1886, Briefe 655–784
773. An Elisabeth Förster in Paraguay
Nizza (France) 3 Nov. 1886. pension de Genève, petite rue St. Etienne.
Mein liebes liebes Lama,
Deine letzten Briefe — der nach Sils, auf den ich geantwortet habe, und der über München hierselbst angelangte — gaben mir einen so guten Begriff von Eurem Zutrauen und Unternehmungs-Geiste, daß Unsereiner in der Ferne sich beruhigen lernt und seine Sorgen einstweilen hübsch schlafen schickt. Ich gestehe, daß mir der Gedanke, meine Schwester in einem unangebauten Welt-Winkel der Viehzucht ergeben zu wissen, eingerechnet Milchwirthschaft und Küchlein, noch immer sehr fremd ist, fast wie eine reine Träumerei, die man eines Morgens sich aus den Augen wischt. Noch weniger verstehe ich, warum Ihr Eure bescheidenere, aber bewiesenere Landhaus-Existenz so geschwind gegen den unbewiesenen gran chaco eintauschen wollt. Weshalb sich doch so große Ländereien und folglich so große Sorgen auf den Hals laden? Oder wollt Ihr geschwind reich werden? — mich brächte man nicht mit zehn Pferden dahin, wo, wenn ich recht berichtet bin, nicht einmal eine gute Bibliothek zu finden ist. Unter uns gesagt, meine liebe Schwester, wie ich nun einmal zum Leben und zur Aufgabe gestellt bin, die ich zu erfüllen habe, so habe ich Europa nothwendig, weil es der Sitz der Wissenschaft auf Erden ist; auch fand ich bisher keine Gründe, welche es mir verleideten; und gerade jene großen Bewegungen und Umstürze, welchen es wahrscheinlich in den nächsten 20 Jahren entgegengeht, finden in mir einen gut vorbereiteten und gründlichst betheiligten Zuschauer. Ich unterschätze die idyllische Absonderung und das Voltairische cultiver son jardin ganz und gar nicht, sonderlich für einen Philosophen: aber ich möchte es nicht in Eurer Weise thun, welche mir zu sehr „Rückkehr zur Natur“ zu sein scheint, Philosophie „für’s liebe Vieh“, im Scherz gesagt. Selbst, wenn ich gezwungen sein sollte, Europa zu verlassen (was nicht ganz unmöglich ist, da man anfängt, auf meine Litteratur als auf gefährliche und unmoralische Litteratur ein Augenmerk zu haben), so dürfte ich aus Gesundheitsgründen keine warmen Länder wählen. Die Verbesserung meines Befindens gehört jedes Jahr meinen drei Wintermonaten in Nizza und meinen Quasi-Wintermonaten im Engadiner Sommer (beide mit einer Durchschnittstemperatur von 9—12 Grad Celsius); die Zwischenzeiten sind mir widerlich durch ein Gefühl von Schlaffheit und Entmuthigung (eingeschlossen, daß meine Augen den Dienst kündigen —) Was mein Geld betrifft: so räth mir mein Verstand, wie der meines Freundes Overbeck jetzt unbedingt davon ab, mich irgendwo damit zu binden und die vollkommen freie Verfügbarkeit und jederzeitige Flüssigmachbarkeit desselben aufzugeben. Wer weiß, was in den nächsten 4 Jahren gerade bei mir sich begiebt? Gewiß ist, daß es jetzt an kleinen Zufällen hängt, ob ich meine Basler Pension noch fortbeziehe; mein letztes Buch wurde z. B. in einer Schweizerischen Zeitung so begrüßt: „Jene Wagen, welche die zum Bau der Gotthardbahn nöthigen Dynamitvorräthe führten, trugen eine schwarze auf Todesgefahr deutende Warnungsflagge. In diesem Sinne nennen wir das Buch des Philosophen Nietzsche ein gefährliches Buch usw.“ Man wird es verbieten, ich sehe es kommen (und sein Druck hat mich c. 300 Thaler gekostet!) Übrigens habe ich einen neuen Leser ihm zu danken, vom Range Jakob Burckhardts, nämlich Henri Taine, der mir einen herrlichen Brief geschrieben hat — Aber wie fremd Euch das klingen muß, auch so ganz aus „weiter Ferne“! In der That, auch ich bin ein „Ausgewanderter“. — und, wer weiß? auch ich habe meinen gran chaco!
In alter Liebe
Euer F.