1888, Briefe 969–1231a
1080. An Franziska Nietzsche in Naumburg
<Sils-Maria, 2. August 1888>
Meine liebe Mutter
der zweite August! Aber wir sind nach wie vor in einem beständigen Regenwetter drin. Kalt, der Schnee recht nah, der Sommer beinahe zu Ende. Es scheint mir aber, daß meine Widerstandskraft dennoch zugenommen hat. Ich habe der Reihe nach Vielerlei abmachen können, sogar ein kleines Manuscript (die erste Abschrift war, bei meiner großen Schwäche, so unleserlich geworden, daß Naumann sie zurückschickte; die zweite, aus den letzten 8 Tagen, sieht ganz anders aus. Daran sind nicht nur die guten Federn schuld)
Dies Mal sind die Schinken vollkommen nach Wunsch und Geschmack — allerschönsten Dank! Es ist viel leichtere Arbeit für mich, da das Kauen mir immer noch Schwierigkeiten macht. Von den vorletzten Schinken habe ich zwei vertilgt; die Gewohnheit thut in allem viel, so daß der zweite Schinken mir erträglicher war als der erste. Doch sind mir die neuen unvergleichlich lieber. Es war sonderbar, daß die Zwiebäcke ankamen, als ich gerade mir welche bei einem Bäcker in Silvaplana hatte backen lassen. Die Vergleichung fällt natürlich sehr zu Gunsten der Deinigen aus. Daß es noch ein Chamäleon geben soll, ist ganz zum Verwundern; ich habe es gestern alle seine Künste mir vormachen lassen.
Die Gesellschaft des Hôtels ist nicht übel; und was es von distinguirteren Personen giebt, das sucht sich mir vorstellen zu lassen. So ein sehr angenehmer Staatsanwalt Dr. Schön aus Lübeck; ein alter Präsident aus Norddeutschland; jetzt eben wieder ein Prof. von Holten aus Hamburg; ein Kapellmeister vom Dresdener Hoftheater; und selbst die hübschen Mädchen machen mir ganz ersichtlich den Hof. Man hat den ungefähren Begriff, daß ich „ein Thier“ bin. Der Koch kocht dies Jahr für mich mit besondrer finesse. Briefe trafen ein, die zum Theil verrückt vor Enthusiasmus für meine Bücher waren: darunter einer mitten aus dem Bayreuther Parsifal heraus, im Namen eines ganzen Kreises von „Jüngern“ aus Wien. Doch verhalte ich mich sehr kühl allen solchen jugendlichen Anstürmen gegenüber. Ich schreibe ganz und gar nicht für die gährende und unreife Altersklasse. —
Auch Frl. von Salis ist eingetroffen, ein wenig dürrer und blässer noch als vorher. — Sils hat diese Woche seine neuen 3 Glocken aufgehängt, ich lobte heute noch den ausgezeichneten Gießer und Fabrikanten derselben, den ersten der Schweiz. Der Klang ist sehr schön.
Eben erfahre ich das schreckliche Elephanten-Ereigniß von München.
Es donnert; es gießt in Strömen; ich bin heute morgen ganz naß geworden. Nachts fehlt es mir etwas an Schlaf. Das liegt wohl daran, daß das abscheuliche Wetter das Spazierengehn fast unmöglich macht. Mitunter laufe ich trotzdem im Regen hinaus.
Es grüßt und umarmt Dich Dein
altes Geschöpf