1881, Briefe 74–184
142. An Franziska Nietzsche in Naumburg (Postkarte)
<Sils-Maria, 24. August 1881>
Ja, meine liebe Mutter, hier oben, 6000 Fuß höher als Genua, wo die Schneeschmelze bis zum Juni sich hinzieht, und im Juli und August Schnee fällt, hat man Wünsche, die unten in der Ebene etwas verrückt klingen mögen. Ich sehe nach dem Thermometer im Zimmer: 8 Grad Réaumur. Dabei schneidende Winde, und das unbeständigste Wetter, welches auch den Engadinern unangenehm und nachtheilig ist: leider (für mich qualvoll!) sehr viele Gewitter. Schreib mir doch, was für verschiedene Wirkungen die Nietzsche’s vom Gewitter gespürt haben. — Mit meiner Nahrung bin ich sehr zufrieden: Mittag (1/2 12) jedes Mal ein Fleisch, mit Maccaroni, Morgens (1/2 7) ein rohes Eidotter Thee und Aniszwieback (ländlich-kräftig), Abends (1/2 7) 2 rohe Eidotter, ein Stück Polenta (wie sie alle Hirten und Bauern essen), Thee (zweiter Aufguß) und Aniszwieback. In Genua lebe ich noch viel „volkstümlicher“, gleich den dortigen Arbeitern. Alle Morgen um 5 kalte Gesammtabwaschung, täglich 5—7 Stunden Bewegung. Von 7—9 Abends still im Dunklen sitzen (so auch in Genua, wo ich ohne Ausnahme jeden Abend von 6 an zu Hause war: nie Theater, Concert u.s.w. Ihr könnt Euch nicht denken, wie sparsam, ja geizig ich mit meinen geistigen Kräften und meiner Zeit umzugehen habe, damit ein so leidendes und unvollkommenes Wesen doch noch reife Früchte trage: nehmt mir in Hinsicht auf diese schwere Art zu leben nichts übel, ich muß gegen mich selber täglich, stündlich hart sein. In Liebe
Euer F.