1877, Briefe 585–674
616. An Erwin Rohde in Jena (Entwurf)
<Ragaz, vor dem 20. Mai 1877>
Eine bedeut<ende> Verschlimmerung meiner Leiden, bei der vielleicht das Frühlings-Klima in Süditalien einige Schuld trägt, zwang mich Sorrent schnell zu verlassen; jetzt brauche ich die Kur in Ragaz, als der erste doch schon nicht mehr einzige Badegast. Meine Einsamkeit ist groß, meine Aussichten sehr trübe, die Gegenwart verhaßt, geistige Beschäftigung jeder Art untersagt, Skrupel und Sorgen allerlei auf dem Gemüth — ein andermal von dem Allem; oder warum überhaupt davon reden? Es ist nichts.
Aber nun weg von mir und hin zu Dir liebster Freund. Es ist doch dabei geblieben, daß dieses Pfingstfest, wie Du es mir früher schriebest Dein Hochzeitfest ist? Der Frühling nahm heute eine Wendung zum Überherrlichen; ich dachte Deiner lange, als ich im hellsten Grüne, in der stärkendsten Blüthenbaumluft die Vögel singen und zwitschern hörte. Mir fiel ein, daß Rée sagte, es werde selten ein so schönes Paar geben als Dich und Deine Braut, und ich glaube wohl gar, ihr werdet immer schöner. Wir Männer namentlich sind in der Gefahr, aus Verarmung der Seele uns selber unangenehm zu werden; und ich erinnere mich dessen wohl, was Du mir einmal in Basel sagtest, am meisten thäte Dir ein Wesen noth, an dem durch immer neue Beweise der Liebe, durch zahllose tägliche kleine und große Opfer des Eigenwillens Deine Seele wieder voll würde. Wäre ich gesund, so würde ich Dir dies etwas besser in Musik gesagt haben. So wie es steht, kann ich nicht einmal mehr schreiben; aber Du weißt und fühlst daß ein wahrer Freund mit ganzer Seele Dir seine Segenswünsche schickt und daß er traurig ist, fern sein zu müssen und Dich nicht umarmen zu können.