1886, Briefe 655–784
754. An Jacob Burckhardt in Basel
Sils-Maria, Oberengadin, 22. Sept. 1886
Hochverehrter Herr Professor,
es thut mir wehe, so lange Sie nicht gesehn und gesprochen zu haben! Mit wem möchte ich eigentlich noch sprechen, wenn ich nicht mehr zu Ihnen sprechen darf? Das „silentium“ um mich nimmt überhand. —
Hoffentlich hat inzwischen C. G. Naumann seine Schuldigkeit gethan und mein letzthin erschienenes „Jenseits“ in Ihre verehrten Hände gelegt. Bitte, lesen Sie dies Buch, (ob es schon dieselben Dinge sagt, wie mein Zarathustra, aber anders, sehr anders —). Ich kenne Niemanden, der mit mir eine solche Menge Voraussetzungen gemein hätte wie Sie: es scheint mir, daß Sie dieselben Probleme in Sicht bekommen haben, — daß Sie an den gleichen Problemen in ähnlicher Weise laboriren, vielleicht sogar stärker und tiefer noch als ich, da Sie schweigsamer sind. Dafür bin ich jünger… Die unheimlichen Bedingungen für jedes Wachsthum der Cultur, jenes äußerst bedenkliche Verhältniß zwischen dem, was „Verbesserung“ des Menschen (oder geradezu „Vermenschlichung“) genannt wird, und der Vergrößerung des Typus Mensch, vor Allem der Widerspruch jedes Moralbegriffs mit jedem wissenschaftlichen Begriff des Lebens — genug, genug, hier ist ein Problem, das wir glücklicher Weise, wie mir scheint, mit nicht gar Vielen unter den Lebenden und Todten gemein haben dürften. Es aussprechen ist vielleicht das gefährlichste Wagniß, das es giebt, nicht in Hinsicht auf den, der es wagt, sondern in Hinsicht auf die, zu denen er davon redet. Mein Trost ist, daß zunächst die Ohren für meine großen Neuigkeiten fehlen, — Ihre Ohren ausgenommen, lieber und hochverehrter Mann: und für Sie wiederum werden es keine „Neuigkeiten“ sein! — —
Treulich
der Ihre
Dr. Friedrich Nietzsche.
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