1886, Briefe 655–784
776. An Heinrich Köselitz in München
Nizza (France) pension de Genève pet. rue St. Etienne. <19. November 1886>
Lieber Freund,
„die Maschine geht wieder“, Sie sollen dies Mal nicht wieder so betrübte und schwächliche Töne zu hören bekommen, wie in meinem letzten Briefe; wenigstens habe ich den Verdacht, daß Alles, was in diesem Herbst von mir geschrieben worden ist, ein wenig müde und muthlos klingt?… Im Grunde benehmen Sie sich viel resoluter als ich und sind nicht so leicht „umzuwerfen“; dafür haben Sie allerdings einen Gehülfen ersten Ranges, Ihre Gesundheit — oh wenn Sie wüßten, wie ich in dieser Beziehung Sie beneide! Ich habe wirklich Nizza nöthig: ich darf es nicht verkennen. Seit vorigem April habe ich’s zu keinem Wohlgefühle an Leib und Seele gebracht; aber seit einigen Tagen geht es wieder: weshalb ich Nizza festhalten werde, als ein Stück fatum. In der Sprache der Operette geredet und gesungen „oh Fati-Fati-Fati-Nizza!“ Was mir Ihre Worte über die Japanesen-Musik Sullivan’s wohlthaten! Ich gedachte an Recoaro, an die vielen Vormittage in Venedig: das, was Sie in der Musik lieben, liebe ich auch, es ist kein Zweifel, — vor Allem, was Sie selbst machen! Diese Tage giengen Sie mir sehr durch den Kopf: ich hätte Sie gerne da gehabt, um Aesthetica mit Ihnen zu reden. Die Wahrheit ist: mir fehlt augenblicklich in puncto musicae eine Aesthetik, ich will sagen: ich habe einen „Geschmack“ (zb. für Pietro Gasti) aber keine Gründe, keine Logik, keinen Imperativ für diesen Geschmack. Selbst psychologisch nachgerechnet, scheint mir das Problem „warum gefällt mir Ihre Musik?“ einstweilen unlösbar. Sie selbst — wurden mir dabei zum Räthsel: und, seltsam! bei einigem Nachdenken fand ich ein ganz verwandtes Problem in Bezug auf meine eigne Hervorbringung (den „Zarathustra“). Wir reden Beide mit aller Herzhaftigkeit und Lust die „Volkssprache“, ganz wie eine Muttersprache: — und dabei sind wir ironische Thiere, die den Genuß des Raffinements dabei haben, ihre eigne höchst moderne und problematische Art dergestalt in die „Naivetät“ zurückzuübersetzen. Oder? — — — —
Aber, Freund, gestern kam mir diese Erleuchtung: erstens muß Herr Köselitz seine Oper unverzüglich an den Grafen Hochberg nach Berlin abschicken, mit einem sehr bestimmten, künstlerhaft-unbescheidnen Briefe, der genau sagt, was die Oper ist und voraus hat. Zweitens muß Freund Köselitz sich ein litterarisches Manifest ausdenken, worin er seinem „Können“, seinem „Geschmacke“ eine Aesthetik, ein Programm unterschiebt. Bemerken Sie doch, wie deroutirt Alles heute in aestheticis ist: ein strenges Bekenntniß wird heute nicht nur gehört, sondern mit Begierde, mit Dankbarkeit gehört… Ein antiromantisches Bekenntniß über Musik thut Noth; nicht mehr „Moral“ und „Volks-Erhebung“ wollen, mit Musik, sondern Kunst, ars, Kunst für Künstler, etwas göttliche Indifferenz, etwas unerlaubte Heiterkeit auf Kosten aller „wichtigen“ Dinge, Kunst als Überlegenheitsgefühl und „Berg“, gegenüber der Niederung von Politik, Bismarck, Socialismus und Christenthum usw. usw.
Aber warum sind Sie nicht in Nizza, lieber Freund!!??
Ihr getreuer
N.
Vielleicht kommt noch eine „Vorrede“ zu Ihnen, um corrigirt zu werden. Bitte, senden Sie, nach alter Übung, den durchcorrigirten Bogen dann hierher, an mich! —
Ihrem Briefe aus München ist auch die Sendung der „Idyllen aus Messina“ nachgefolgt: schönsten Dank, für Sie und die treffliche Frau Röder! —