1881, Briefe 74–184
78. An Franziska Nietzsche in Naumburg
<Genua, 29. Januar 1881>
Meine liebe gute Mutter,
so möge Dir das neue Jahr ein heiteres Gesicht machen! Und wenn es dabei ein Gesicht zeigt, das von dem des alten Jahres nicht gar zu verschieden ist, so wollen wir Alle damit zufrieden sein! Denn im Grunde hast Du, meine liebe Mutter, Dein erträgliches und rechtschaffenes Maaß von irdischem Wohlbefinden, davon überzeuge ich mich bei jedem Besuche mit großem Vergnügen. Daß das „Glück“ eines Tages mit Trommeln und Trompeten erst noch käme, daran glauben wir ja Alle nicht mehr; Jeder hat seine Aufgabe und muß täglich zusehen und sich tummeln, daß sie geräth — und geräth sie, so ist man guter Dinge; schlimmsten Falls macht man eine gute Miene, wie ich jetzt zum bösen Spiele des Winters.
Ja, das ist ein Spazierenlaufen! Denn im Zimmer ist es nicht lange Zeit auszuhalten, und ich habe bis jetzt noch keinen geheizten Raum betreten. Trotzdem bin ich nicht verstimmt, obschon meine Gesundheit entschieden seit dem Eintritt des harten Winters zum Schlechten sich wendet. Hoffentlich dauert es nicht mehr zu lange. Es bedarf einer so sorgfältigen und peinlichen Überlegung, jeden Tag mit einer solchen Gesundheit durch alle Klippen hindurchzuschiffen, daß ich froh bin, es allein abzumachen, denn es sieht so kleinlich aus, selbst unmännlich. Aber ich habe meine Tapferkeit und Männlichkeit in anderen Dingen und muß mich eben durchschlagen, um etwas Ordentliches in meiner Art doch noch, trotz aller bösen Krankheit, zu Stande zu bringen. Ich esse diesen Winter, der Erwärmung und leichteren Verdauung wegen, mehr Fleisch. Dagegen wagte ich noch nicht wieder mit den Eiern zu beginnen: ich habe immer noch den Naumburger gestoßenen Zucker. Zum Frühstück esse ich altbacknes Weißbrod, zu Thee oder Kaffe. Ich bin regelmäßig wie eine Uhr. Sechs bis acht Stunden gehe ich herum. Eigentlich habe ich das Leben, wie ich es früher ersehnte, als ich von Rothenburg an der Tauber träumte — erinnere doch unsre Lisbeth daran! — ja ich habe es gründlicher und tüchtiger als ich es damals mir ausdachte (ich war noch nicht unabhängig genug im Geiste und noch nicht so durch Erfahrung und Leiden durchgearbeitet, wie ich jetzt es bin — denn, meine liebe Mutter, ob man mir es ansieht oder nicht, ich habe in den letzten 10 Jahren unbändig viel erlebt.)
Und nun nochmals! Frieden und Freuden um Dich! In Treue und Liebe
Dein Sohn F.