1886, Briefe 655–784
742. An Heinrich Köselitz in München
Sils-Maria, am 2. September. Gemsenjagd. 1886.
Lieber Freund,
hier kommt noch Etwas zum Durchlesen: bitte, lassen Sie Ihre kritischen Augen durch diese „Vorrede“ wandern und helfen Sie meiner Orthographie nach — und nicht nur der Orthographie! Sie haben zum Verändern unumschränkte Vollmacht! —
Senden Sie dann den Bogen an E. W. Fritzsch, Leipzig, Königsstrasse 6. — Es könnte vielleicht noch ein Nachtrag zu dieser Vorrede bei Ihnen eintreffen, den ich kürzlich an Fritzsch gesandt habe: doch scheint es mir, nach meiner Erinnerung, daß er etwas zu „persönlich“ gerathen ist, — mag er wegbleiben! Die Vorrede, so wie sie hier vorliegt, hat hoffentlich eine erträgliche Mitte zwischen dem Allzusubjektiven und Allzuobjektiven — jene Mitte, die den guten Geschmack einer Vorrede ausmacht? Oder was meinen Sie? — —
Auch eine neue Ausgabe von der „Geburt der Tragödie“ soll erscheinen, mit einem langen „Versuch einer Selbstkritik“, deren Manuscript schon an F<ritzsch> abgegangen ist. Im Winter will ich noch drei Vorreden machen 1) zum zweiten Bande von Menschl<iches>, Allzumenschliches: derselbe enthält die Vermischten Meinungen und den Wanderer;
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zur „Morgenröthe“;
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zur „Fröhlichen Wissenschaft“. Hier auch der angekündigte Lieder-Anhang „Lieder des Prinzen Vogelfrei“.
Auf diese Weise hoffe ich den Büchern ein neues Interesse und, buchhändlerisch betrachtet, auch Flügel zu geben. —
An Fritzsch habe ich kürzlich auch meinerseits den Wunsch ausgedrückt, daß er sich Ihr herrliches Adagio nicht entgehen lassen möge. Würden Sie damit übereinstimmen können, daß es vielleicht den Titel „Nachsommer-Musik“ erhielte? —
Dieses Jahr hat bisher bei mir etwas Aufräumendes und in-Ordnung-Bringendes gehabt. Auf das „Jenseits“ hat nach Naumann’s Bericht das „Publikum“ (oder wer?) tüchtig angebissen. Die ganze Schmeitzner-Misère ist zu Ende. Einzig Sie, lieber lieber Freund, sind noch im Zwischenreiche und purgatorio: oh was erfinden wir zusammen, damit auch Sie „in Ordnung gebracht“, vor Allem wieder „aufgeräumt“ werden? —
Die Cholera in Italien schließt mich auch von Corsika ab: die Inseln sind wie toll vor Angst. —
Seydlitzens sind jetzt wieder zurück und haben mir geschrieben. Bitte, sehen Sie sich seine Japonismen an — und, vielleicht, spielen Sie ihm etwas von Ihren Südlichkeiten und Süßigkeiten (frutta, aber bei Leibe nicht secca!) Was habe ich bedauert, Ihren „Löwen“ nicht in Sils zu haben! Es gab eine eminente Spielerin aus Wien, insgleichen eine Theater-Sängerin aus München, und ein sehr gewähltes „Publikum“ von 7—10 Personen, die von Musik etwas verstehen. Sonderbar! auch die Schwester des „Barbiers von Bagdad“, als meine Tischnachbarin (auf Deutsch: die Tochter des Prof. Cornelius). Übrigens merkte ich, daß Alles, was Artist ist, eigentlich nur für mich sang und spielte: was mich verwöhnen würde, wenn es so fortgienge.
Es scheint mir beinahe, daß Sie in München bleiben wollen? —
Grüßen Sie bestens Frau Rothpletz: Sie haben sie gut gezeichnet; ich glaube, ihr Wunsch zu helfen ist mitunter größer als ihr Zartsinn, aber was macht das! Vor allem ist sie tapfer in ihren Sympathien und Antipathien.
Erfreuen Sie mich recht bald, lieber Freund, mit ein paar Worten über Pläne, Möglichkeiten, Unmöglichkeiten: und ob es etwas giebt, wo ich in’s Spiel komme, wo ich ein Brückchen bauen darf, Ihnen zur Ehre oder zum Nutzen.
Treulich Ihr Freund
N.
NB. Ich sehe, daß ich oben etwas Unklares geschrieben habe: ich wollte sagen, daß Ihre Musik süß, südlich, eine sublime Südfrucht, aber ganz und gar nicht trocken sei.