1883, Briefe 367–478
419. An Franz Overbeck in Basel
<Rom, 20. Mai 1883>
Mein lieber Freund,
in Hinsicht auf Genesung und Herstellung geist-leiblicher Sicherheit war Rom ein guter Gedanke und hat sich bisher bewährt: ich fand überall und nicht nur bei meiner Schwester das entgegenkommendste Vertrauen — etwas, das ich sehr nöthig hatte, sei es auch nur als Symbol und Vorzeichen für etwas, das ich einmal sehr nöthig haben werde. Die Gesundheit zwar, im wörtlichsten Sinne, ist bisher durch Rom nicht gefördert, und die Großstadt ist sogar meinen Bedürfnissen entgegengesetzt. Für alles das, was Rom anbietet, bin ich zu wenig vorbereitet, oder vielmehr: ich bin zu sehr schon mit Vorbereitungen zu andern Dingen überladen, als daß ich noch genug freien Willen hätte, mich auf so viel Fremdes und Neues einzulassen. Der antike Kopf Epikurs, sowie der des Brutus, gab mir zu denken, ebenso drei Landschaften des Claude Lorrain. Im Grunde fand ich aber noch Nichts, woran ich einen Geist erkannt hätte der zu mir als zu einem Bruder und Freunde redete — und gestern sah ich gar Menschen die heilige Treppe hinauf knien!
Hoffentlich ist inzwischen mein Zarathustra in Deine Hände gelangt; ich selber weiß gar nichts mehr von ihm, seit die Correctur vorbei ist. Mag er seinen Weg allein gehen! —
Was die Verwendung der nächsten Jahre betrifft, so bin ich darüber nicht mehr im Ungewissen. Eine äußere Bedingung ist dazu die oft schon brieflich angedeutete „Weltflucht“: so viel ist klar und wer mir wohl will, wird es sich auch klar machen können. Es kostet mich dieser Entschluß viel mehr Mühe als Du glauben wirst; und die Erwählung des richtigen Ortes bringt mich fast zur Verzweiflung.
Ich meine, daß meine Schwester über die eigentlichen Motive dieser nächsten Schritte gut genug unterrichtet ist und bitte ihr hierüber, wenn sie davon sprechen sollte, Glauben zu schenken. Die Erlebnisse des vorigen Jahres sind ihr zu Gute gekommen — und insofern auch mir. Malvida Meysenbug ist lauter mütterliche Güte gegen mich; sie wünscht mir, was ich mir selber am meisten wünsche und versteht auch Wege und Griffe dazu. (Beiläufig: sie möchte gern, daß ich und Lenbach (der Maler) uns näher befreundeten)
Meine Adresse ist Roma, Piazza Barberini 56 ultimo piano: ich bleibe hier wohl noch bis in den Juni hinein.
Dir und den Deinigen — denn ich nehme an, daß die verehrte Frau Rothpletz bei Dir ist — meine und meiner Schwester allerbeste Grüße.
In Dankbarkeit Dein Freund
F.N.