1877, Briefe 585–674
640. An Carl Fuchs in Hirschberg
<Rosenlauibad, den 29. Juli 1877>Ende Juli 77.
Lieber Herr Doktor, ich war von Rosenlaui ein paar Wochen abwesend: bei der Rückkehr fand ich mich durch Sie so reich beschenkt, daß ich zwei drei Tage laufen lassen mußte, um den Schatz ganz zu heben. Es gieng mir alles so recht zu Herzen und Sinnen, was Sie schrieben; namentlich danke ich Ihnen für die Schilderung des „Abends“ und der Vorbereitung dazu, ich glaube sogar es flossen meine Thränen dabei; was ich Ihnen nur erzähle, um zu beweisen, daß ich Ihnen nicht sehr fern stehe, mag geschehen und gesagt worden sein, was da wolle. Überhaupt: mir scheint doch dabei etwas Gutes herausgekommen zu sein, daß ich damals, in einer so unerquicklichen und harten Weise, mein Herz erleichterte: denn ich fühle es jetzt zu deutlich, daß meine Empfindung für Sie verändert ist, in’s Hoffnungsreiche, Freudige. (Ein Skeptiker würde sagen: da sieht man, was einige Gran Unrecht in der Einen Wagschale nützen können.) Das Übrige wollen wir nun einer persönlichen Begegnung überlassen, welche hoffentlich nicht mehr in weiter Ferne zu suchen ist. Komme ich nach Basel (Anfang September, denke ich), so soll auch meinerseits an Volkland ein Wort gerichtet werden. Es war zweifelhaft, ob ich wieder zurückkehren würde: denn ich habe, noch in diesem Frühjahr, ernstlich in Erwägung ziehen müssen, ob nicht meine Baseler Stellung aufzugeben sei; auch jetzt stehe ich mit Besorgniß vor dem nächsten Winter und seiner Thätigkeit: es wird ein Versuch, ein letzter sein. Von Oktober bis Mai war ich in Sorrent, zusammen mit drei Freunden und — meinen Kopfschmerzen. Ich nenne Ihnen die verehrte Freundin, welche mütterlich dort für mich sorgte: es ist die Verfasserin der anonym erschienenen „Memoiren einer Idealistin“ (bitte, lesen Sie dies ganz und gar ausgezeichnete Buch und geben Sie es Ihrer Frau Gemahlin!)
Ihre rhythmische Taktzählung ist ein bedeutender Fund reinen Goldes, Sie werden viele gute Münzen daraus schlagen können. Mir fiel ein, daß ich, beim Studium der antiken Rhythmik, 1870, auf der Jagd nach 5- und 7taktigen Perioden war und die Meistersinger und Tristan durchzählte: wobei mir einiges über W<agner>’s Rhythmik aufgieng. Er ist nämlich so abgeneigt gegen das Mathematische, streng Symmetrische (wie es im Kleinen der Gebrauch der Triole zeigt, ich meine sogar das Übermaaß im Gebrauch derselben) daß er mit Vorliebe die 4taktigen Perioden in 5taktige verzögert, die 6taktigen in 7taktige (In den Meistersingern, III. Akt, kommt ein Walzer vor: sehen Sie zu, ob da nicht die Siebenzahl regiert). Mitunter — aber es ist vielleicht crimen laesae majestatis — fällt mir die Manier Bernini’s ein, der auch die Säule nicht mehr einfach erträgt, sondern sie von unten bis oben durch Voluten wie er glaubt lebendig macht. Unter den gefährlichen Nachwirkungen W<agner>’s scheint mir „das Lebendig-machen-wollen um jeden Preis“ eine der gefährlichsten: denn blitzschnell wird’s Manier, Handgriff.
Ich habe immer gewünscht, es möchte Einer, der es kann, einmal Wagners verschiedne Methoden innerhalb seiner Kunst einfach beschreiben, historisch-schlicht sagen, wie er es hier, wie dort macht. Da erweckt nun das aufgezeichnete Schema, welches Ihr Brief enthält, alle meine Hoffnungen: gerade so einfach thatsächlich müßte es beschrieben werden. Die Andern, welche über Wagner schreiben, sagen im Grunde nicht mehr, als daß sie großes Vergnügen gehabt und dafür dankbar sein wollen; man lernt nichts. Wolzogen scheint mir nicht Musiker genug zu sein; und als Schriftsteller ist er zum Todtlachen, mit seiner Confusion artistischer und psychologischer Sprechweise. Könnte man übrigens, an Stelle des unklaren Wortes „Motiv“ nicht sagen „Symbol“? Etwas anderes ist’s ja nicht. — Wenn Sie an Ihren „musikalischen Briefen“ schreiben, so wenden Sie doch so wenig als möglich Ausdrücke aus der Schopenhauerschen Metaphysik an; ich glaube nämlich — Verzeihung! ich glaube, ich weiß es — daß sie falsch ist, und daß alle Schriften, welche mit ihr abgestempelt sind, bald einmal unverständlich werden möchten. Später darüber mehr, und auch dies nicht brieflich. — Über verschiedne meiner Bayreuther Eindrücke, aesthetische Grundprobleme berührend, möchte ich auch mit Ihnen mündlich mich verständigen, zum Theil mich von Ihnen beruhigen lassen. Ihren „Briefen“ sehe ich mit solcher hungriger Erwartung entgegen, daß ich nicht einmal mich entscheiden kann, ob ich lieber Ihre Aufschlüsse über Beethovens Stil, Takt, Dynamik u.s.w. zuerst in Händen hätte oder Ihren Lehr- und Leitfaden durch die Nibelungen-Noth (denn Noth macht alles, was nibelungenhaft ist). Am allerliebsten speiste ich beide Bissen auf einmal und wollte mich dann gerne, der Boa gleich, in die Sonne legen, um still einen Monat lang zu verdauen.
Aber nun sagen die Augen: höre auf! Können Sie die Blätter noch eine Zeit entbehren? Oder ist’s besser, daß ich sie gleich schicke? — Ich bleibe noch vier Wochen in Rosenlaui.
Mehr noch nach wie vor
Ihr
F. Nietzsche.