1881, Briefe 74–184
96a. An Julius Wolff in Berlin
Genua, Mo 28. März 1881
28 März 1881.
Adr.: Genova (Italia)
poste restante.
Sehr geehrter Herr,
das sind traurige Nachrichten — ich hatte gehofft, es stünde jetzt besser mit der geistigen Gesundheit des Hrn O<tto> B<usse> eben weil ich ein Jahr lang nichts mehr von ihm gehört habe! Im Frühjahr 1880, als ich in Venedig war, wurde ich, um die ganze Wahrheit zu sagen, durch seine wichtigthuerischen Sendschreiben in einem Grade belästigt, daß ich dem mit Gewalt ein Ende machen mußte — ich sagte ihm, in dem einzigen Briefe, den ich an ihn geschrieben habe, die „Wahrheit“, immerhin, wie sich von selber versteht, so schonend als es ein Mann von so edlen und hochherzigen Sinnen von mir erwarten kann. Ich widerrieth ihm sich mit meinen Gedanken zu beschäftigen, suchte ihm in Hinsicht auf seine frühere praktische Thätigkeit wieder Muth zu machen, erklärte es als eine Selbsttäuschung, wenn er glaube, daß ich in irgendwelchen Stellen meiner Schriften an ihn gedacht hätte oder daß gar meine Schriften durch ihn hervorgerufen seien — so weit ging sein Wahn — / endlich: ich drückte so kräftig als möglich mein Unbehagen über den Ton aus, in dem er von mir zu sprechen sich gewöhnt hatte. Es war ein so abkühlender Brief, als ihn die hitzige Schwärmerei seiner Sendschreiben eben nöthig machte. Später habe ich ihm durch einen eben so besonnenen als vertrauenswürdigen Freund erklären lassen, daß ich weitere Schriftstücke nicht mehr lesen würde — in der That ist das Umfänglichste, beinahe ein Broschürchen, mir bis heute unbekannt. Von einem Werthe, gar einem wissenschaftlichen Werthe kann bei diesen schwülstigen und oft ganz unverständlichen Schriftstücken nicht die Rede sein. — Wahrscheinlich hat jener Freund in diesen Angelegenheiten mit Hrn. O<tto> B<usse> noch einige Briefe gewechselt — ich wollte damals von alledem nichts mehr hören und unterließ absichtlich ihn zu fragen. Vielleicht ist es Ihnen, verehrter Herr, erwünscht, die Adresse dieses Freundes zu haben. Hier ist sie:
Signore H. Köselitz
Venezia
S. Canciano Calle nuova 5256. /
Aus früherer Zeit erinnere ich mich einer Karte, die ich an Hrn. O<tto> B<usse> schrieb, um zu erklären, daß ein brieflicher Verkehr für mich eine Unmöglichkeit sei (denn ich bin fast blind — Verzeihung! Auch dieser Brief ist nur eine Ausnahme. Mein einziger Brief an Hrn O. B. ist von mir Herrn Köselitz in die Feder diktirt worden.)
Von ganzem Herzen wünsche ich, irgendwie zur Genesung eines so ausgezeichnet guten Menschen beitragen zu können. Wäre ich nur in seiner Nähe! — ich wollte ihn schon vom Glauben an seine und meine „Größe“ abbringen! Aber meine Gesundheit gebietet mir, im Süden, in einem Hafenort des mittelländischen Meeres zu leben. Sollte ein Arzt es rathsam finden, Hrn B. für längere Zeit in meine Nähe zu versetzen: so geben Sie mir Nachricht! Man sagt mir nach, daß ich beruhigend auf meine Umgebung wirke; und meine Lebensweise ist so einfach und natürlich, daß Herr O. B. sie nicht ohne Nutzen annehmen würde. Genug: ich wollte Ihnen nur sagen, wie gern ich helfen möchte! Ganz ergeben der Ihre
Dr. F. Nietzsche