1886, Briefe 655–784
690. An Heinrich Köselitz in Annaberg
<Nizza,> Mittwoch der Charwoche <21. April> 1886
Lieber Freund,
immer noch aus Nizza! Im entscheidenden Zeitpunkte, wo ich nach Venedig fort wollte, schlug das Wetter um, und eine Art Verhärtung und Verwinterlichung hat bis jetzt Stand gehalten: so daß ich erst Ende Monats davon fliegen will. Wohin? selbst das ist nicht gewiß. Bei weitem am liebsten nach Venedig: doch ist der Gesundheits-Stand daselbst fragwürdig genug, und fast scheint es, daß Einer, der sich dorthin begiebt, sich nicht nur in eine Gefahr, sondern, was das Unangenehmere ist, in eine Quarantaine hineinstürzt. Bis heute ist letztere zwar nur für die Seeseite (und fürs ganze Adriatico) erklärt: es könnte aber bald genug kommen, daß man sich auch von der Landseite aus, z. B. von Mailand gegen Padua und Venedig sicher stellte: kurz, daß man mir den Rückweg in die Schweiz verbaute. — Trotzdem: ich glaube eigentlich daran, daß ich im entscheidenden Momente doch noch dorthin schlüpfe, — zuletzt hat man nicht zu viel Dinge lieb, und darunter ist, bei mir wenigstens, eine einzige Stadt.
Freilich: Venedig ohne Ihre Musik, lieber Freund! Es schmerzt mich durch und durch, wenn ich daran denke; Sie können nicht glauben, welche Wohlthat Sie mir seit Recoaro, Jahr für Jahr, erwiesen haben, und wie Nichts im Grunde mir diese Erleichterung gegeben hat, die meine Schwere und Schwermüthigkeit so nöthig hat —, als Ihre Kunst. Auch bleibe ich dabei, daß ich in Bezug auf Ihre Musik Recht habe: und nicht Herr Mottl, — dessen Urtheil ich mir zwar psychologisch zurechterklären kann, nimmermehr aber aneignen will! Einstweilen ist es die Wagnerei, die Ihnen im Wege steht; auch die deutsche Vergröberung und Vertölpelung, die seit dem „Reiche“ wächst und wächst. Wir müssen auf Mittel und Wege denken, uns zur Wehre zu setzen, daß man Sie und mich nicht mundtodt macht. Verzeihung, daß ich „mich“ dazwischen menge: aber die negativen Briefe deutscher Verleger geben mir den Eindruck, daß es jetzt bei mir so steht wie bei Ihnen, daß wir still unsre „Partituren“ in den Schrank legen. —
Und eine neue machen? Nicht wahr? Ich freue mich unbändig über Ihre korsische Dichter-Tapferkeit. Für die mitgetheilten kräftigen Verse tantissime grazie!
Was mein Manuscript angeht: so schwebt noch eine Verhandlung mit dem Berliner Verleger C. Heymons (d. h. Carl Duncker’s Verlag). Gesetzt, es wird auch da nichts ausgerichtet, nun, so hat es seine gute Seite für mich. Denn es ist ein erschreckliches Buch, das dies Mal mir aus der Seele geflossen ist, — sehr schwarz, beinahe Tintenfisch. Mir ist zu Muthe, als hätte ich irgend etwas „bei den Hörnern“ gepackt: ganz gewiß ist es kein „Stier“. — —
Wenn Sie einmal an Ihre trefflichen Leute nach Venedig schreiben: bitte, geben Sie ihnen zu verstehen, daß mir an zwei Dingen viel gelegen sei. Erstens, daß der Boden des Zimmers mit einem Teppich belegt werde: ich erkälte mich so leicht. Und dann: ein großer bequemer, gelehrter Lehnstuhl (in Frankreich sagt man für dies Möbel verständnißvoll „un Voltaire“). Eventuell kann man dergleichen miethen: natürlich auf meine Unkosten. —
Ihr Anerbieten, mir wieder bei der Correktur helfen zu wollen, ist herrlich. Geht Alles gut, so giebt es bei einander: Venedig, Druckbogen und Gondelei oder Spazierengehn an den Fondamenta nuove. Ich habe gerade sehr die Erholung und Stille nöthig. —
Ihnen und Ihren verehrten Eltern meine angelegentlichsten Grüße und Wünsche ausrichtend
Ihr
alter Freund
N.