1883, Briefe 367–478
472. An Malwida von Meysenbug in Rom
<Genua, Anfang November 1883>
Meine hochverehrte Freundin,
es ist mir inzwischen schlecht, recht schlecht gegangen, und meine Reise nach Deutschland war schuld daran. Ich vertrage es nur noch, am Meere zu leben; alle binnenländische Luft depotenzirt bei mich Nerven und Augen auf die entschiedenste Weise und bringt in kurzer Zeit Schwermuth und Mißtrauen in mir zum Vorschein — häßliches Unkraut, mit dem ich schon mehr im Leben gekämpft habe als mit Schlangen und anderen berühmtern Unthieren. Im kleinen Elend steckt unser gefährlichster Feind; das große Leid vergrößert.
Aber nun bin ich wieder einsam — und die Wahrheit zu sagen, ich war noch nie so einsam. Alle Erlebnisse der letzten Jahre haben mich immer dies Eine gelehrt: es giebt Niemanden, der Willens ist mit mir meinen Weg zu gehn — es sieht noch Niemand diesen Weg — —
Dies ist ein großes Leid, und wahrhaftig, ich fühle es bereits: es hat die Kraft, zu vergrößern. —
Denken Sie, daß ich sofort nach Spezia gereist bin, als ich hörte, Sie seien dort. Aber es war zu spät.
Noch habe ich mich nicht für den vorzüglichen Aufsatz des Frl. Jacobson über Stecchetti bedankt: bin jetzt über diesen Dichter völlig aufgeklärt und will nichts mit ihm zu thun haben. Diese Italiäner sind so abhängig und halten ihre Ohren so nach Frankreich und Deutschland hin! — wie in ihrer Politik. Nur in der bösartigen Satire sind sie original und wahrhaft zu bewundern: aber was ist mir sonst dieser „Mussetisme“, wenn mir selbst Musset nicht gar zu viel bedeuten will? —
Nun habe ich noch eine Bitte auf dem Herzen. Es sind Briefe an mich nach Rom abgegangen, zum Beispiel von Jacob Burkhardt, Gottfried Keller und Anderen, — diese Briefe möchte ich nicht einbüßen. Durch ein Versehen tragen alle diese Briefe an mich folgende Adresse: via Polveriera 4, secondo piano. Wollen Sie gütigst einmal in dem angegebenen Hause darnach fragen lassen? Oder, eventuell, auf der Post? —
Ihre letzten Nachrichten klangen betrübend, und inzwischen erfuhr ich auch noch, was für Sorgen Sie in der nächsten Nähe
gehabt haben. Meine herzlichsten Wünsche sind immer um Sie und nicht weniger meine allerergebenste Dankbarkeit: aber ich möchte viel lieber einmal etwas für Sie thun, und nicht bloß für Sie fühlen!
Ihr Nietzsche.
Genova, Salita delle Battestine 8 (interno 5)