1886, Briefe 655–784
774. An Franziska Nietzsche in Naumburg
13. Nov. 1886 Nizza (France) pension de Genève pet. rue St. Etienne.
Meine liebe alte Mutter,
wirklich hatte ich auf ein Briefchen von Dir gewartet: nun, eben kam es, schönsten Dank! Es gieng nicht gut, es geht nicht gut, es ist auch nicht zu helfen. Doch habe ich Einiges wieder in Ordnung gebracht in Hinsicht auf meine früheren Schriften: die nun alle, in schönen neuen Kleiderchen, und von mir mit mächtig-langen Vorreden versehn, bei dem neuen Verleger sich Aussicht auf bessere Tage machen. Inzwischen habe ich in Betreff der andren Angelegenheit mit Overbeck Briefe gewechselt: und der räth mir unbedingt ab, mein Geld in der gewünschten Weise zu engagiren; es ist wirklich wider alle Vernunft, und Overbeck hat mir mit Recht die völlige Unsicherheit meiner Lage in<s> Gedächtniß zurückgerufen. Du hast ganz Recht, es wäre hundert Mal räthlicher und sicherer gewesen, das Geld Dir auf das Haus zu geben; aber es scheint mir doch besser, so wie es ist, daß ich jeder Zeit flüssig machen kann, was noth thut. Übrigens bin ich wirklich in praktischen Dingen dieser Art unbeschreiblich schwerfällig und ungeschickt; ich glaube, im Grunde würde ichs am liebsten machen wie ein Bauer und das Geld unter die Erde vergraben, bis ichs brauchte. Die ganze Idee, mich zum Grundbesitzer in Paraguay zu machen, hat übrigens auch das gegen sich, daß darauf hin man mir in Basel keine Pension mehr geben würde; ich dürfte es nicht einmal mehr beanspruchen. Eins — oder das Andre. „N<ietzsche> hat eine halbe Meile Land, und Vieh darauf“ — das wäre in dem sparsamen und vernünftigen Basel ein Argument, worauf hin man mir mit dem besten Gewissen von der Welt die Pension entziehn würde. — Sende mir doch so bald als möglich den guten Winterüberzieher, den ich im Frühjahr bei Dir gelassen habe (hübsch gereinigt und die Knöpfe recht fest!) Und, bitte, lege ein oder zwei Paar gestrickte Handschuhe hinein, weißt Du zum Waschen früh morgens, um den Körper damit abzureiben! Die Sendung muß als „getragene Kleider“ bezeichnet werden, aber französisch: frage Deinen Postbeamten, wie man das ausdrückt! — Für Deine Weihnachts-Absicht danke ich herzlichst: aber wir wollen es ja lassen, ich habe es verschworen, mit der Post und dem Zoll in solchen Sachen zu thun zu haben. — Womit könnte ich Dir für Weihnachten eine hübsche kleine Freude machen, meine gute Mutter? Aber Du mußt ganz ernsthaft darauf eingehn; ich habe eben die Summe von 500 frc. erspartes Geld, kann mir also einen kleinen Luxus erlauben. Zumal ich gar Niemanden habe als meine gute Mutter. — Man hat so wenig Menschen übrig, wenn man ein bischen genauer zusieht. Was mich jetzt besorgt macht, ist, daß ich vielleicht bald auch nichts mehr zu thun habe, von wegen der immer schlechteren Augen: nämlich nichts mehr thun kann. —
Nizza ist immer noch das Beste, aber auch nur für die kalte Jahreszeit. Selbst der Oktober ist hier zu mild für mich. Vielleicht bleibe ich einmal den Winter oben im Engadin; es sind auch dies Mal wieder gegen 300 Gäste in St. Moritz dazu entschlossen (darunter mein englisch-russisches Trio)
Haben denn Fritzschs und Janicauds sich schön bei Dir bedankt? Es ist mir eingefallen, daß ich mich noch gar nicht dafür bei Dir bedankt habe.
Wir haben trauriges Wetter, viel Regen; auch gab es eine große Sturmfluth, bei der viel beschädigt worden ist. Ich selbst wurde von einer Welle überrascht und flüchtete auf einen Baum.
Mit herzlichstem Gruß und Dank Dein
F.