1879, Briefe 790–922
894. An Franz Overbeck in Basel
22 October <1879> Naumburg
Lieber lieber Freund, von Dir dem Geber so vieles Guten nehme ich Wünsche anders an als von Anderen. Den ganzen Geburtstag habe ich Deiner gedacht und recht in Liebe versucht, die Summe der Wohlthaten zu ziehen, welche Du mir in dem letzten Jahre, also in media vita nach dem Kirchenglauben, erwiesen hast. Mitten im Leben war ich vom guten „Overbeck umgeben“ — vielleicht hätte sich sonst der andre Gefährte eingestellt — Mors.
Es geht erträglich und viel besser als im Sommer. Erst Ein heftiger Anfall (am Tag nach meinem Geburtstage), sonst das altgewohnte Kleingewehrfeuer meines Leidens — Tag für Tag. Seit ich das Engadin verlassen habe, ist keine Pille und kein Klysma mehr in den Leib gekommen, es war nicht mehr nöthig. Die Unfähigkeit etwas zu thun (Lesen Schreiben Denken) entspricht meinem Programme der Gedankenlosigkeit; dies ist jetzt mein Kurmittel. (In Venedig wäre es nicht möglich gewesen) Unser lieber Köselitz, voll von meinen und seinen Gedanken, würde mir eine zu starke Speise gewesen sein. —
In Leipzig sah ich letzter Tage Schmeitzner und Widemann (ich mußte die sehr angenehme Zusammenkunft Tags darauf büßen und verbrachte still einen Tag auf dem Sopha) —
Der Herbst ist sehr trübe, ja dunkel, wobei wenigstens meine Augen den Vortheil haben. — Danke für die Geldsendung, Du hast die bequemste und billigste Art, die ich mir nur denken kann, ermittelt, leider mit der Consequenz, Dir selber wieder die Mühe aufgeladen zu haben, welche ich dabei spare.
Danke ebenfalls für die Briefe, Deine eigenen voran, dann die nachgesandten (darunter war ein Spottgedicht auf mich, von einem österreichischen Dichter in Graz, es könnte selbst Hamerling sein)
Deiner lieben Frau meine herzlichsten Grüße, ebenso Deiner verehrten Frau Schwiegermutter in Zürich. — Mit Schmeitzner habe ich wegen der St. Beuve-Übersetzung ein paar Worte fallen lassen, die mit sehr großer Freude aufgenommen wurden. Ingleichen wegen der Wackernagelschen Buddhismus-Vorträge.
Schm<eitzner> verlegt etwas von Dühring, ist aber in vollem Entsetzen über den unangenehmen Charakter desselben. Dann giebt er Lasalle’s Briefe aus der allerletzten Zeit heraus — ich hoffe, dies ist einmal ein Verlagsartikel, wie wir ihm einen solchen gewünscht haben.
Freund Romundt’s Brief lege ich bei, ich verstehe ihn nicht ganz. Die Vermahnung zum Glauben verstehe ich sogar gar nicht — Glaube an was? frage ich <den> Tropf. Aber vielleicht meint er den Glauben an den Glauben. — Ein Butterbrod ist mir mehr werth als ein solch blasses Ding.
Von Herzen der Deine
F Nietzsche
Nicht zu vergessen die schon ein paarmal vergessenen dankbaren Grüße meiner Mutter!
Wann lebte der Bischof Ulfilas? Drittes Jahrhundert gegen Mitte?