1886, Briefe 655–784
781. An Heinrich Köselitz in München
<Nizza, 22. Dezember 1886>
Lieber Freund,
es ist eine Lösung, wenn es gleich nicht die ist, welche ich von Herzens Grunde gewünscht habe. Sie hätten mein Anerbieten annehmen können, es hätte mich reicher gemacht als ich bin — denn das ist augenblicklich meine Armuth, mich außer Stande zu fühlen, diesen ganzen greulichen Druck, der auf Ihnen lastet, von Ihnen zu nehmen. Diese Reisen nach Deutschland sind auch für mich jedes Mal zu einer Kette feinerer oder gröberer Demüthigungen geworden. Zuletzt wüßte ich Ihnen, wenn Sie jetzt nach Nizza kämen, nichts zu präsentiren, was den Vergleich mit der würdigen stillen Venediger Wohnung aushielte; und zb. in Ruta oder in Genua würden Sie die von Ihnen hervorgehobenen Übel, welche ein Wohnungswechsel mit sich bringt, in der bittersten Weise empfunden haben. Ich will nicht vergessen, daß Herr Zillicher in Genua mir seine Karte für Sie gegeben hat, mit der herzlich ernsten Erklärung, daß Jemand, der von mir empfohlen sei, ihm auf das Beste empfohlen sei. Gestern bekam ich den Bericht des Dr. Welti (Sohn des alten Schweizer Bundespräsidenten) aus Zürich zugeschickt — durch wen? Durch Frl. v. Salis. Es thut mir wohl, eine Zeit lang noch in diesem harmlosen clair-obscur fortzuleben. Das incognito ist eine wichtige Sache. Ich weiß nicht, wie es kommt, aber es gab neuerdings bei mir recht viel Düsterkeit und Härte: da dachte ich immer Ihrer Musik — wie sehr sie mir fehle und wie sehr sie meiner Seele und Gesundheit schon genützt hat. Vorigen Sonntag lief ich aus Melancholie in’s Theater: Boccaccio, eine Operette, die ich nun in drei Sprachen kenne. Aber um wie viel war die französische Interpretation die beste! Ich war erstaunt: diese Eleganz und Feinheit der Gebärde, diese tiefe Gutmüthigkeit in der Interpretation, dieser Mangel an der deutschen Gemeinheit (— nämlich die deutsche Gemeinheit ist die gemeinste, vielleicht weil der D<eutsche> sich ihrer leicht schämt). Die Musiker spielten mit Feuer und bester Laune; ein deutscher Orchestermensch würde glauben, daß er im Grunde hundert Mal zu gut für solche Musik sei — und deshalb spielt er dann gemein. Ich selbst — absurd genug — habe drei, vier Mal Thränen in den Augen gehabt. Die große Heiterkeit ist das, was mich jetzt am meisten rührt.
Anbei, lieber Freund, die Vorrede der „Morgenröthe“ zur letzten Revision und dann fort an Fritzsch! Es giebt noch Einiges zu corrigiren: wollen Sie helfen?
Treulich Ihr Freund
Nietzsche