbst, mein lieber Freund, den ich nicht erst darum zu bitten brauche, daß mir Dein altes bewährtes und vielfach auf die Probe gestelltes Vertrauen und Wohlwollen auch ins neue Jahr folgen möge. Deinem letzten Brief entnahm ich einige Zuversichtlichkeit mehr, in Hinsicht darauf, daß ich inzwischen in Betreff der Paraguayer Angelegenheit Nein gesagt habe (— ich ärgerte mich im Stillen darüber, daß man mir nicht erspart hat, Nein zu sagen…) Sonst hat sich Nichts zugetragen, eine Sturmfluth im großen Stile abgerechnet, und viel Krankheit und Melancholie meinerseits, letzteres im ganz kleinen Stile: der bei dergleichen der schlechteste Stil ist. Es gab allerlei noch zu verordnen und auszudenken, um die neue Herausgabe meiner Schriften bei Fritzsch für den Herausgeber so vortheilhaft als möglich zu machen. Jetzt sind die älteren Schriften (bis zur „Morgenröthe“) in neuen hübschen Kleidchen, und von mir mit mächtig-langen Vorreden bedacht, zur Versendung fertig und schon versandt. Gestern wurden auch die Vorreden zur „Morgenröthe“ und zur „fröhlichen Wissenschaft“ von mir druckfertig gemacht; den Schluß der fröhlichen Wissenschaft wird ein Anhang machen mit dem Titel „Lieder des Prinzen Vogelfrei“. — Diese 5 Vorreden sind vielleicht meine beste Prosa, die ich bisher geschrieben habe; leider steht mir auch gar* nichts von Freiexemplaren zur Verfügung. —
Die Antinomie meiner jetzigen Lage und Existenzform liegt jetzt darin, daß alles das, was ich als philosophus radicalis nöthig habe — Freiheit von Beruf, Weib, Kind, Gesellschaft, Vaterland, Glauben u.s.w. u.s.w. ich als ebensoviele Entbehrungen empfinde, insofern ich glücklicher Weise ein lebendiges Wesen und nicht bloß eine Analysirmaschine und ein Objektivations-Apparat bin. Ich muß hinzufügen, daß dieser Gegensatz von Nothwendigem und von Entbehrtem durch den abscheulichen Mangel einer auch nur mittelmäßig soliden Gesundheit auf die Spitze getrieben wird, — denn in Momenten der Gesundheit fühle ich jene Entbehrungen weniger hart. Auch weiß ich mir absolut nicht jene 5 Bedingungen zusammen zu bringen, auf denen eine erträgliche Mittlere meiner labilen Gesundheit herzustellen wäre; das Schlimmste aber wäre jedenfalls, wenn ich, um die 5 Bedingungen der Gesundheit zu schaffen, mich der 8 Freiheiten des philosophus radicalis beraubte. — Dies scheint mir der objektivste Ausdruck meiner complizirten Lage… Verzeihung! Oder vielmehr: Du darfst Dich darüber lustig machen! —
Dir und Deiner lieben Frau mich angelegentlich empfehlend
Dein Freund
Nietzsche.