1886, Briefe 655–784
730. An Ernst Wilhelm Fritzsch in Leipzig
Sils-Maria, Oberengadin den 7. August 1886.
Lieber und werther Herr Verleger,
es macht mir große Freude, Sie wieder so anreden zu dürfen! — Eben als ich Herrn C. G. Naumann den Auftrag gegeben hatte, Ihnen ein Exemplar meines neuen Werks zu übermitteln, kam Ihr Telegramm: ich nahm dies Zusammentreffen als ein günstiges und gütiges Omen meines Schicksals. —
Schmeitzner ist mir jetzt nichts mehr schuldig; wie es sich von selbst versteht, habe ich das Recht zu eventuellen neuen Auflagen mir vorbehalten. —
Diesen Herbst und Winter sollten Sie dem Vertrieb des noch gar nicht „herausgegebenen“ Zarathustra widmen, der neben meinem eben erscheinenden Buche Jenseits von Gut und Böse außerordentlich anziehend, zum Theil contrastirend wirken wird; andrerseits ist das eben genannte Werk eine Art Einführung in die Hintergründe des Zarathustra, — man wird schon dahinterkommen, daß es sich bei ihm nicht um Phantastereien und unwirkliche Dinge handelt. — Vielleicht könnten die drei Theile zusammengeheftet werden? denn die Vorrede im ersten Theile gilt für das ganze Werk. Und die Verkäuflichkeit scheint mir leichter, wenn auf dem Gesammt-Titelblatt steht
Also sprach Zarathustra.
Ein Buch für Alle und Keinen.
Von
Friedrich Nietzsche.
In drei Theilen.
Es ist schade, daß ich Ihnen meine Gedanken über das, was in Bezug auf die andren Bücher mir räthlich scheint, nicht mündlich auseinander setzen kann. Die Zahl der Exemplare ist so groß, daß es scheinen möchte, als ob es sich um eine ganz neue Ausgabe handle. Dies hat mir einen Gedanken eingegeben. Wenn nun einmal die Titel- und Umschlagblätter durch neue zu ersetzen sind und jedenfalls einige Buchbinder-Arbeit nöthig wird, was meinen Sie? wäre es nicht vernünftig, jenen Anschein zu benutzen d. h. auf den Titel drucken zu lassen
Neue Ausgabe
vermehrt durch eine Vorrede. (oder
Einleitung etc?)
Sie werden bemerken, daß Menschl<iches> Allzum<enschliches> die Morgenröthe, die fröhliche Wissenschaft einer Vorrede ermangeln: es hatte gute Gründe, daß ich damals als diese Werke entstanden, mir ein Stillschweigen auferlegte — ich stand noch zu nahe, noch zu sehr „drin“ und wußte kaum, was mit mir geschehn war. Jetzt, wo ich selber am besten und genauesten sagen kann, was das Eigene und Unvergleichliche an diesen Werken ist und inwiefern sie eine für Deutschland neue Litteratur inauguriren (das Vorspiel einer moralistischen Selbst-Erziehung und Cultur, die bisher den Deutschen gefehlt hat) würde ich mich zu solchen zurückblickenden und nachträglichen Vorreden gerne entschließen. Meine Schriften stellen eine fortlaufende Entwicklung dar, welche nicht nur mein persönliches Erlebniß und Schicksal sein wird: — ich bin nur der Erste, eine heraufkommende Generation wird das, was ich erlebt habe, von sich aus verstehn und eine feine Zunge für meine Bücher haben. Die Vorreden könnten das Nothwendige im Gange einer solchen Entwicklung deutlich machen: woraus sich nebenbei der Nutzen ergeben würde, daß, wer einmal auf eine meiner Schriften angebissen hat, es mit allen aufnehmen muß.
Ich würde, im Falle daß mein Gedanke Ihnen gefiele und einleuchtete, diesen Winter darauf verwenden, mir solche Vorreden auszudenken: mein Bemühen würde sein, jeder dieser Vorreden einen so selbständigen Werth zu geben, daß um ihretwillen allein schon die Werke gelesen werden müßten. — Anzufangen mit „Menschliches, Allzumenschliches“, von dem 511 Exemplare noch da sind, gerade genug, um eine neue Ausgabe zu repräsentiren? Was meinen Sie? Die beiden Anhänge dazu (Vermischte Meinungen und Sprüche und der Wanderer) könnten dann vielleicht das Jahr darauf erscheinen? Als zweiter Band? —
Ich denke, Sie fühlen mir nach, hochgeehrter und lieber Herr Fritzsch, daß ich bei diesen Vorschlägen sammt und sonders Ihr Interesse im Auge habe; ich möchte durchaus nicht, daß Sie jemals den großen Vertrauens-Beweis, den Sie mir durch den Ankauf meiner ganzen bisherigen Litteratur gegeben haben, zu bereuen hätten.
Auf der Rückseite vom Umschlag des letzterschienenen Buchs finden Sie eine Art Überblick und Programm über meine bisherige und zukünftige Thätigkeit. Es sollen 10 Werke und nicht mehr sein, mit denen ich „übrig“ bleiben will; 6 davon sind nunmehr in Ihren Händen. Vereinfachung der Titel (damit sie leicht zu citiren sind z. B. bloß „die Geburt der Tragödie“), andrerseits eine kleine Erläuterung wo ich das Mißverständliche eines Titels erprobt habe (z. B. zu „die fröhliche Wissenschaft“ der Zusatz in Parenthese „gai saber“, damit man an den provençalischen Ursprung meines Titels und an jene Dichter-Ritter, die Troubadours erinnert wird, die mit jener Formel all ihr Können und Wollen zusammenfaßten) — dergleichen scheint mir nützlich. Genaueres erst, wenn ich Ihre Antwort auf meine hier angedeuteten Vorschläge habe.
Ihr ergebenster
Prof. Dr. Nietzsche
NB. Einen so langen Brief bekommen Sie niemals wieder: das verbieten die Herrn Augen.