1886, Briefe 655–784
660. An Franz Overbeck in Basel (Entwurf)
<Nizza, Anfang Januar 1886>
1. Ich hörte mit größter Theilnahme von R<ohde>’s Berufung: aber warum schreibt er gar nicht mehr an mich? Ich habe wenig Geduld für einen ehemaligen Freund übrig und wahrhaftig nicht als Einer, der von Natur ungeduldig und unduldsam wäre.
Aber ich habe diese ganzen 10 Jahre über (wenn ich meinen Freund O<verbeck> ein für alle Mal ausnehme) allzuviel Blödsinn, Oberflächlichkeit und Anmaßung von Seiten solcher erlebt, welche ich als meine Freunde glaubte. Ich danke dem Himmel, daß ich die Liebe meiner Angehörigen noch habe, nachdem auch diese, unter der Nachwirkung von allerlei „Freundschaftsdiensten“, wie gefährdet war.
3. Was aber meine ganze Lage betrifft, so erkenne ich gar Niemand mehr für meinen Freund an, der nicht das ungeheure Elend dieser Lage begreift: daß ein Mensch, der für die reichste und umfänglichste Wirksamkeit geboren ist, dermaßen in unfruchtbaren Einöden seine besten Jahre zubringen muß: daß ein Denker wie ich, der sein Bestes niemals in Büchern, sondern immer nur in ausgesuchten Seelen niederlegen kann, gezwungen ist, mit seinen halbblinden schmerzenden Augen „Litteratur zu machen“ — es ist Alles so verrückt! so hart!