1886, Briefe 655–784
656. An Bernhard und Elisabeth Förster in Naumburg
<Nizza, 2. Januar 1886> Sonnabend Abend
Meine Lieben,
Ihr habt mich inzwischen mit allen möglichen guten Dingen und Projekten, Schriften, Uhrschnüren, Zukunfts-Öfchen, Zukunfts-Zuhörerchen, ausgegrabenen Griechen und emporgezogenen Deutschen überhäuft und überwältigt, so daß ich ein bischen den Verstand dabei verlor. Nun ist er wieder gekommen, und sofort verlangt er, daß ich Euch einen Dankesbrief schreibe. Zu alledem ist unser Winter herrlich, und wir haben hier guten Grund dankbar zu sein; denn sobald man in die Zeitungen blickt, heißt es „Schneesturm in Wien“ usw. Zwar haben auch wir es zu Schnee gebracht; er sah so komisch aus, daß ich glaubte, er stamme von einem Conditor und boulanger de luxe und schmecke vielleicht süß. Eine ganz heimtückische Lüge stand über unser Clima in der Leipziger „Illustrirten Zeitung“: wörtlich „An der Riviera, die uns sonst um diese Zeit mit Blumen zu versorgen pflegt, ist Alles erfroren“. Ich empfehle den Redacteur tüchtig „emporzuziehn“, an den Haaren natürlich! —
Mir ist zu Muthe, als sei ich das erste Mal in Nizza; mindestens weiß ich jetzt besser mir das Schöne, was zu mir hier paßt, zu Gemüthe zu führen und das Übrige einfach zu ignoriren. Die feine Luft, die zarten Farben aller Art, die unbeschreibliche Sonnigkeit — es hat etwas Begeisterndes, wenigstens für mich. Mein Kopf ist hier zehn Mal mehr werth als in Zürich oder Leipzig, hier, wo ihm das Clima „congenial“ ist, um mich äußerst gebildet auszudrücken. Es ist kein Zweifel, daß ich jedes Jahr (jeden Winter! aber nicht die andere Zeit!) jetzt einen Rucks weiter zur Gesundheit gemacht habe; und zwar zur Gesundheit meines Kopfes, nicht meiner Augen (unter uns gesagt —) Das Projekt mit Vorlesungen hat viel Verführerisches; trotzdem darf ich es nicht allzu sehr aus der Nähe betrachten, aus verschiedenen Gründen. Es thut gut, damit noch etwas Geduld zu haben; einstweilen solltet Ihr, meine Lieben, Eure Blicke lieber nach etwas „Zeitgemäßerem“ Umschweifen lassen. Zum Beispiel nach einer sogenannten Lebensgefährtin. Das Signalement ist: lustig, hübsch noch sehr jung, und im Übrigen ein tapferer kleiner Hammel à la Irene Seydlitz (mit der ich mich beinahe „Du“ nenne) — Dem Onkel Bernhard habe ich natürlich geschrieben, aber ich entnahm seinem Neujahrs-Glückwunschbrief an mich denselben Verdacht, den Du, mein liebes Lama, gehabt hast: daß der Brief nicht angekommen ist. Dies ist das dritte Mal, daß ich diesen Winter auf die Vermuthung komme, es sei ein Brief von mir unterschlagen oder sonst etwas. Ich habe dem Onkel ein paar Zeilen darüber noch zugeschickt.
Meine Lieben, es scheint mir nicht möglich, den hiesigen Himmel mit seinen 220 wolkenlosen Tagen wie ein Öfchen in den Koffer zu stecken und nach Zürich überzusiedeln. Traurig!
Auch hier Vorlesungen über Südamerika, eingerechnet Paraguay. Der Reisende, sehr entzückt im Ganzen (nach einer Reise von 3 1/2 Jahren) behauptet zuletzt, nichts gefunden zu haben, was schöner sei als Nizza.
Von schweizerischer Seite wurde ich auf den Gedanken gebracht, daß das vielfache, fast regelmäßige Scheitern deutscher oder schweizerischer Colonien in den La-Plata-Staaten seinen Grund in der Vermengung der Nationalitäten habe d. h. im Durcheinanderleben deutscher und romanischer Elemente. Es entstehe da kein Gefühl von Heimat, von Zu Hause sein, wenn man die italiänische Schmutzerei usw. in der nächsten Nähe habe. Principiell Romanen ausschließen und ebenso principiell die Reinlichkeit in Wohnung und Leben affichiren: das sei die Hauptsache, aber beides sei nicht leicht, weil das Erste im Widerspruch mit der Regierungspraxis jener Länder stünde, das Zweite mit dem Clima. Nun, vielleicht kann man die Deutschen dazu „emporziehn“.
Mit dem herzlichsten Gruße und Danke
Euer Fritz.