1877, Briefe 585–674
643. An Paul Rée in Stibbe
Rosenlaui <Anfang August 1877>Residenz für den ganzen August 1877.
Mein lieber Freund,
man schreibt mir, dass es Ihnen wieder besser geht und dass Sie aus dem dunklen Zimmer entsprungen sind: so darf ich ja wieder schreiben, ohne zu befürchten, dass ein Brief Sie zu gesundheitswidrigen Excessen der Freundschaft treibt: wie es Ihr letzter lieber Brief leider gewesen ist! —
Heute habe ich etwas für die Verbreitung Ihres Namens thun können. Unter den Engländern, welche hier mit mir wohnen, ist auch der mir sehr sympathische Professor der Philosophie an dem Londoner University Col<l>ege Robertson, der Herausgeber der besten englischen Zeitschrift über Philosophie „Mind“, a quarterly review“ (Williams and Norgate, 14 Henrietta Street, Covent Garden, London). Mitarbeiter sind alle Größen Englands Darwin (von dem ein reizend guter Aufsatz biographical Sketch of an Infant in No VI steht) Spencer Tylor usw. Sie wissen dass wir in Deutschland nichts Ähnliches an Güte haben, wie die Engländer in dieser Zeitschrift, die Franzosen in der ausgezeichneten revue philosophiqu<e> von Th. Ribot. Also: der Editor von „Mind“ bekam Ihr Buch zu lesen, ist voller Interesse und versprach heute Mittag aus freien Stücken, in seinem Blatte darauf aufmerksam zu machen. Mir fiel wieder ein, bei seinen Gesprächen über Darwin Bagehot usw, wie sehr ich Ihnen wünschte, in diesen Umgang, den einzig gut philosophischen, den es jetzt giebt, hineinzukommen. Wollen Sie nicht für diese Zeitschrift mitarbeiten? Die Übersetzung besorgt (oder lässt besorgen) der Editor. Von Wundt erscheint im nächsten Hefte ein grosser Aufsatz „die Philosophie in Deutschland“; hier in Rosenlaui wird er übersetzt. —
Heinze hat seine volle Genugthuung über Ihr Buch ausgesprochen: er bedauert ernsthaft, warum Sie nicht Leipzig zur Habilitation ausgewählt haben: er würde dieselbe lebhaft befürworten, weil er längst gewünscht habe, dass dieser Richtung (Philosophie mit Darwin) eine öffentl<iche> Anerkennung gegeben werde. (Er selber, sagte er, sei noch ein bischen radicaler als Sie, er sehe nichts als Egoismus usw).
Die letzten Nachrichten stammen aus einem Gespräche Heinze’s mit meiner Schwester.
Anfang September bin ich wieder in Basel, wo mir besagte gute Schwester bereits eine gute Wohnung besorgt hat. Alles, Universität und Pädagogium, wird wieder in Angriff genommen: ein Versuch. Denken Sie, einer meiner „Leser“, Dr. med. Eiser aus Frankfurt a/M besuchte mich drei Tage hier oben, mit seiner Frau und hat mir sehr gefallen. Er hat sich ganz als mein Arzt benommen und ich glaube Grund zu haben, ihm sehr zu vertrauen. Neue Medicamente und ziemlich hoffnungsvolle Aussichten für meine Gesundheit. (Es war derselbe, der mich zu einer öff<entlichen> Rede in Fr<ankfurt> einlud).
Mit Frl. v. M<eysenbug> habe ich mich in wahrhaft schrecklicher sinneverwirrender Weise verfehlt, ich war aus, sie zu suchen und bin förmlich mit dem Wagen um sie herumgefahren, ohne sie zu finden. Sie ist nicht in Aeschi, sondern in Faulenseebad bei Spiez, Thuner See. — Ihren Angehörigen meine ergebensten Grüsse!
Ihnen selber Gesundheit Glück und Freude! In treuer Gesinnung der
Ihrige Friedrich N.