1881, Briefe 74–184
125. An Franziska und Elisabeth Nietzsche in Naumburg
<Sils-Maria, um den 9. Juli 1881>
Meine liebe Mutter,
ich betrübe mich sehr über Deinen und unsern Verlust! Es war ein so sanftmüthiger und braver Mensch, unser Theobald, streng gegen sich und doch kein Fanatiker; ich hielt ihn für den besten unter den Oehlers. Wer weiß, ob nicht an seinem Nervenleiden, noch mehr als seine Theologie, die Quacksalberei seines Schwiegervaters den Hauptantheil hat! Er hat den Tod dem Irrenhause vorgezogen und wahrscheinlich klug daran gethan. Wir werden immer seiner mit Rührung gedenken.
Nun noch ein Wort von mir, zur Beruhigung. Ich mache mir Vorwürfe über meine Thorheit, Euch meine kurzen Gesundheits-Kärtchen und nichts weiter zu schicken: — so müßt Ihr einen falschen Eindruck von mir gewinnen. Nie gab es einen Menschen, auf den das Wort „niedergedrückt“ weniger gepaßt hätte. Meine Freunde, die mehr von meiner Lebensaufgabe und deren unaufhaltsamer Förderung errathen, meinen, ich sei wenn nicht der Glücklichste so jedenfalls der Muthigste der Menschen. Ich habe Schwereres auf mir als meine Gesundheit und werde damit fertig, auch dies zu tragen. Mein Aussehen ist übrigens vortrefflich, meine Muskulatur in Folge meines beständigen Marschirens fast die eines Soldaten, Magen und Unterleib in Ordnung. Mein Nervensystem ist, in Anbetracht der ungeheuren Thätigkeit die es zu leisten hat, prachtvoll und der Gegenstand meiner Verwunderung, sehr fein und sehr stark: selbst die langen schweren Leiden, ein unzweckmäßiger Beruf und die fehlerhafteste Behandlung haben ihm nicht wesentlich geschadet, ja im letzten Jahre ist es stärker geworden, und, Dank ihm, habe ich eines der muthigsten und erhabensten und besonnensten Bücher hervorgebracht, welche jemals aus menschlichem Gehirne und Herzen geboren sind. Selbst wenn ich mir in Recoaro das Leben genommen hätte, so wäre einer der ungebeugtesten und überlegtesten Menschen gestorben, nicht ein Verzweifelnder. Mein Gehirnleiden ist sehr schwer zu beurtheilen, in Betreff des wissenschaftlichen Materials, welches hierzu nöthig ist, bin ich jedem Arzte überlegen. Ja es beleidigt meinen wissenschaftlichen Stolz, wenn Ihr mir eurerseits neue Kuren vorschlagt und gar meint, ich „ließe meine Krankheit laufen“. Vertraut mir doch ein wenig mehr auch hierin! Bis jetzt bin ich erst 2 Jahre in meiner Behandlung, und wenn ich Fehler gemacht habe, so lag es immer daran, daß ich dem eifrigen Zureden Anderer endlich nachgegeben habe und Versuche machte. Dahin gehört der Aufenthalt in Naumburg, in Marienbad u.s.w. Jeder verständige Arzt hat mir übrigens eine Genesung erst nach einer längeren Reihe von Jahren in Aussicht gestellt, und vor allem muß ich die schweren Nachwirkungen los zu werden suchen, von allen jenen falschen Methoden her, nach denen ich so lange Zeit behandelt worden bin. Seid mir ja nicht böse, wenn ich Eure Liebe und Theilnahme in diesem Punkte zurückzuweisen scheine. Aber ich will durchaus mein eigner Arzt nunmehr sein, und die Menschen sollen mir noch nachsagen, daß ich ein guter Arzt gewesen sei — und nicht nur für mich allein. — Immerhin gehe ich noch vielen, vielen Leidenszeiten entgegen; werdet nicht darüber ungeduldig, ich bitte Euch von Herzen! Dies macht mich ungeduldiger als meine Leiden selber, weil es mir zeigt, daß meine nächsten Verwandten so wenig Glauben an mich haben.
So viel heute und Ein-für-alle-Mal! Schon viel zu viel für meine Augen!
Wer im Geheimen zusehen könnte, wie ich die Rücksichten auf meine Genesung mit der Förderung meiner großen Aufgaben zu verknüpfen weiß, der würde mir keine geringe Ehre zollen. Ich lebe nicht nur sehr muthig, sondern im höchsten Maaße vernünftig und unterstützt von einem reichen medicinischen Wissen und unablässigen Beobachten und Forschen.
Von ganzem Herzen und mit der Bitte,
mir nichts übel zu deuten
Euer Sohn und Bruder.
Schreibt mir gute Dinge hier hinauf, wo ich über der Zukunft der Menschheit brüte, und lassen wir alles das kleine persönliche Leiden und Sorgen bei Seite. Auch eine äußerst delikate Wurst würde zu den guten Dingen gehören.