1886, Briefe 655–784
686. An Franziska Nietzsche in Naumburg (Fragment)
<Nizza, 11. April 1886>
Verzeihung, meine liebe Mutter, daß ich wieder so schweigsam war und Dir nicht einmal für Deinen guten Brief gedankt habe. Ein paar Zeitungs-Artikel aus den Basler „Nachrichten“, deren ich zufällig habhaft wurde (leider nur die 3 letzten Nummern) sind an Dich abgeschickt worden: sie stammen von einem eben verstorbenen Schweizerischen Staatsmann, dem Landamman Vigier, der 30 Jahre die Regierung des Kantons Solothurn geleitet hat. Als Student war er in Berlin; und seine Erinnerungen an die 48ger Jahre machen um des Contrastes willen einen starken Eindruck, — man hält es nicht für möglich, daß wir schon so ganz entgegengesetzte Zustände erlebt haben. Zuletzt: wer glaubt heute noch daran, daß unser Deutsches Reich 40 Jahre Stand hält! Es geht alles heute schnell vorüber.
Heinze’s sind seit einer Woche hier, und es giebt zwischen uns einen heiteren und artigen Verkehr, zumal wir nicht weit von einander wohnen. Auch ein Paar schöne Tage kamen zu Hülfe: so daß Heinzes recht erbaut von Nizza sind. Ich bin im Grunde sehr angegriffen, Dank der langen Arbeit und Schreiberei; auch habe ich alles Drucken hinausgeschoben, ich denke im Herbst Einiges persönlich zu diesem Zwecke zu arrangiren, wenn ich zu Dir und nach Leipzig komme. Mit Herrn Credner bin ich beinahe wieder auseinander, unter uns gesagt. Auch der frühere Verleger Schm<eitzner> hat sich durch gereizte und wenig erquickliche Briefe mir ins Gedächtniß zurückgerufen, — ich habe den ganzen Winter über noch Schererei von wegen der Hypothek seines Vaters gehabt.
Der Tod des Prof. Vischer-Heusler in Basel hat mir sehr weh gethan.
Rohde hat von Tübingen noch geschrieben, er ist seit dem 8. d. M. in Leipzig. —
Nächsten Dienstag geht es fort von hier, nach Genua und Venedig; es schmerzt mich, daß ich den guten Freund Köselitz daselbst nicht mehr vorfinde.