1883, Briefe 367–478
394. An Heinrich Köselitz in Venedig
<Genua, 24. März 1883>
Mein lieber Freund, Sie haben mich sehr erbaut mit Ihrem Briefe! Nichts höre ich von Ihnen lieber als Ihre Versprechungen, es sei denn Ihre Erfüllungen, ich meine Ihre Musik. Ich habe gar nicht daran gedacht, daß Sie etwas von B<ungert> zu lernen hätten; und wenn ich von Ihnen im Gespräche ein Wort sagte (natürlich mit jedem Grad von Vorsicht), so nannte ich Sie immer den „Freund meiner Hoffnung“. — In Bezug auf die jetzige und bevorstehende deutsche Cultur — also abgesehn von uns „Zukunfts-Musikern“ — giebt mir B<ungert> Manches zu denken. Sehen Sie, da ist jetzt, abseits von dem Wagnerianismus, in Deutschland eine Musik-Empfindung obenauf, die sich eben, in Gestalt B<ungert>s, der Bühne bemächtigen will; die Vertreter derselben betrachten sich als erwachsen aus Beethoven und Schumann und haben darin Recht. (il motivo ist auch beim „letzten Beethoven“ abhanden gekommen, sein Mangel charakterisirt allen deutschen „Idealismus“, zB. auch die Idealistinnen wie M<alwida> von Meysenbug) Jene Vertreter fühlen sich als die Erben der deutschen Lyrik (Goethe — Heine — Daumer), ihr typisches Verhältniß ist in Bettina von Arnim ausgedrückt (— die sollten sie als ihre Heilige verehren!) — es ist das Verhältniß Goethe : Beethoven, oder vielmehr etwas Drittes, worin diese Beiden in ein Verhältniß kommen. Nun ist mir äußerst interessant, daß dieser lyrisch-romantische Geist, der in Deutschland jetzt der Fürsprecher der Sinnlichkeit ist, die Griechen hinzunimmt und zum ersten Male Homer zum Tönen bringen will. Dieses allgemeine Erlebniß der deutschen Cultur hat in Goethe’s Erlebnissen seine Vorgeschichte. Geht es gut, so kommt so etwas heraus dabei, wie „Hermann und Dorothea“ in Musik: auf mehr warte und hoffe ich nicht dabei. (Ganz persönlich genommen, ist mir diese deutsche Zukunft ziemlich gleichgültig, wie „Hermann und Dorothea“) An „Melodie“ wird es fehlen, hier wie dort, ich meine bei den Wagnerianern. Aber man wird das Gegentheil glauben. —
Ich dachte darüber nach, was eigentlich das ist, was Sie il motivo nennen. Ich dachte beinahe, es sei Musik, die man nicht macht, sondern die man nimmt: Volks-Musik. Man hat jetzt nachgewiesen, daß die beliebtesten Arien Bellini’s (auch Paesiello’s) ihr Motiv aus Liedern haben, die man um Catania herum singt. (Homer nahm die Motive zusammen, über die ein paar Jahrhunderte alle Rhapsoden gesungen hatten.) „II motivo“ scheint mir, auf musikalischem Gebiete das zu sein, was man „Sprichwort“ nennt. Was meinen Sie? — Dabei fällt mir mein „Zarathustra“ ein. —
Man trinkt in Genua Bier.
Was Spanien betrifft, so ist Ihr Argument auch ein Argument gegen Genua. — Lieber Freund, die Wahl Barcelona’s ist das letzte Ergebniß meiner klimatologischen Studien und beinahe die Entscheidung eines Verzweifelnden. Ich überlebe einen solchen Winter, wie diesen nicht wieder, sondern würde mir, wenn wieder mir auf so lange der Himmel verhüllt bliebe, unfehlbar das Leben nehmen. Sie kennen mich glücklicherweise hierin nicht; es ist nicht leicht möglich, mehr zu leiden als ich diesen Winter gelitten habe. Und „es hieng am Wetter!“ — — sagt mein Mephistopheles.
Von ganzem Herzen
Ihr F N.
Zuletzt wollen wir B<ungert> nicht Unrecht thun: das Heft Lieder gehört in seine Vor-Genueser Zeit — er hat Hunderte von Liedern gemacht, und auch jetzt noch 100 ungedruckt „auf Lager“.