1877, Briefe 585–674
633. An Carl Fuchs in Hirschberg
Rosenlaui bei Meiringen Berner Ober-land: hier bleibe ich 2, 3 Wochen.4 Juli 77.
Lieber Herr Doctor,
mein unstätes Wanderleben und dessen leidige Ursache, meine schlechte Gesundheit, hat es verschuldet, dass ich mich so spät erst für den Empfang Ihrer Programme bedanken kann; sie kamen erst spät in meine Hände. Thätigkeit über Thätigkeit, ersehe ich daraus; und wenn ich recht verstanden habe, ist nun auch von Zeit zu Zeit der Dirigenten-Stab in die kunstfertige Hand gelangt, etwas, was ich Ihnen längst gewünscht habe — gemäss Ihrem allerwürdigsten Vorbilde, Hans von Bülow. Kurz, es fällt mir immer wieder ein, wenn ich an Sie denke „wer immer strebend sich bemüht usw.“ Und heute muss ich’s Ihnen schreiben. In Hinsicht auf dies Wort stehe ich mit Ihnen ganz gleich, und es bleibt die gute Kameradschaft des „Strebend sich Bemühens“.
Ich habe Ihnen im vorigen Jahre Kummer gemacht; hatte ich völlig Unrecht, so haben Sie diesen Kummer rasch wieder überwunden. Man wird fortwährend verkannt, selbst von den Nächsten. Nur glaube ich, darin rechtschaffen gehandelt zu haben, dass ich Ihnen sagte, wie ich empfand: — Sie hielten mich für Ihren Freund, aber es stand etwas zwischen Ihnen und mir. In solchen Dingen halte ich an dem amerikanischen Sprüchworte fest „Ehrlichkeit ist die beste Politik.“
Vielleicht nahmen Sie meine Worte zu schwer, vielleicht verstanden Sie auch einiges anders, als ich es sagte; jeder hat seine Ausdrucks- jeder seine Verständnissweise: — daher so viel Missverstehens. Jedenfalls aber habe ich mich nicht gut ausgedrückt. Jetzt scheint es mir sogar, dass ich einer gewissen trüben allgemeinen Verstimmung (der allzuhäufigen Folge meines Krankseins) allzusehr nachgegeben habe und dass ich Ihnen irgendwie Unrecht gethan haben muss.
Schonung bedürfen wir alle; Sie wissen, was Goethe sagt „und wie der Mensch nur sagen kann „hier bin ich“ dass Freunde seiner schonend sich erfreun“ — Die Sache ist nur: ich war damals nicht Ihr Freund. Aber die Kürze unserer Bekanntschaft! Briefe sind nichts, so gut sie auch geschrieben werden. Man muss seine Empfindung für einen Menschen immer von Zeit zu Zeit angesichts dieses Menschen controliren können. Sonst giebt es ein Phantasiebild: und man bringt Züge hinein aus günstigen oder ungünstigen Erzählungen Anderer. — Ich hätte grosse Freude daran zu wissen, dass meine Verstimmung, mein Misstrauen einem Phantasie-Fuchs gegolten habe — und dass der wirkliche Dr. Carl Fuchs in allen Stücken geliebt und geehrt werden müsste. Also: seien Sie mir so weit böse, als Sie mir nicht gut sein können! Und vergessen Sie!
F. N.