1886, Briefe 655–784
657. An Reinbart und Irene von Seydlitz in München
Adr.: Nice (France) rue St. François de Paule 26 II am 2ten Januar 1886
Meine sehr lieben Freunde,
außer für zwei so gute Briefe habe ich heute auch noch dem angenehmen Schalk Zufall allerschönstens zu danken, dafür daß er mich, ganz unverdientermaaßen, bei meinen Freunden in „guten Geruch“ — Blumen-Geruch! gebracht hat. Möchte ich doch im Stande sein, etwas von unserem unverwüstlichen Sonnen-Wetter (ein Tag wie der andre) unter Kreuzband zu senden, am besten ein gutes Stück blauen Himmels, an dem wir hier Überfluß haben — Nizza rechnet im Jahre auf 220 absolut wolkenlose Tage und hat damit in Europa keinen Nebenbuhler, auch an dieser Küste nicht. Es ist das belebendste Klima, das sich denken läßt, das „Paradies der Kranken und Greise“ (folglich der heutigen Philosophen, welche, in irgend einem Sinne, etwas von Beidem zu sein pflegen)
Meine lieben Freunde, eigentlich sind hier alle Bedingungen zusammen, um sehr gesund, sehr gut beleuchtet, sehr kosmopolitisch, ja sogar sehr billig zu leben (letzteres in Folge des rapiden Niedergangs der Wohnungspreise und der allgemeinen Hôtel-Calamität, welche keine Aussicht hat bald zu verschwinden.) Dank den großen Liquidationen kann man hier zu sehr hübschen Meubles und Einrichtungen kommen. Die Fremden-Welt, wie sie hier lebt, scheint mir zuletzt für einen Künstler und Impresario „in Japonicis“ mehr vorbereitet als vielleicht die Gesellschaft irgend einer europäischen Großstadt. Das slavische Element (Polinnen, Russinnen) überwiegt.
— Was Alles nur ausdrücken soll, daß ich eine herzliche Sehnsucht habe, Euch hier zu haben.
Nehmt, wenn ich bitten darf, Euren Freund mit in Eure Zukunftspläne, Zukunftsträume, Zukunftschlösser auf —, ich, wie ich eben verrathen habe, thue das Gleiche. Wer weiß, was da noch Gutes einmal herauskommt! Man soll hübsch zum Gotte Zufall beten: mitunter schickt er Blumen. —
Aber der Magen, der Vater der Trübsal auch bei mir! Jetzt will er, daß ich von Milch, Eiern, Feigen und Grahambrod lebe — ich glaube, so hat Epicur gelebt, der auch am Magen litt. Das Glück, wie es jener Weise verstand, ist das Glück eines Dyspeptikers - - - Und behaltet lieb Euren Freund
Nietzsche.