1886, Briefe 655–784
736. An Franziska Nietzsche in Naumburg
Sils-Maria Oberengadin Schweiz 17. August 1886.
Meine liebe gute Mutter,
ein Regentag: da soll gleich ein Briefchen an Dich absausen! Besten Dank für das, was Du mir geschrieben! Es gieng inzwischen etwas besser: das Recept, das ich mir verordnete, war sehr sonderbar: nämlich ins Hôtel zu gehn und mitzuessen, was Alle essen. Das hat mich wieder auf die Beine gebracht (ich brauche starke Mahlzeiten, um mich wohl zu fühlen: leider, leider bin ich nicht reich genug zu dieser mir angemessenen „Kur“ —).
Augenblicklich sind hier in Sils an die 10 Professoren der Universität; in meinem kleinen Hause 4, mich eingerechnet.
Der Handel mit Schmeitzner ist zu Ende: „endlich im Besitz“ telegraphirte mir Fritzsch — und seitdem ist viel Briefverkehr zwischen uns, weil Vielerlei meinerseits neu anzuordnen ist.
Herr Köselitz schreibt über München und Bayreuth: er ist also schon unterwegs.
So wie der gute alte Wenkel über Philosophie denkt, denken viele alte Philologen auch über Philologie: es sei gar nichts mehr Neues zu sagen. Ich halte beide Urtheile für irrthümlich und habe es (was mehr ist) durch Wort und That bewiesen. Freilich gehören dazu auch neue Ohren: wie man sie sich beim besten Willen in einem gewissen Alter nicht mehr anschaffen kann.
Die Geschichte mit Sonnemann (oder wie der Antisemit heißt, von dem Du schriebst) hat mich besorgt gemacht. Siehst Du, dieser Gattung Menschen wegen könnte ich schon nicht nach Paraguay gehn: ich bin so glücklich darüber, daß sie sich freiwillig aus Europa verbannen. Denn, wenn ich auch ein schlechter Deutscher sein sollte — jedenfalls bin ich ein sehr guter Europäer.
Sils als Landschaft und Menschheit gefällt mir nach wie vor. Nur — ist es zu theuer, wenn ich hier so leben will, daß ich nicht melancholisch werde. Für den September ist ein Zusammentreffen mit dem braven Herrn Lanzky in Aussicht; und, hoffentlich, eine tüchtige Fußreise, die mir sehr nöthig scheint. — Der Winter in Nizza: ich werde schwerlich darum herum kommen.
In alter Liebe und steter Dankbarkeit
Dein Fritz