1886, Briefe 655–784
740. An Ernst Wilhelm Fritzsch in Leipzig
Sils-Maria, Oberengadin Schweiz. 29 Aug. <bis 1. September> 86.
Lieber und werther Herr Fritzsch,
hier folgt die Vorrede zur neuen Ausgabe der „Geburt der Tragödie“: Sie können auf diese sehr inhaltreiche und gründlich orientirende Vorrede hin das Buch noch einmal von Stapel laufen lassen, — es scheint mir sogar von größtem Werthe, daß dies geschieht. Alle Anzeichen sprechen dafür, daß man sich in den nächsten Jahren viel mit meinen Büchern beschäftigen wird (— insofern ich, mit Verlaub gesagt, bei weitem der unabhängigste und im großen Stile denkendste Denker dieser Zeit bin —); man wird mich nöthig haben, und alle möglichen Versuche, mir beizukommen, mich zu verstehen, zu „erklären“ usw. machen. Um den gröbsten Fehlgriffen vorzubeugen, scheint mir (abgesehn von dem eben erschienenen „Jenseits von Gut und Böse“) nichts nützlicher als die beiden Vorreden, welche ich mir erlaubte, Ihnen zu übersenden: sie deuten den Weg an, den ich gegangen bin — und, ernsthaft geredet, wenn ich selber nicht ein Paar Winke gebe, wie man mich zu verstehn hat, so müssen die größten Dummheiten passiren. —
Ich kann nicht beurtheilen, in wie fern es geschäftlich und buchhändlerisch rathsam oder unrathsam ist, Bücher desselben Autors zugleich auf den Markt zu bringen. Das Wesentliche ist, daß, um die Voraussetzungen für das Verständniß des Zarathustra zu haben (— ein Ereigniß ohne Gleichen in der Litteratur und Philosophie und Poesie und Moral usw. usw. Sie dürfen mir’s glauben, Sie glücklicher Besitzer dieses Wunderthiers! —) alle meine früheren Schriften ernstlich und tief verstanden sein müssen; insgleichen die Nothwendigkeit der Aufeinanderfolge dieser Schriften und der in ihnen sich ausdrückenden Entwicklung. Vielleicht ist es ebenso nützlich, sogleich jetzt auch die neue Ausgabe der „Geburt“ (mit dem „Versuche einer Selbstkritik“) auszusenden. Dieser „Versuch“, zusammengehalten mit der „Vorrede von Menschl. Allzumenschliches“, ergiebt eine wahre Aufklärung über mich — und die allerbeste Vorbereitung für meinen verwegenen Sohn Zarathustra.
Im Dezember hoffe ich mit den „Vorreden“ fortfahren zu können: nämlich in Nizza, wo es mir bis jetzt niemals um die bezeichnete Zeit an Muth und Inspiration gefehlt hat. Nämlich 1) Menschl. Allzum. Zweiter Band (enthaltend „Verm. M. u. Spr.“ und den „Wanderer“) 2) Morgenröthe 3 fröhl. Wissenschaft.
Ich denke, Sie wissen, lieber Herr Verleger, wie viel Muth und Inspiration gerade zu solchen „Vorreden“ noth thut? und außerdem noch mehr „guter Wille“ —
Nehmen wir an, daß bis zum Frühjahr meine ganze Litteratur, so weit sie in Ihren Händen ist, zum neuen Fluge fertig und neu „beflügelt“ ist. Denn diese „Vorreden“ sollen Flügel sein! (Nur die 4 unzeitgem. Betrachtungen will ich lassen, wie sie sind: deshalb habe ich, in dem letztens übersandten Nachtrag zur Vorrede für Menschl. Allzum., sehr bestimmt auf sie aufmerksam zu machen für nöthig befunden.) — Eine Zeile Antwort hierher erbittend Ihr
ergebenster Dr. Nietzsche Prof.
Theilen Sie mir gefälligst etwas über die Preise der zunächst auszugebenden Bücher mit! Hermann Credner sagte oder schrieb mir einmal, daß die Schmeitzner’schen Preise das größte Hinderniß gewesen sei, das mir bis jetzt im Wege gestanden.
Ein eignes Bändchen mit lauter „Vorreden“ würde gegen den Geschmack sündigen. Man verträgt das schreckliche Vorrede-Wörtchen „ich“ eben nur unter der Bedingung, daß es in dem drauf folgenden Buche fehlt: es hat nur Recht in der Vorrede. —
1. Sept. Eben trifft Brief und Bogen ein. Ist der Nachtrag („eingeschrieben“ an Sie adressirt) noch nicht in Ihren Händen? Um nicht Alles zu verzögern, bitte ich ihn zu lassen (also nicht zu drucken). Um so mehr aber diese Selbstkritik!