1881, Briefe 74–184
167. An Franz Overbeck in Basel
<Genua, 14. November 1881.>
Mein lieber Freund, was ist dies unser Leben? Ein Kahn, der im Meere schwimmt, von dem man nur dies mit Sicherheit weiß, daß er eines Tages umschlagen wird. Da sind wir nun zwei alte gute Kähne, die sich treulich Nachbarschaft gehalten haben, und namentlich hat Deine Hand redlich dabei geholfen, mich vor dem „Umschlagen“ zu behüten! So wollen wir denn unsere Fahrt fortsetzen und einer um des Andern Willen recht lange! recht lange! — wir würden uns so vermissen! Einigermaßen glatte See und gute Winde und vor allem Sonne — was ich mir wünsche, wünsche ich auch Dir; und traurig, daß meine Dankbarkeit sich eben nur in einem solchen Wunsche äußern kann und daß sie gar nichts über Wind und Wetter vermag!
Foissac ist eingetroffen, schnell und billig von Deinem Buchhändler besorgt: diese medizinische Meteorologie, obschon von der Academie gekrönt, ist aber leider eine Wissenschaft in der Kindheit und für meine persönliche Noth eben nur ein Dutzend Fragezeichen mehr. Vielleicht weiß man jetzt mehr — ich hätte in Paris bei der Elektrizitäts-Ausstellung sein sollen, theils um das Neueste zu lernen, theils als Gegenstand der Ausstellung: denn als Witterer von elektrischen Veränderungen und sogenannter Wetter-Prophet nehme ich es mit den Affen auf und bin wahrscheinlich eine „Spezialität“. Kann Hagenbach vielleicht sagen, durch welche Kleidung (oder Ketten, Ringe u.s.w.) man sich am besten gegen diese allzustarken Einflüsse schützt? Ich kann mich doch nicht immer in einer seidenen Hängematte aufhängen! Besser, sich ganz aufzuhängen! Und sehr radikal!
Wann ist der Gotthardtunnel fertig? Wann soll er befahren werden? Er soll mich zu Dir und zu den Ärzten (Augen- und Zahnärzte einbegriffen) bringen; ich habe eine lange Consultation in’s Auge gefaßt. (Dieser Tunnel ist den Genuesen vor die Thür gebaut, sie sind äußerst dankbar, ja, sie sind gegen jeden Schweizer jetzt dessenthalben artig.)
Meine Augen versagen immer mehr — die außerordentliche Schmerzhaftigkeit nach kürzestem Gebrauche hält mich geradezu von der Wissenschaft entfernt (ganz abgesehn von der großen Schwachsichtigkeit.) Seit wie lange habe ich nicht lesen können!! Romundt’s Buch habe ich nicht gelesen — nach einem musternden Blicke aber glaube ich, es ist Schleicherei auf verbotenen, uns verbotenen Wegen — das mag ich nicht! —
Paësiello’s Meisterwerk ist das matrimonio segreto: da kam Cimarosa und componirte denselben Text noch einmal, und siehe! es wurde auch sein Meisterwerk. Und nun kommt Köselitz und — das ist das Neueste — er hat es zum dritten Male componirt und ist im Wesentlichen fertig damit. Der Text verdient es — das Wagniß und die Kühnheit des Gedankens hat mir zu denken gegeben. So wie ich K<öselitz> kenne, freue ich mich dieses Charakterzugs: Überhebung und Dreistigkeit sind ihm sehr fremd. — — Die „Nacht o holde“ hat auf Dich vielleicht etwas anders gewirkt als auf mich, nach Deinen Worten zu schließen — und so ist es natürlich. Genug, es war beide Male ein Eindruck, der zu Ehren des Componisten auslief. —
Mit der Bitte, mich Deiner lieben Frau des Herzlichsten zu empfehlen verbleibe ich Dein Freund
Friedr. Nietzsche.