1883, Briefe 367–478
458. An Franz Overbeck in Steinach am Brenner
<Sils-Maria, 26. August 1883>
Lieber Freund
die Trennung von Dir warf mich in die tiefste Melancholie zurück, und die ganze Rückreise wurde ich böse schwarze Empfindungen nicht los; darunter war ein wahrer Haß auf meine Schwester, die mich nun ein Jahr lang mit Schweigen zur Unrechten Zeit und mit Reden zur unrechten Zeit um den Erfolg meiner besten Selbst-Überwindungen gebracht hat: so daß ich schließlich das Opfer eines schonungslosen Rachegefühls bin, während gerade meine innerste Denkweise allem Sich-Rächen und Strafen abgesagt hat: — dieser Conflict in mir nähert mich Schritt für Schritt dem Irrsinn, das empfinde ich auf das Furchtbarste — und ich wüßte nicht, inwiefern eine Reise nach Naumburg diese Gefahr verringern könnte. Umgekehrt: es könnte zu schauderhaften Augenblicken kommen — und auch jener lange genährte Haß könnte in Wort und That zum Vorschein kommen: wobei ich bei weitem am meisten das Opfer sein würde. Auch Briefe an meine Schwester zu schreiben ist jetzt nicht mehr rathsam — außer solchen von der harmlosesten Form (ich schickte ihr zuletzt noch einen Brief voller lustiger Verschen) Vielleicht war meine Versöhnung mit ihr in dieser ganzen Geschichte der verhängnißvollste Schritt — ich sehe jetzt ein, daß sie dadurch geglaubt hat, ein Recht zu ihrer Rache an Frl. S<alomé> zu bekommen. — Pardon! Nach unserer Übereinstimmung über das Bedenkliche an dem Leipziger Plan that es mir wahrhaft wohl, einen Brief Heinze’s vorzufinden, mit dem diese ganze Angelegenheit — ein Schritt der Verzweißung meinerseits — zu Ende gebracht ist. Ich lege Dir den Brief bei, insgleichen die erste öffentliche Äußerung über Zarathustra I; sonderbarer Weise ist letztere in einem Gefängnisse niedergeschrieben. Was mir Vergnügen macht, das ist zu sehen, daß gleich dieser erste Leser ein Gefühl davon hat, worum es sich hier handelt: um den längst verheißenen „Antichrist“. Seit Voltaire gab es kein solches Attentat* gegen das Christenthum — und, die Wahrheit zu sagen, auch Voltaire hatte keine Ahnung davon, daß man es so angreifen könne. — Was Zarathustra II betrifft, so schreibt Köselitz: „Z<arathustra> wirkt ungeheuer stark; es wäre aber verwegen, schon darüber mich äußern zu wollen: er hat mich umgeworfen, ich liege noch am Boden.“ — Du verstehst! Inzwischen, während ich mit Dir zusammen war, hat mir mein alter Schulfreund Krug seinen Besuch machen wollen (der „Direktor des königl. Eisenbahn-Betriebs-Amts in Cöln“ ist, wie auf seiner Karte steht)
Köselitzens Brief enthält Worte über Epicur (wie früher einmal über Seneca) welchen ich Nichts an die Seite zu setzen wüßte, an tiefster Sach- und Menschenkenntniß dieser Philosophie: er deutet an, daß er „Leibphilologen“ habe, die er in die Bibliothek treibe, die Kirchenväter und andre Scribenten auf Epicur hin anzusehn. Welche Wohlthat war es, Dich und Dein herzliches Vertrauen einmal so in der Nähe zu haben! Und wie gut verstehen und verstanden wir uns! Möge Deine besser gesicherte Vernunft meinem ins Schwanken gerathenen Kopfe eine Stütze sein und bleiben!
Von Herzen Dein Freund Nietzsche.