1886, Briefe 655–784
741. An Bernhard und Elisabeth Förster in Asuncion
Sils-Maria den 2. September 1886
Meine Lieben in der Ferne,
Vergebung für dies Papier, aber ich weiß gerade keinen Briefbogen zu erwischen, und möchte Sils-Maria doch nicht verlassen, ohne Euch gesagt zu haben, was für schöne Überraschungen und Erquickungen mir in diesem Sommer Eure zwei Briefe gewesen sind. Deiner, mein liebes Lama, kam präcis zur Feier Deines Geburtstags an. Im Ganzen scheint es bei Euch anders zu stehn als bei mir, wo eine Art Ruhe und rückwärts blickende Sammlung eingetreten ist: während Ihr vor dem „Werke“, oder „dem Berge“ steht und vorwärts blickt. Daß ich kurz erzähle, was sich bei mir erledigt hat, so mag zuerst genannt sein, daß die Schmeitzner-Misère, nach zwanzig intermezzi, doch zu Ende gekommen ist: Fritzsch hat Alles an sich gekauft und auch bereits die 62 Centner in seinem Hause, — hoffentlich nicht als „Klumpfuß“! Eben erscheint eine neue Ausgabe von „Menschliches, Allzumenschliches“, mit einer langen Vorrede (ein Druckbogen); vorbereitet wird zu gleichem Zwecke die „Geburt der Tragödie“, bereichert durch einen „Versuch einer Selbstkritik“, worin ich meiner Wagnerei und Romantik von Ehedem gründlich die Wahrheit gesagt habe. Bei C. G. Naumann habe ich vor wenig Wochen etwas Neues von Stapel laufen lassen: „Jenseits von Gut und Böse. Vorspiel einer Philosophie der Zukunft.“ Bis jetzt ist schon die Hälfte der Auflage abgesetzt; Naumann schrieb sehr vergnügt, — es ist als ob ein Bann von meinen Büchern genommen wäre, seit der lähmende und compromittirende Schmeitzner abgeschafft ist. Zuletzt freilich liegt mir nicht genug daran, von diesen gegenwärtigen Deutschen gelesen zu werden: sie haben Andres im Kopfe und in den Händen. Ich will nur, daß sie meine Bücher kaufen, nicht um mich zu bereichern, sondern exakt, daß ich, vollkommen unabhängig von Verlegern, etwas drucken kann und wieder zu meinen Druckkosten komme. So probire ich’s eben. Verzeihung, daß ich das neue Buch noch nicht geschickt habe: aber, eben im Begriff, die Ordre dazu zu geben, sah ich’s mir erst darauf an, ob es Euch Vergnügen machen werde, — und siehe, da schien mir’s gar nicht so! — Mein Aufenthalt in Deutschland hat sich dies Mal so gut gelohnt, wie noch nie; denn Alles war nur persönlich abzumachen. Das Wetter war sehr entgegen, schändlich heiß, schon im Mai (jeden Tag eine ganze Woche lang bis zu 30 Celsius im Schatten!) Freund Rohde in Leipzig saß wie auf einem Marterbett daselbst und nahm nach 6 Wochen Vorlesungen einen Ruf nach Heidelberg an (wo man äußerst glücklich über einen solchen Fang war und ihn umgehend zum Geheimen Hofrath und Mitglied des Badischen Oberschulraths gemacht hat) Ich habe mit ihm kein vernünftiges Wort geredet; mit Heinze habe ich im Rosenthal saure Milch (verzuckert und verzimmtet) gegessen, realiter und symbolice… „Alle Welt“ ist mir „gewogen“, was nicht hindert, daß mich „alle Welt“ seit 16 Jahren mit absoluter Unverständigkeit behandelt. In München liebenswürdiges Entgegenkommen, auch von Levi, der mir für den Fall eines Herbst-Aufenthaltes die schönsten Versprechungen machte: übrigens war er fast noch mehr Bizet-Enthusiast als ich. Er versprach mir, als Finesse ersten Ranges, eine kleine komische Oper von Cornelius: sonderbar! Hier im Engadin entdeckte ich, daß meine Tischnachbarin, ein Mädchen von 17 Jahren, die Schwester des „Barbiers von Bagdad“ — so heißt jene Oper — war, nämlich die Tochter jenes Cornelius (leider sans sa finesse —) Sonst habe ich wieder meine Engländerinnen, die alte Russin, den Holländer aus Java, der sich sehr mir angenähert hat und mir zum Abschied das Bild seines Kindes schenkte (— er hat seine junge Frau verloren und reist nun wieder aus der Sommerfrische im Engadin nach seinem Java zurück: wie rund die Erde wird, meine lieben Südamerikaner, nicht wahr? —) Dann sind c. 10 Universitätsprofessoren hier (in meinem Hause 4), mit denen ein artiger Verkehr stattfindet, ohne daß er mir die Einsamkeit nimmt. Sils, eine Sache ersten Rangs: unsere Halbinsel hat weder in der Schweiz, noch in dem mir bekannten Europa seines Gleichen. Lauter neue Wege: die Stelle, wo ich den Zarathustra ausgedacht habe und einst begraben sein wollte, ist jetzt zugänglich gemacht und als schönste Stelle des Engadin in Ruf gebracht. Was den Winter betrifft, so bleibt es bei Nizza: nur muß ich Jemanden schaffen, der meine Existenz daselbst „wördiger“ gestaltet (denn ich nähere mich dem unheimlichen Zeitpunkte, wo ich ein „berühmtes Thier“ bin und mich gegen Entrée sehen lasse…) Meine Gesundheit hat sich, nach dem Urtheile Aller, die mich wieder gesehn haben, entscheidend verbessert: Anzeichen davon — ich werde grob. Nur die Augen sind zurückgegangen, — weil ich zu viel geguckelt habe. Für die nächsten 4 Jahre ist die Ausarbeitung eines vierbändigen Hauptwerks angekündigt; der Titel ist schon zum Fürchten-Machen: „Der Wille zur Macht. Versuch einer Umwerthung aller Werthe“. Dafür habe ich Alles nöthig, Gesundheit, Einsamkeit, gute Laune, vielleicht eine Frau.
So! Meine Lieben, nun habe ich entsetzlich lang von mir geschwätzt: aber das gehört wohl zu einem Briefe? — Aus der Stimmung, in der das Lama schrieb, dachte ich mir aus, wie Euer Klima ungefähr den Eindruck machen müsse, wie das von Nizza. Schade, daß Ihr so weit davon gelaufen seid! Und ich — professionell ein „guter Europäer“, habe es nicht so leicht, wie Ihr, Europa zu verlassen! Eigentlich darf ich’s nicht einmal. Auch hat mir jeder Capitän gesagt, mit dem ich ein Stückchen von 2—3 Tagen gefahren bin, daß ich zu denen gehöre, die an der Seekrankheit zu Grunde giengen, wenn ich’s weiter triebe, wie ich’s jedes Mal getrieben habe. —
Behaltet mich lieb, behaltet Euch lieb: es grüßt und umarmt Euch
brüderlich-schwägerlich
Euer Fritz.
— rings überall große Gemsenjagd, seit gestern —