1886, Briefe 655–784
666. An Franziska Nietzsche in Naumburg
<Nizza,> Sonnabend. <30. Januar 1886>
Meine liebe liebe Mutter,
es ist mir dies Mal besonders traurig, daß ich nicht zu Deinem Geburtstage zugegen sein kann: denn vielleicht würde es in Hinsicht auf die vielen schweren Gefühle, welche dieser Tag mit sich bringt, eine Erleichterung für Dein Herz sein, wenigstens eins Deiner Kinder noch als guten Europäer übrig zu behalten: da nun einmal das Lama schlechterdings sich für Südamerika und den Maté erklärt hat. Nun, wer weiß, wie lange es noch dauert: da zieht der Nizza-Müde auch wieder nordwärts, „heimwärts“, gleich den berühmten Schwalben, zumal sich gestern etwas begeben hat, das mich wieder mit einem neuen Bändchen an das gute Leipzig bindet. Ich habe einen Verleger: das ist der langen Rede langer Sinn. Als ich nämlich Nachts so weit war mich zu Bett zu legen, fand ich zufällig noch einen Brief, den man mir unter der Thür durch in’s Zimmer geschoben hatte (ländlich, schicklich, sehr schicklich!)
Ich las ihn, er war von Credner — und seine Erklärung machte mir solches Vergnügen, daß ich nicht umhin konnte, im Hemde einen kleinen Rundtanz zu machen. Trotz der Kälte: denn ich habe bis heute noch nicht eingeheizt. Ich hatte ihm den zweiten Band meiner „Morgenröthe“ angeboten (Du siehst, das alte Schreibe-Thier ist fleißig gewesen); er acceptirt mit Vergnügen, wünscht ausdrücklich, daß ich ihn unter meine Verehrer rechnen möge, verlangt, daß etwas geschehn müsse, um mein Verhältniß mit Schmeitzner zu lösen, deutet den Wunsch an, den Rest von „Menschliches, Allzumenschliches“ dem Schmeitzner abzukaufen, kurz, benimmt sich, wie der lange ersehnte Verleger der Zukunft.
Dies bitte ich auch dem theuren Lama und ihrem Eheherrn, Sklavenhalter und Erziehungsdirektor gefälligst mitzutheilen —, sonst aber Niemandem, auch Heinze’s nicht. —
Vielleicht, daß ich dieser litterarischen Pläne wegen nach Deutschland komme: — dieses kleine „Vielleicht“ bitte ich, meine liebe Mutter, als eine Art Geburtstagsgeschenk von mir heute entgegenzunehmen.
Ihr werdet schrecklich zu thun haben? — Ich bin sehr viel mit meinen Gedanken bei Euch; und als uns neulich von Amerika „schlechtes Wetter“ annoncirt wurde, ärgerte ich mich, weil in diesem Jahre ohnehin schon Amerika uns die gute Laune nimmt. Zwar sagt man mir hier überall „eine Reise nach Südamerika ist kein Ereigniß und kein Grund, sich zu ängstigen“; aber wir sind noch nicht an diese kosmopolitische Flugvögel-Art zu leben gewöhnt, an die unsre Nizza-Gäste gewöhnt sind.
Man erweist mir hier viele Aufmerksamkeit und Auszeichnung, ich kann es nicht ableugnen. Der alte Holländer ist jetzt auch eingetroffen und voller Freude, mich wieder zu sehn (Er hat zu andern Personen von mir ganz stolz gesagt „er ist mir ein wahrer Freund, ich weiß es ganz genau“.)
Derselbe Holländer, früher im Ministerium, aber durch seine Augen zur Niederlegung seines Amtes gezwungen, kommt immer nach Nizza zurück, weil er hier weniger an seinen Augen leide als anderswo: in seinem Holland verschlechtert sich der Zustand jedes Mal. Ganz wie bei mir.
Die alte Pfarrerin läßt auf das Herzlichste grüßen.
Schreib mir genau, was jetzt beschlossen ist, und ob mein letzter Brief (worin ich fünffach zu danken hatte) wirklich angekommen ist.
Denkt meiner einzeln und wenn Ihr beisammen seid und behaltet lieb
Euren Fritz.