1881, Briefe 74–184
135. An Franz Overbeck in Basel (Postkarte)
<Sils-Maria, 30. Juli 1881>
Ich bin ganz erstaunt, ganz entzückt! Ich habe einen Vorgänger und was für einen! Ich kannte Spinoza fast nicht: daß mich jetzt nach ihm verlangte, war eine „Instinkthandlung“. Nicht nur, daß seine Gesamttendenz gleich der meinen ist — die Erkenntniß zum mächtigsten Affekt zu machen — in fünf Hauptpunkten seiner Lehre finde ich mich wieder, dieser abnormste und einsamste Denker ist mir gerade in diesen Dingen am nächsten: er leugnet die Willensfreiheit —; die Zwecke —; die sittliche Weltordnung —; das Unegoistische —; das Böse —; wenn freilich auch die Verschiedenheiten ungeheuer sind, so liegen diese mehr in dem Unterschiede der Zeit, der Cultur, der Wissenschaft. In summa: meine Einsamkeit, die mir, wie auf ganz hohen Bergen, oft, oft Athemnoth machte und das Blut hervorströmen ließ, ist wenigstens jetzt eine Zweisamkeit. — Wunderlich! Übrigens ist mein Befinden gar nicht meinen Hoffnungen entsprechend. Ausnahmewetter auch hier! Ewiges Wechseln der atmosphärischen Bedingungen! — das treibt mich noch aus Europa! Ich muß reinen Himmel monatelang haben, sonst komme ich nicht von der Stelle. Schon 6 schwere, zwei- bis dreitägige Anfälle!! — In herzlicher Liebe
Euer Freund.