1886, Briefe 655–784
673. An Erwin Rohde in Tübingen
Nice (France) rue St. François de Paule 26 II 23. Februar 1886.
Lieber alter Freund,
meine Mutter hat mir kürzlich Deine Berufung nach Leipzig gemeldet: ich habe lange keine solche Freude gehabt, wie bei dieser Nachricht! Seitdem male ich mir immer und immer wieder aus, daß dieses Jahr uns zusammen bringen muß. Vielleicht, daß es sich schon für den Frühling einrichten läßt; und am Allerliebsten wäre ich bei Deiner Einführung Augen-, Ohren und Herzenszeuge. Ich kann es gar nicht ausdrücken, wie sehr mich diese Hoffnung streichelt und erquickt. Vorigen Herbst war ich etwas in Leipzig, wie zum Vorgeschmack: ach, still, versteckt beinahe, fast immer für mich, aber wie von lauter Erinnerungen an Dich und unsre alte Gemeinschaft an diesem Orte gewärmt. Der Zufall wollte, daß ich etwas von dem Projekt, das Dich betraf, zu hören bekam: unmittelbar vor der Sitzung, in der die ganze Angelegenheit zum ersten Male ins Auge gefaßt wurde, war ich mit Heinze und Zarncke zusammen. Mir ist es wie ein Traum, daß ich auch einmal so eine Art von hoffnungsvollem Thiere gewesen bin, philologus inter philologos. Es hat sich nichts erfüllt: oder, wie Ihr vielleicht unter Euch jetzt sagt, „er hat nichts erfüllt“. Zu alledem bin ich an Freunden nicht reicher geworden: das Leben hat mir die Pflicht immer mehr mit der furchtbaren Nebenbedingung ihrer einsamen Erfüllung vorgestellt. Es ist schwer, mir nachzufühlen; ich setze beinahe voraus, selbst bei Bekannten, jetzt im Groben mißverstanden zu sein und bin für jede Art Feinheit der Interpretation, ja für den guten Willen zur Feinheit schon von Herzen erkenntlich. Ich bin ein Esel, es ist kein Zweifel. Alter lieber Freund Rohde, es scheint mir, Du verstehst Dich besser auf das Leben, dadurch daß Du Dich hineingestellt hast; während ich es immer mehr von Ferne sehe — vielleicht auch immer deutlicher, immer schrecklicher, immer umfänglicher, immer anziehender. Aber wehe mir, wenn ich einmal diese Entfremdung nicht mehr aushalte! Man wird alt, man wird sehnsüchtig, schon jetzt habe ich, wie jener König Saul, Musik nöthig — der Himmel hat mir zum Glück auch eine Art David geschenkt. Ein Mensch, der mir gleich geartet ist, profondement triste, kann es auf die Dauer nicht mit Wagnerischer Musik aushalten. Wir haben Süden, Sonne „um jeden Preis“, helle, harmlose, unschuldige Mozartische Glücklichkeit und Zärtlichkeit in Tönen nöthig. Eigentlich sollte ich auch Menschen um mich haben, von derselben Beschaffenheit, wie diese Musik ist, die ich liebe: solche, bei denen man etwas von sich ausruht und über sich lachen kann. Aber nicht Jeder kann suchen, der finden möchte — da sitze ich denn und warte und es kommt nichts, und schon weiß ich nichts Besseres als meinem alten Freunde davon zu erzählen, daß ich allein bin.
Vor mir liegt Dein letzter Brief, es ist möglich daß ich eben erst auf ihn antworte, obwohl ein ziemliches Stück Zeit dazwischen weggeflossen ist (der Brief ist vom 22 Dezember 1883) Nimm fürlieb mit Deinem schweigsamen Freunde, der es in vielem Betrachte schwer hat und sich davor fürchten gelernt hat, den Mund aufzumachen. Ehe man sich’s versieht, fährt eine Klage heraus, — und es giebt nichts Dümmeres auf Erden als klagen. Es erniedrigt uns, selbst bei den besten Freunden.
Gieb mir ein Wort hierher, zum Beweise dafür, daß Du mich noch lieb hast, alter Freund Rohde. Und nochmals, ich freue mich über Dein Glück mehr als über mein eigenes. Grüße Deine Frau von dem unbekannten Bär und Einsiedler und streichle Deine Kinder in meinem Namen. In Liebe
Dein getreuer Freund
Nietzsche.