1886, Briefe 655–784
770. An Heinrich Köselitz in München
Nizza (France) 31. Oct. 1886. pension de Genève, pet. rue St. Etienne
Sonderbar, lieber Freund, daß Sie in München sind, und daß ich wieder in Nizza bin! Die Welt ist ersichtlich mit wenig Vernunft eingerichtet, das merkt man, wenn man seinen sogenannten „Lebenslauf“ studirt: es „läuft“, ja! das Leben läuft, und kommt bald hier, bald da an. Zum Beispiel, in Ihrem Falle, bei der „süddeutschen Presse“: es ist schön, daß Sie dazu eine gute Miene machen. Im Grunde steckt in Freund Köselitz — auch — ein guter Schriftsteller, mindestens ein guter Berichterstatter über Gut-Erlebtes; und wenn es Ihnen gelegentlich gefiele, das aesthetische Problem, das zu unserer Lebensgeschichte gehört, als ein Erlebniß darzustellen, vielleicht, daß damit erst der Zugang gewonnen wäre zur Musik des Venetianischen Meisters Pietro Gasti: wenigstens für Deutsche, welche sich für einen Künstler ernsthaft nur interessiren, wenn sie den „Ernst“ der Principien bei ihm entdecken. — Dies, wie so Vieles, „verstand“ R. Wagner. —
Eben sendet Fritzsch die alten Bücher in ihren neuen sauberen Kleidern, und den „Vorreden“, welche sich wunderlich genug ausnehmen. Es scheint mir nachträglich ein Glück, daß ich weder Menschliches, Allzumenschliches noch die Geburt der Tragödie zu Händen hatte, als ich diese Vorreden schrieb: denn, unter uns gesagt, ich halte alles dies Zeug nicht mehr aus. Hoffentlich wachse ich mit meinem Geschmacke noch über den „Schriftsteller und Denker“ Nietzsche hinweg; und vielleicht bin ich dann ein Bischen würdiger zu dem anmaaßlichen Vorsatz, der im Worte „freier Geist“ steckt. — Wissen Sie mir ein Exemplar der „Idyllen aus Messina“ aufzutreiben? Ich brauche sie umgehend, weil sie mit einigen Liederchen zusammen den Schluß der „fröhlichen Wissenschaft“ abgeben sollen: nämlich in der neuen Ausgabe. Der Artikel im „Bund“ war zum Fürchten; Überschrift „Nietzsches gefährliches Buch“. Anfang: „Jene Dynamitvorräthe, welche zum Bau der Gotthardbahn verwendet wurden, trugen die schwarze auf Todesgefahr deutende Warnungsflagge. In diesem Sinne usw. usw.“ Ich fand zu meinem Bedauern, daß der Artikel in Sils unter den braven Einwohnern stark gelesen und interpretirt wurde. Vielleicht war ich zum letzten Mal in Sils. —
Von Portofino hat, wie nun auch die Zeitungen melden, der Kronprinz Beschlag genommen: er will jeden Herbst hinkommen und behauptet, nirgends auf Erden sich bisher so wohl gefühlt zu haben. Auch der Comte de Paris geht damit um, sich dort anzukaufen: kurz, es ist zu spät. Mein Aufenthalt in Ruta hatte etwas unbeschreiblich Peinliches durch die drückende Nähe zweier Deutschen, mit denen man Tisch und Spaziergang theilen mußte. — Bei der Reise nach Nizza empfand und sah ich ganz deutlich, daß hinter Alassio etwas Neues beginnt, in Luft und Licht und Farbe: nämlich das Afrikanische. Der Ausdruck ist ganz exakt: ich habe die Urtheile vorzüglicher Kenner Afrika’s eingezogen. (Lesen Sie, bitte, den Nabab von Daudet: in einem der letzten Capitel dieses Romans giebt es eine scharfe Bezeichnung des Afrikanischen an dieser Küste.) Alles hundert Mal feiner, delikater, weißgelber, undeutscher, indifferenter als selbst Genua und seine Umgebung. — Es fehlt für die Kurkapelle der Kapellmeister. Ein Jammer, daß Sie nicht einspringen können!
Hat Fritzsch Ihnen auch die Bücher mit den Vorreden geschickt? Ich hoffe.
Treulich Ihr dankbarer
F. Nietzsche.