1886, Briefe 655–784
783. An Franz Overbeck in Dresden
Nice, 25 Dezember 1886
Lieber Freund,
Dir ist dies Mal ein betrübtes Weihnachten bescheert worden: was ich von Herzen bedauere. Auch bei den Nachrichten über die ungewöhnlichen Schneefälle, die aus Deutschland kamen, dachte ich Deiner Reisen dorthin mit Besorgniß. Hoffentlich bist Du nirgendswo hängen geblieben; ich glaube, daß noch niemals zu gleicher Zeit eine so große Zahl von Eisenbahnzügen vom Schnee festgesetzt worden ist; auch in Frankreich, auch in der Schweiz. Wir Nizzarden genießen von dem Allen die gute Kehrseite: nämlich die inperturbable Heiterkeit des Himmels. Dabei ist es kalt, in meinem persönlichen Falle sogar sehr kalt. Ein Nordzimmer ohne Ofen: habituelle blaue Finger. Was habe ich in den 7 Wintern meiner Existenz im Süden schon gefroren! Im Grunde bin ich nicht bemittelt genug, um hier zu leben; die Pensionspreise mit Südzimmern sind viel zu hoch für mich, insgleichen die gut gelegenen Privatwohnungen. Rechne ich noch meine Engadiner Sommer dazu mit 10, 11 und 7 Grad Celsius im Monatsdurchschnitt (letzteres im September), so ergiebt sich die frostigste Existenz, die man sich in diesem Leben herstellen kann. Die üble Folge ist, daß ich vom Frühling und Herbst in einer Weise zu leiden habe, daß sie mir fast das ganze Jahr jetzt verleidet: nämlich an den erschlaffenden entmuthigenden entnervenden Consequenzen der wärmeren Jahreszeit. Der letzte Frühling in Naumburg war eine vollkommene Marter für mich. —
Geld, lieber Freund, ist dies Mal sehr erwünscht; ich habe meine letzten Hôtelrechnungen noch nicht bezahlt. — Was mich diese letzte Zeit sehr mitnimmt und mir fast immer gegenwärtig ist, das ist der Zustand des armen Köselitz in München: er ist besorgnißerregend. Ich kenne ungefähr die Resistenzkraft eines solchen Menschen und auch den Punkt, wenn die Schraube überspannt ist. Diese Demüthigungen seit drei Jahren, diese Schläge in’s Gesicht, dieses unerbittliche Nein, verwickelt mit der Nöthigung, sich Brod zu verdienen (er schreibt für Zeitungen 4 Pf. die Zeile) und andrerseits das Bewußtsein davon, ein unsterbliches Werk geschaffen zu haben, dem sich vom Heutigen Nichts an die Seite stellen läßt: das bringt eine Gefahr mit sich, gegen die ich nicht blind bin. Unter uns, man kann jeden Augenblick das Schlimmste hören. Sein Ehrgefühl ist so reizbar, daß ihm auch nicht materiell jetzt unter die Arme zu greifen ist, er weist Alles zurück. Die Geschichte ist so alt wie die Welt; deshalb nicht weniger schmerzhaft. —
Mit den besten Wünschen für das neue Jahr verbleibe ich in dankbarer Ergebenheit
Dein Freund
Nietzsche.
Anbei eine sehr gutmüthige Anzeige von J. v. G. u. B., die sich zu mir verirrt hat. Man sagt mir, dieser Dr. Welti sei der Sohn des Alt-Bundespräsidenten Welti. — Sonst überall die Tonart des Widmann. —