1886, Briefe 655–784
769. An Franz Overbeck in Basel
Nice (France) pension de Genève pet. rue St. Etienne. <27. Oktober 1886>
Lieber Freund,
in Nizza seit einer Woche ungefähr angelangt, bis jetzt bei sehr schlechter Gesundheit, und mannichfachen Geduldproben und Widerlichkeiten ausgesetzt: ich habe Niemanden, der für mich sorgt — und bin jetzt fast blind! Trotzdem: es soll schon noch eine Zeitlang gehn!… Meine Bitte heute ist, die noch restirenden 500 frs nicht zu schicken, sondern anzulegen, so wie es Dir gut scheint: ich will den Versuch machen, bis Dezember-Schluß mit dem bereits Übersandten auszukommen. Meine andre Bitte ist: hast Du nicht ein Exemplar der „Idyllen aus Messina“? Ich brauche sie umgehend (wegen der Herstellung einer kleinen lyrischen Sammlung „Lieder des Prinzen Vogelfrei“) aber besitze sie nicht. An Schmeitzner darf ich mich nicht wenden.
Meine Angehörigen in Paraguay haben mir einen gezeichneten Plan ihrer colonialen Unternehmung geschickt und wollen mein Geld, das in Naumburg liegt, dazu. Was denkst Du eigentlich über meine Baseler Perspektiven? Mir ist zu Muthe, als ob ich mir das wenige Geld, das ich habe, für alle Fälle bereit halten sollte: ich meine so, daß es jeden Augenblick flüssig zu machen wäre? — Andrerseits verstehe ich mich nicht darauf, in einer solchen dummen Geldsache Nein zu sagen. —
Herrlicher Brief Henri Taine’s, der mich so ernst nimmt als ich nur wünschen kann; er ist so universal gebildet, die Stellen, die er heraushebt, geben mir den Beweis, wie gut er versteht. Übrigens bin ich ihm „infiniment suggestif“ und was meine Gesamtabschätzung der europäischen Völker und Kräfte betrifft, ist er ganz bezaubert und verspricht Satz für Satz wieder durchzunehmen. Er gehört zu meinen drei Lesern, die zwischen den Zeilen lesen.
An Deine Frau Schwiegermutter in München habe ich neuerlich auch geschrieben und mich herzlich für die Güte bedankt, mit der sie den armen Köselitz zu ermuthigen sucht. Übrigens hat mich alle Welt diesen Herbst in München erwartet, „fieberhaft“, wie Seydlitz schreibt. Es ist wunderbar, wie treu alle diese Anhänger Wagners an mir hängen bleiben; ich glaube, sie wissen, daß ich heute noch so gut als ehemals an das Ideal glaube, an welches Wagner glaubte, — was liegt daran, daß ich an dem vielen Menschlich-Allzumenschlichen gestolpert bin, das R<ichard> W<agner> selbst seinem Ideal in den Weg gelegt hat? U.s.w. U.s.w. Verzeihung, alter Freund Overbeck!
Dein F. N.