1886, Briefe 655–784
777. An Franziska Nietzsche in Naumburg
Nice, France pension de Genève. Montag <29. November 1886>
Eben, meine liebe liebe Mutter, kam das Paket, nachdem ich bereits rechte Sorge gehabt hatte; ich konnte mich nicht entschließen, an Dich darüber zu schreiben und beschloß von Tag zu Tag zu warten und Geduld zu haben. Es giebt jetzt gerade besondre Gründe, Verzögerungen der Post gelten zu lassen; zwischen Genua und hier ist (seit einem Monat ungefähr) eine Stelle für die Züge unfahrbar. Großes Vergnügen, meine liebe Mutter, daß nun der Überzieher da! Denn wir haben, etwa vom 15. Nov. an, frisches Wetter, die Nächte bis (1—2 Gr.) unter Null; und Dein Sohn hat ein sehr kaltes Nordzimmer für diesen Winter und muß sich hübsch einwickeln, um nicht gar zu sehr zu leiden. Die Wahrheit ist, daß der Sohn wieder guter Dinge ist, trotz Kälte und mancherlei Entbehrung und Nothstand; bei sehr gutem Aussehen, tüchtig bei der Arbeit, tüchtig jeden Tag 4 Stunden marschirend (was Beides immer bei mir zusammen trifft, die Lust und Kraft zum starken Gehen und die Lust und Kraft zum starken Arbeiten: kaltes Wetter Grundbedingung für Beides) Ich bin mehr als je vom Werthe Nizza’s für meine Gesundheit überzeugt und will an ihm festhalten, natürlich nur für die kalten Monate. Denn im Oktober war es zu mild für mich. Die Hauptsache ist, daß wir, seitdem es kalt ist, absolut helles Wetter haben, Tag und Nacht; kein Wölkchen. Und dies ist für mein Gefühl etwas Unbeschreiblich-Wohlthätiges, Belebendes, Ermuthigendes, Gesund-Machendes! Das eben habe ich nirgendswo. Oh, meine gute Mutter, wie kommt mir wieder die ganze Zeit vor zwischen April und jetzt, die ich nicht in Nizza war! Wie eine peinliche Strapatze, wie eine lange Erschöpfung, mit Muthlosigkeit, Mangel an Arbeitskraft, Mangel an Sehkraft verbunden; wie eine schändliche Geduldsprobe, bei der man Alles zusetzt und Nichts dafür bekommt. Aber Du erinnerst Dich, wie ich mich in Naumburg befand; weißt Du, ich war so weit herunter, daß ich schon wie die Katze miaute?..
Eben sehe ich die herrlichen Kravatten; vermuthlich hat in Betreff der Hemden es Schwierigkeiten gegeben. Die Wahrheit ist, daß ich die Kravatten zehn Mal nöthiger habe als Hemden; gestern dachte ich noch daran, mir eine Kravatte zu kaufen, während ich mit den vorhandnen Hemden gut noch den Winter auskomme. Also schönsten Dank! Es hat sich Alles so sehr gut gewendet! — Dagegen, meine liebe Mutter, habe ich ein wenig gelacht über Deine Bade-Marken-Wünsche. Nein, meine liebe Mutter, so haben wir nicht gewettet! Es versteht sich, daß Du sie haben sollst, aber nun noch eine hübsche Hauptsache dazu, ein Kleid, ein Möbel, — bitte, schreib mir!
Eben sehe ich, daß es fünf Kravatten sind — größter Kravattenluxus meines Lebens! Danke tausend Mal! —
Fritzsch hat sofort, am Tage der Ankunft des Traubenkistchens an mich geschrieben. — mein vorletzter Brief nach Paraguay, vom Engadin aus abgesandt, wird schwerlich dort anlangen: weil er über Genua adressirt war, und Südamerika sich gegen alle italiänischen Schiffe durch Quarantänen wehrt. —
Herzlich-dankbar
Dein F.