1883, Briefe 367–478
415. An Heinrich Köselitz in Venedig
<Rom, 10. Mai 1883>
Mein lieber Freund, es thut mir wohl zu denken, daß Ihr Herr Vater um Sie ist und das Geheimniß der Venediger Existenz seines Sohnes einmal mit Augen sieht. Es kommt eigentlich in allen Dingen auf dies „mit Augen sehen“ an; auch ich bin sehr zufrieden, zur Correctur meiner Urtheile und der Urtheile über mich, nach Rom gegangen zu sein und „mit Augen gesehn“ worden zu sein. Der vergangne Herbst und Winter ist mir hier recht ferne und fremd geworden; mancherlei darin war vielleicht nur eine furchtbare — Hallucination. —
Im Übrigen mögen zur Erklärung meines damals ganz ungewöhnlichen „Unlustgefühls“ jene elektrischen „Stürme“ ausreichen, welche in den Herbstund Wintermonaten alle Beobachter der elektrischen Strömungen in Erstaunen gesetzt haben: zeitlich fallen sie mit dem Sichtbarwerden großer Sonnenflecken zusammen.
Rom ist kein Ort für mich — so viel steht fest. Ich nehme diesen Monat hin als eine menschliche Erquickung und ein Ausruhen. Niemals noch habe ich so gut gewohnt; zum ersten Male war es, daß es als eine Ehre bezeichnet und empfunden wurde, mich im Hause zu haben: und natürlich war es eine Schweizer Familie, welche mich dermaßen auszeichnete.
Wenn ich sagen wollte, was mir fehlt, so würde ich sagen: Ihre Musik. Es giebt für mich keine köstlichere Art der menschlichen Erquickung und des Ausruhens.
Für den Sommer habe ich ein Projekt: ein gut eingerichtetes Schloß im Walde, von Benediktinern zu ihrer Erholung eingerichtet, mit zusammengeladenen befreundeten Menschen zu füllen. Ich will jetzt mir auch neue Freunde suchen.
In der Hauptsache aber halte ich fest, daß eine tiefe und strenge Einsamkeit, eine tiefere und strengere als je, auf mich wartet.
Wo ich bin, lieber Freund, da wächst auch die Liebe zu Ihnen, und ich will gerne der Herold Ihrer Musik heißen. Bleiben wir doch ja in allen guten Hoffnungen einander treu und gewogen!
Von Herzen Ihr Freund Nietzsche.
Adr.: Roma, Piazza Barberini 56, ultimo piano