1883, Briefe 367–478
473. An Franz Overbeck in Basel
<Genua, 9. November 1883>
Mein lieber alter Freund, möge Dir ein gutes Jahr beschieden sein! Oder vielmehr: ich glaube, Du wirst es haben, so wie Du es verdienst: denn zuletzt erlebt man immer nur seine Erlebnisse, oder noch genauer: sich selber. Jedes Mal, daß ich mit Dir zusammenkam, hatte ich meine innerste Freude an Deiner Ruhe und milden Festigkeit; und ich bin nachgerade dahin gekommen, nichts höher zu schätzen als einen langen Willen, für den zehn Jahre nicht viel bedeuten, und wenn es selber zehn Jahre des Schweigens sein sollten. Ich habe Dir seit Deinem letzten Geburtstage, an dem wir in Basel zusammen waren, viel Unruhe gemacht und vielleicht auch manchen Zweifel: trotzdem glaube ich, Du weißt jetzt besser als vor 12 Monaten, daß ich einen Steuermann in mir trage, auf den Verlaß ist, daß er mancherlei Thorheiten des Kapitäns zuletzt wieder gut macht und ausgleicht — eben auch einen langen und bisher noch sehr schweigsamen Willen. —
Meine Schwester hat den Auftrag, Dir zum 16 Nov. den zweiten Theil Zarathustra’s einzuhändigen — lies ihn als einen zweiten Theil von vieren dh. verstehe, daß Mancherlei darin erst im Sinne des Ganzen seine Nothwendigkeit bekommen wird. Im Übrigen wirst Du wissen, wie unsäglich fern ich mit diesem Z<arathustra> von allem eigentlich Litterarischen bin. Es handelt sich um eine ungeheure Synthesis, von der ich glaube, daß sie noch in keines Menschen Kopf und Seele gewesen ist. Bringe ich sie so an’s Licht, wie ich sie auf Augenblicke vor mir gesehn habe, so will ich ein Fest feiern und sterben. —
Es geht, wie ich leider melden muß, betrüblich genug. Anfälle über Anfälle, jeder Tag eine Krankengeschichte und manche Stunde, wo ich mir sage: „ich weiß mir nicht mehr zu helfen“. Jetzt erst merke ich ganz, wie arm und abgeschnitten von äußeren Begünstigungen mein Leben nun eine ganze Reihe von Jahren hingerollt ist — jetzt wo die stille Hoffnung mich verlassen hat, daß diese Erleichterungen und Begünstigungen zu mir kommen müßten. Ich bin fortwährend noch wüthend darüber, sobald mir einfällt, daß mir ein Mensch fehlt, mit dem ich über die Zukunft der Menschen nachdenken kann — wirklich, ich bin durch die lange Entbehrung von zu mir gehöriger Gesellschaft inwendig ganz krank und wund. Nichts kommt mir zu Hülfe, Niemand denkt sich etwas aus, das mich erheitern und erheben könnte, es will sich nichts dazwischen stellen und mich von all den beschimpfenden Eindrücken erlösen, mit denen mich die letzten Jahre überhäuft haben. Ich bin an den Augen viel gehinderter als sonst, es giebt so viel Zeit, wo mir die Einsamkeit zur Last wird. Dazu will es mit Genua durchaus nicht mehr gehen, es lärmt zu sehr und hat seine Spaziergänge in gar zu großen Entfernungen. Ich merke, man kann nichts zum zweiten Male thun. Um zu genesen, brauche ich neue erstmalige Eindrücke. Von Menschen hier habe ich gar nichts; Breiting sehe ich etwa alle 8 Tage auf 5 Minuten, er ist mit Zeit und Kopf vollkommen in Anspruch genommen. Im Grunde thäte mir nichts so noth als Menschen (also z. B. Rom): aber die andre Thatsache ist, daß ich es nur am Meere noch aushalte. — — — —
Denkt freundlich an mich, Du mit Deiner lieben Frau (was macht ihr Übersetzungs-Project?) zumal wenn Ihr gute Musik zusammen spielt!
Von Herzen Dein Freund
Nietzsche.