1886, Briefe 655–784
761. An Franz Overbeck in Basel
Ruta Ligure 12 Oct. 1886
Lieber Freund,
gestern kam Dein Brief (mit dem Gelde) in meine Hände, der mich über Deine Basler Wohnungsnoth unterrichtete. Nein, welche Tribulation! Welche Koboldigkeit des Zufalls! Ich drücke Dir und Deiner lieben Frau mein herzlichstes Bedauern aus. —
Schöner, erquicklicher Herbst, nach einem Jahre, das für mich mancherlei Spannung, aber noch mehr Lösung und Abthun mit sich brachte. Das Letzte ist, daß zwei meiner früheren Bücher in neuen Ausgaben erscheinen, die „Geburt der Tragödie“, bereichert durch einen als Vorrede vorauslaufenden „Versuch einer Selbstkritik“, den ich Deiner Aufmerksamkeit empfehle; insgleichen Menschliches Allzumenschliches in 2 Bänden, mit langen Vorreden, in denen einige Winke für solche gegeben sind, welche sich ernsthaft auf mein „Verständniß“ vorbereiten wollen. Übrigens hat es mit dem „Verstandenwerden“ etwas auf sich; und ich hoffe und wünsche, es möge noch eine gute Zeit dauern, bis es dazu kommt. Am besten wäre es wohl erst nach meinem Tode. Es hat mich ordentlich beruhigt, daß auch ein so feiner und wohlwollender Leser, wie Du es bist, immer noch zweifelhaft darüber bleibt, was ich eigentlich will: meine Angst war groß geworden gerade in der umgekehrten Richtung, nämlich, daß ich dies Mal etwas zu deutlich gewesen sei und „mich“ zu früh schon verrathen habe. Es liegt auf der Hand: ich muß erst noch eine Menge erzieherischer Prämissen geben, bis ich mir endlich meine eignen Leser gezüchtet habe, ich meine Leser, die meine Probleme sehn dürfen, ohne an ihnen zu zerbrechen. Ein Aufsatz des Dr. Widmann im Bund (vom 16. und 17. Sept., lies ihn!) gab mir die Besorgniß, daß das Auge aller Art Polizei auf mich vorzeitig gelenkt werde; der Titel des Aufsatzes war „Nietzsches gefährliches Buch“, der erste Satz lautete ungefähr: „jene Dynamitvorräthe, die beim Bau der Gotthardbahn verwendet wurden, führten die schwarze, auf Todesgefahr deutende Warnungsflagge.“ —
Meine Adresse ist von nun an wieder: Nizza (France) poste restante. — Über meine „Stimmung“ darfst Du unbesorgt sein; ich sollte denken, die aggressive und militärische Laune meines letzten Buchs sei ein gutes Symptom? —
J. Burckhardt’s Brief, der kürzlich anlangte, betrübte mich, trotzdem er voll von der höchsten Auszeichnung für mich war. Aber was liegt mir jetzt daran! Ich wünschte zu hören „das ist meine Noth! Das hat mich stumm gemacht!“ — In diesem Sinne allein, mein alter Freund Overbeck, leide ich an meiner „Einsamkeit“. An Menschen fehlt mir’s nirgends, aber an solchen, mit denen ich meine Sorgen, meine Sorgen gemein habe! — Aber das ist eine alte Geschichte; und ich habe es hübsch bewiesen, daß ich es trotzdem aushalte. —
In Sils (welches ein Professoren-Rendezvous wird —) hatte ich Verkehr mit Deinem Collegen Brieger, welcher wünschte, Dir durch mich empfohlen zu sein. Er sagte, ernsthaft und ohne Koketterie, die Leipziger hätten sich vergriffen bei seiner Wahl, sie hätten Harnack nehmen müssen. — Maurenbrecher brachte Heinze’s Grüße; insgleichen hat sich Pflugk-Hartung mir vorgestellt. Auch mein Holländer war da u.s.w. u.s.w.
Treulich Dein
Nietzsche