1886, Briefe 655–784
662a. An Louise Röder-Wiederhold
Nizza, den 10. Januar 1886
Verehrte Frau,
soeben habe ich einige Zeilen an den Kapellmeister Ihrer Oper Herrn Mottl geschrieben: da fällt mir ein, daß Jemand in Carlsruhe noch mehr einen Anspruch hat, von mir einen Brief zu bekommen. Vergeben Sie, ich war so lange schweigsam: wenn ich bei „besseren Augen“ wäre, würde ich sicherlich auch bei besserer Feder sein. (Gewagtes Deutsch! Aber was liegt daran! Wenn man im Deutschen, als Deutscher, nichts wagt, was liegt an uns Deutschen!)
Es ist mir noch in Erinnerung, daß Sie in Ihrem letzten Briefe ein Mittel gefunden hatten, mir meine Unzulänglichkeit in Sachen der Arithmetik vor Augen zu stellen. Der Himmel behüte Sie davor, daß ich nicht eines Tages noch ein Mittel finde, meine beleidigte Eitelkeit zu rächen! —
Jenes bewußte „grauschwarze Ungeheuer“ erweist sich als besonders wohlthätig: wir haben einen artigkalten Winter, und da der Philosoph es sich bisher versagt hat, einzuheizen — —
Unserm Freunde K. ist es auf seinen Kreuz- und Querfahrten schlimm ergangen. Jetzt steht der Stern über Carlsruhe! Gesetzt, daß der Löwe von Venedig dort „brüllen“ lernte — „zärtlich“ genug, um mit Shakespeare zu reden — so gäbe es für mich einen zweiten Verführungs-Grund, mir dieses Carlsruhe einmal im Verlauf des Jahres anzusehn — trotz Allem, was Sie selber, verehrte Frau, gegen Ihren Wohnort geltend gemacht haben.
Genehmigen Sie den herzlichen Gruß
Ihres dankbaren
Dr. Friedrich Nietzsche
Nizza den 10 Januar 1886
rue St. François de Paule 26 II