1883, Briefe 367–478
389. An Paul Deussen in Oberdreis
<Genua, 16. März 1883>
Das ist schön, lieber alter Freund! So soll man’s machen: alle seine sieben Kräfte einzeln entfalten und zuletzt zusammen nehmen und mit sieben Pferden nach Einem Ziele fahren. Da mußte Viel in einem Menschen zusammenkommen, um eine solche Vedanta-Lehre uns Europäern offenbaren zu können; und ich preise nicht am wenigsten, alter Freund, daß Du nicht verlernt hast, tüchtig zu arbeiten. Hieß nicht eine der drei Musen Μελέτη? Der Himmel weiß es: ohne rechtschaffenen Fleiß wächst nur Unkraut aus der schönsten Anlage. In der Nähe gesehn soll auch der beste Künstler sich nicht vom Handwerker unterscheiden. Ich hasse das Lumpengesindel, das kein Handwerk haben will und den Geist nur als eine Feinschmeckerei gelten läßt.
Es macht mir großes Vergnügen, einmal den klassischen Ausdruck der mir fremdesten Denkweise kennen zu lernen: dies leistet mir Dein Buch. Es kommt darin Alles auf’s Naivste an’s Licht, was ich in Hinsicht auf diese Denkweise geargwöhnt habe: ich lese Seite für Seite mit vollkommner „Bosheit“ — Du kannst Dir keinen dankbareren Leser wünschen, lieber Freund!
Der Zufall will, daß man gerade jetzt ein Manifest von mir druckt, welches ungefähr mit derselben Beredsamkeit Ja! sagt, wo Dein Buch Nein! sagt. Das ist zum Lachen; aber vielleicht thut Dir’s wehe, und ich bin mit mir noch nicht einig, ob ich es Dir schicken werde. Um Dein Buch machen zu können, durftest Du nicht so über alle Dinge denken wie ich; und Dein Buch mußte gemacht werden. Folglich — — — — — — — —
Von Herzen dankbar
Friedrich Nietzsche.