1888, Briefe 969–1231a
1144. An Meta von Salis auf Marschlins
Turin, den 14. Nov. 88
Verehrtes Fräulein,
da ich fortdauernd an einem kleinen Überfluß von guter Laune und andern Glücksgütern leide, so dürfen Sie mir einen völlig sinnlosen Brief wohl nachsehen. Bis jetzt ist Alles besser als gut gegangen; ich habe meine Last gewälzt, wie als ob ich von Natur ein „unsterblicher“ Lastträger wäre. Nicht nur, daß das erste Buch der Umwerthung schon am 30. September zu Ende kam, inzwischen hat sich ein sehr unglaubliches Stück Litteratur, das den Titel führt „Ecce homo. Wie man wird, was man ist“ — auch schon wieder mit Flügeln begabt und flattert, wenn mich nicht Alles täuscht, in der Richtung von Leipzig… Dieser homo bin ich nämlich selbst, eingerechnet das ecce; der Versuch, über mich ein wenig Licht und Schrecken zu verbreiten, scheint mir fast zu gut gelungen. Das letzte Capitel hat zum Beispiel die unerquickliche Überschrift: warum ich ein Schicksal bin. Daß dies nämlich der Fall ist, wird dermaßen stark bewiesen, daß man, am Schluß, bloß noch als „Larve“, bloß noch als „fühlende Brust“ vor mir sitzen bleibt. — Daß es einiger Aufklärung über mich bedarf, bewies mir jüngst noch der Fall Malvida. Ich sandte ihr, mit einer kleinen Bosheit im Hintergrunde, vier Exemplare des „Falls Wagner“, mit dem Ersuchen, für eine gute französische Übersetzung einige Schritte zu thun. „Kriegserklärung“ an mich: Malvida gebraucht diesen Ausdruck. —
Ich habe, unter uns, mich noch einmal mehr davon überzeugt, daß der berühmte „Idealismus“ in diesem Falle im Grunde eine extreme Form der Unbescheidenheit ist, — „unschuldig“, wie es sich von selbst versteht. Man hat sie immer mitreden lassen und, wie mir scheint, hat ihr Niemand gesagt, daß sie mit jedem Satze nicht nur irrt, sondern lügt… Das machen ja die „schönen Seelen“ so, die die Realität nicht sehen dürfen. Verwöhnt, durch ihr ganzes Leben hindurch, sitzt sie zuletzt, wie eine kleine komische Pythia, auf ihrem Sopha und sagt „Sie irren sich über Wagner! Das weiß ich besser! Genau dasselbe, wie Michel Angelo“ — Ich schrieb ihr darauf, daß Zarathustra die Guten und Gerechten abschaffen wolle, weil sie immer lügen. Darauf antwortete sie, sie stimme mir darin völlig bei, denn es gäbe so wenig Wirklich-Gute…
Und das hat mich zeitweilig vor Wagnern vertheidigt! — Turin ist kein Ort, den man verläßt. Ich habe Nizza ad acta gelegt, insgleichen den romantisme eines korsischen Winters (— es lohnt sich zuletzt nicht mehr, die Herrn Banditen sind wirklich abgeschafft, sogar die Könige, die Bellacoscia) — Der Herbst war hier ein Claude Lorrain in Permanenz, — ich fragte mich oft, ob so Etwas auf Erden möglich sei. Seltsam! gegen die Sommer-Misère da oben gab es also wirklich eine Ausgleichung. Da haben wir’s: der alte Gott lebt noch…
— Auch ist man hier sehr delikat gegen mich, meine Lage hat sich gegen die des Frühlings in einem unausrechenbaren Grade verbessert. — Von meiner Gesundheit wage ich gar nicht mehr zu reden: das ist ein überwundener Standpunkt. — Die noch im Engadin fertig gewordene Schrift, die radikalste vielleicht, die es giebt, führt jetzt den Titel:
Götzen-Dämmerung
Oder:
wie man mit dem Hammer philosophirt.
Der Druck ist beendet. — Erwäge ich, was ich Alles zwischen dem 3 Sept. und 4 November verbrochen habe, so fürchte ich, daß allernächst die Erde zittert. Dies Mal in Turin; vor zwei Jahren, als ich in Nizza war, wie billig, in Nizza. In der That meldete der letzte Observatoriumsbericht von gestern bereits eine leichte Oscillation…
Wir hatten den düsteren Pomp eines großen Begräbnisses. Einer der verehrenswürdigsten Piemontesen, der Conte di Robilant, wurde zu Grabe getragen; ganz Italien war in Trauer. Es hat einen Premier verloren, den man mit Ungeduld erwartete — und den Niemand ersetzt.
Mit ausgezeichneter Ergebenheit
Ihr
Nietzsche.
Herr Spitteler hat im „Bund“ einen Schrei des Entzückens über den „Fall“ ausgestoßen. —