1883, Briefe 367–478
459. An Elisabeth Nietzsche in Naumburg
<Sils-Maria> Mittwoch <29. August 1883>
Meine liebe Schwester
es ist heute, wie schon seit drei Tagen ein vollkommen reines Wetter — und ich überschaue mit Heiterkeit und Sicherheit, was ich bisher erreicht und nicht erreicht habe und was ich von mir noch will. Du weißt es nicht; und deshalb darf ich es Dir nicht verübeln, wenn Du mich gerne auf einem anderen Boden und gesicherter, geschützter sehest. Dein Brief an G<eorg> R<ée> gab mir zu denken, und noch mehr Deine gelegentliche Bemerkung, mein Zustand in Basel sei doch wohl der beste bisher gewesen. Ich hingegen urtheile so: der ganze Sinn der furchtbaren physischen Schmerzen, denen ich ausgesetzt war, liegt darin, daß ich durch sie allein aus einer falschen, nämlich hundertmal zu niedrigen Auffassung meiner Lebens-Aufgabe herausgerissen worden bin. Und da ich zu den bescheidenen Menschen von Natur gehöre, so bedarf es der gewaltsamsten Mittel, um mich zu mir selber zurückzurufen. Auch die Lehrmeister, die meine Jugend gehabt hat, sind wahrscheinlich, im Verhältniß zu dem, was ich zu thun habe, nur geringere und vorübergehende Kräfte; daß ich über ihnen ihr Ideal geschaut habe, über all diesen Schopenhauer’s und Wagner’s — das hat mir sie ganz entbehrlich gemacht, und ich könnte mich jetzt gar nicht unbilliger beurtheilen, als wenn ich mich nach diesen von mir in jedem Sinne überwundenen Zeitgenossen beurtheilte. Jedes Wort meines Zarathustra ist ja siegreicher Hohn und mehr als Hohn über die Ideale dieser Zeit; und fast hinter jedem Wort steht ein persönliches Erlebniß, eine Selbst-Überwindung ersten Ranges. Es ist ganz nothwendig, daß ich mißverstanden werde; mehr noch, ich muß es dahin bringen, schlimm verstanden und verachtet zu werden. Daß meine „Nächsten“ [Verwandten] damit anfangen mußten, begriff ich vorigen Sommer und Herbst, und hatte das herrliche Bewußtsein, eben damit auf meiner Bahn zu sein. Dies Gefühl steht auch im Z<arathustra> überall zu lesen. Der schlimme Winter und meine unterliegende Gesundheit haben mich davon entfernt und muthlos gemacht; und ebenso haben die kleinlichen Dinge, welche seit einigen Wochen über mich herstürzen, mir wieder die größte Gefahr gebracht — nämlich meinen Weg zu verlassen. Sobald ich jetzt sagen muß: „ich halte die Einsamkeit nicht mehr aus“, so empfinde ich eine unsägliche Erniedrigung vor mir selber — ich bin dem Höchsten, das in mir ist, abtrünnig geworden.
Was liegt an diesen Rées und Lou’s! Wie kann ich ihr Feind sein! Und wenn sie mir Schaden gethan haben — ich habe genug Nutzen von ihnen gehabt und gerade darin, daß es so ganz verschiedene Arten Menschen sind als ich bin: darin liegt für mich eine reichliche Compensation, ja eine Aufforderung zur Dankbarkeit gegen die Beiden. Es sind beides originale Menschen, und keine Kopien: deshalb hielt ich es mit ihnen aus, so sehr sie mir wider den Geschmack giengen. In Betreff der „Freundschaft“ habe ich bis jetzt überhaupt Entbehrung geübt (und Schmeitzner z.B. behauptet, ich hätte gar keine Freunde, „ich sei zehn Jahre lang vollkommen in Stich gelassen worden“); Was die ganze Richtung meiner Natur betrifft: so habe ich keinen Genossen (auch Köselitz nicht!) niemand hat eine Ahnung davon, wann mir Trost, eine Ermuthigung, ein Händedruck Noth thut; dies war z. B. im höchsten Grade voriges Jahr der Fall, nach meinem Aufenthalte in Tautenburg. Und wenn ich klage, dann glaubt alle Welt ein Recht zu haben, ihr Bißchen Machtgefühl an mir als einem Leidenden auszulassen; man nennt’s Zuspruch, Mitleiden, guten Rath usw.
Aber so gieng es immer solchen Menschen, wie ich bin; mein ganz persönlicher Übelstand ist die schlimme Gesundheit, welche als Erniedrigung meines eignen Kraftgefühls, als Mißtrauen gegen mich selber sich geltend macht: und da ich unter diesem europäischen Himmel mindestens zwei Drittel des Jahres leidend und schwermüthig bin, so gehört ein unglaubliches Glück dazu, daß ich’s noch länger aushalte. Glück nenne ich hier nur das Ausbleiben solcher Unglücksfälle, wie der letztjährigen — also daß keine Steine in mein Uhrwerk gerathen. Ich kann nämlich an kleinen Steinchen zu Grunde gehen, weil das Uhrwerk jetzt im höchsten Grade complizirt ist, und die Verantwortlichkeit in den allerhöchsten Fragen der Erkenntniß auf mir lastet. — In summa um doch eine praktische Consequenz aus diesen Allgemeinheiten zu ziehn: meine liebe liebe Schwester, erinnere mich mit keinem Wort, weder mündlich noch schriftlich, an die Dinge, welche mich um mein Selbst-Vertrauen, ja fast um das Resultat meines Lebensweges bringen wollten! Rechne es auf meine Gesundheit, daß sie so sehr auf mich wirken und gewirkt haben! Schaffe Vergessen und irgend etwas Neues und ganz Verschiedenes davon, daß ich über den Verlust solcher „Freunde“ lachen lerne! Und denke daran, daß einem Menschen wie ich bin, niemals die Gegenwart gerecht werden darf, und daß jeder Compromiß zu Ehren des „guten Rufs“ meiner nicht würdig ist.
Geschrieben bei reinem Himmel, mit hellem Kopfe, gutem Magen und in früher Morgenstunde.
Von Herzen Dein Bruder.
Die Correktur wird mich noch ein paar Wochen hier festbinden.